- Beitritt
- 19.03.2003
- Beiträge
- 1.883
- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 26
Der Winter und ein toter Hund, der dann doch nicht starb
Strahlend weiß klirrte der Januarfrost, als sie die Tür des Krankenhausgebäudes hinter sich schloss. Sie trippelte auf dem vereisten Fußweg zu ihrem Auto, darauf bedacht, nicht auszurutschen. Kaum saß sie hinter dem Steuer, beschlugen die Scheiben und nahmen ihr die Sicht. Trotzdem fuhr sie langsam an, Blinker links, die Lüftung auf stärkste Stufe gestellt, fädelte sie sich vorsichtig über die verharschte Schneedecke in die gespurten Eisrillen ein. Wie auf Schienen glitt der Wagen dahin. Mirella gähnte. Ein Blick in den Rückspiegel. Die Heckscheibe heizte sich langsam auf, aber die Frontscheibe blieb milchig, bis auf ein klares Loch knapp über der Höhe des Lenkrades, etwa so groß wie ein menschlicher Kopf.
Ein gebückter Schatten flog Mirella seitlich entgegen und ein lauter Schlag folgte. Mirella erschrak. Blickte in den Rückspiegel und fixierte den grauen Fleck am Straßenrand. Hatte sie einen Hund angefahren? Doch dann hätte der Stoß dumpfer sein müssen, beruhigte sie sich. Es hatte viel heller geklungen. Wahrscheinlich hatte sie nur ein herabfallender Eisklotz getroffen. Gott sei Dank war ihr nicht mehr passiert. Es hätte sie schlimmer, zum Beispiel die Scheibe durchgeschlagend, treffen können. Ihr klopfte das Herz in die Schläfen.
Erstarrte Zweige glitzerten im Sonnenlicht, doch Mirella hatte keinen Blick für die weiße Pracht. Die Helligkeit des Tages schmerzte nach der langen Nachtschicht. Ausschlafen, ein warmes Bad und zwei Kerzen anzünden. Vielleicht noch den Pikkolo aus dem Kühlschrank und eine Pizza. Morgen wieder Frühschicht. Sie parkte in der Tiefgarage des Hauses, in dem sie wohnte und nahm den Aufzug in die dritte Etage. Sie begegnete niemanden.
Sie mochte ihr Appartement. Seit vier Jahren lebte sie darin. Alleine, weil kein Mann so richtig zu passen schien. Sie zog die schweren Vorhänge im Schlafzimmer zu, sperrte die Sonne und den Tag aus und ließ sich auf ihr Bett fallen. Ein französisches - dass es breit genug für zwei war, sollte es einmal so sein, hatte sie zu dessen Kauf bewogen. Ihre Schuhe zog sie noch aus, bevor sie in einen unschuldigen Schlaf fiel.
Stunden später erwachte Mirella. Irgendwas hatte sie geweckt. Mit schweren Lidern stellte sie fest, dass sie in ihrer Schwesternkluft eingeschlafen war. Sie schüttelte den Kopf, sodass die Haare und die Müdigkeit flogen und sprang aus dem Bett. Auf dem Weg ins Badezimmer zog sie sich aus, hörte im Hausflur eine Tür knallen, blieb stehen, horchte. Aufgeregte Stimmen. Überlegte, ob das junge Paar von nebenan sich gestritten hatte. Malte sich aus, nachher würde es sich versöhnen, und sie würde beider Lust durch die Wand anhören müssen und würde diese wie ein Kriechtier in ihrem Schoß spüren. Sie wollte zwar nicht lauschen, doch der Gedanke erregte und beschämte sie, als sie im Bad nackt vor dem Spiegel stand und sich betrachtete. Ihre Brüste prall, die Warzen aufgerichtet, wollten liebkost und berührt werden, der Mund, tiefrote Lippen, wollten salzige Haut schmecken. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass ihr Körper ebenso fordernd wie vergänglich war.
Ganz in diesen Gedanken versunken, ließ sie das Badewasser einlaufen, zündete zwei Kerzen an, ging in die Küche, köpfte den Pikkolo, goss das Getränk in eine Sektschale, nippte daran.
Warum, dachte sie, fühlte sie diese Zerrissenheit, das Leben war doch schön eingerichtet, wie in diesen vier Wänden. Weit fort. Von Mutter und Vater.
Als die Eltern bei einem Unfall starben, fühlte sie nichts als Erleichterung. Warum also, dachte sie gerade in diesem Moment, als sie in das warme Wasser tauchte, an die toten Eltern. Ärgerte sich, dass diese ihr noch im Tod zuschauten wie sie badete. Sie zwang sich, in den Kerzenschein zu blicken, beschwor andere Erinnerungen hervor.
Erinnerungen, die niemals stattgefunden hatten, und doch so fest in ihrem Gedächtnis verankert waren, weil sie diese stets erträumen musste, um entfliehen zu können.
Als der fremde Mann vor ihr stand, war sie nicht verwundert. Verletzlich und lieb sah er aus. Dunkle Augenringe im blassen Gesicht. Mundwinkel nach unten verzogen, die Unterlippe vorgeschoben, eine steile Falte in die Stirn gemeißelt. Warum das Blut? Auf seinem Hemd war Blut. Viel Blut. Es tropfte auf den Badewannenrand, lief weiter herab und vermischte sich mit dem Badewasser.
Mirella hörte wie aus weiter Ferne eine Haustür abermals zuschlagen. Dann weinte sie, einfach so. Befahl sich, die Tränen zu trocknen und den Champagner zu trinken. Sie prostete sich zu, leerte mit geschlossenen Augen das Glas in einem Zug und zerschlug es am Badewannenrand. Das Glas zersplitterte und einige Scherben fielen in die Wanne, andere auf die Bodenfliesen. Plötzlich erschien ihr der Tod als ein geliebter Vertrauter, der sie vorsichtig mit seinen Händen berührte. Seine Fingerspitzen waren es, die das Wasser nach Glasscherben absuchten. Berührten zärtlich. Wonne und zugleich Schmerz, als eine Scherbe tief in ihre Haut schnitt. Sie glaubte, sich nun aufzulösen, döste, fröstelte, schlug die Augen auf. Das Wasser war inzwischen kalt geworden.
Mirella stieg aus der Wanne, trocknete sich sorgfältig ab, auch zwischen den Zehen rubbelte sie ihre Haut trocken. Dann zog sie den Stöpsel aus der Wanne, sah zu, wie das Wasser durch den Abfluss strudelte, folgte ihm gedanklich in die verborgenen Leitungen des Hauses, in die Kanalisation. Ihr wurde schwindlig, als sich ihr Badewasser mit Anderem vermischte. Tropfen um Tropfen berührten sich, vermengten, trieben dahin, bis ins Meer, in alle Ewigkeit dazu verdammt, sich wieder trennen zu müssen. Loslassen. Aufsteigen. Fallenlassen. Nur das eine Ziel vor Augen. Aneinander berühren. Vermengen. Verschmelzen
Einen tiefen Atemzug lang wünschte Mirella, sie könnte die Zeit anhalten. Dann blies sie die Kerzen aus.
Am nächsten Morgen trippelte sie wieder freundlich lächelnd zu ihrem Auto. Die Fahrbahn war frei und so konnte sie schneller fahren als am Tag zuvor. Sie freute sich, dass alles so reibungslos verlief. Kein Stau sie aufhielt, eine grüne Welle sie wie schwerelos davon trug.
Flink parkte sie ihr Auto ein. Als sie um ihren Wagen herumging, bemerkte sie eingetrocknetes Blut und eine große Delle an dem rechten Kotflügel. Dachte augenblicklich an den Eisklotz und den Hund auf der Straße. Biss sich kurz auf die Lippen, grübelte über die Höhe des Schadens. Nervös griff sie sich an den Hals. Klopfen. Hämmern. Klopfen. Pochen. Ihr Puls ging immer schneller. Sprang. Schnürte. Sprang. Sie würgte das Bild des sterbenden Tiers hinunter. Zwang es in die Verbannung. Dorthin, wo auch ihre Eltern hausten.
Auf Station begrüßte sie die Patienten, die Kollegen und die Ärzte. Alles war wie immer. Die Haut auf ihrer Stirn glänzte doch nur, weil es zu warm im Krankenhaus war.
Ein toter Hund hatte keine Wünsche, die kranken Menschen aber um so mehr. Alte und junge Hände griffen nach ihr, zogen sie zu sich, dünne und dicke Lippen formten Worte, die sie mit ihrem Lächeln erstickte.
Ein Neuzugang lag schwer verletzt in Zimmer 103. Mirella sollte seine Temperatur messen und den Tropf umhängen. Erschöpft und von Schmerz gezeichnet war der junge Mann, das sah sie an den dunklen Augenringen im blassen Gesicht. Die Mundwinkel waren nach unten verzogen, die Nase und Unterlippe geschwollen und eine steile Falte war in die Stirn gemeißelt. Ein Auto hatte ihn tags zuvor erfasst und der Fahrer war geflüchtet. Sein Glück, dass das Krankenhaus in der Nähe war, als man ihn fand. Mirella fiel in Ohnmacht.