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Der Wolfskönig

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07.10.2017
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Der Wolfskönig

Ich vermisse meine Babuschka, denn ohne sie bin ich nur ein einsamer Zwerg, der den Mond betrachtet und nichts mit sich anzufangen weiß. Babuschka, das war Familie und Frieden. Und eine Zeit, die nicht mehr wiederkehrt. Ich lebte mit ihr in den Tiefen unter einer jungen Eiche, wo nur die Geräusche von Regenwurm und Käfer durch unsere Träumen huschten. Dort, in dieser geheiligten Erde, hielt meine Babuschka mich in ihren Armen und obwohl ich einen ausgesprochen tiefen Schlaf hatte, glaubte ich manchmal, ihren langsamen Herzschlag zu hören, der beständig über mich wachte.
Ich selbst war ein Jungzwerg, kaum so alt wie der biegsame Baum über unseren Köpfen. Ich hatte noch nichts gesehen von der Welt und mochte nichts so sehr wie Ruhe und unser bescheidenes Leben. Babuschka war mir genug. Und meistens tat ich das, was Zwerge immer machen: Schlafen. Denn nur dann, wenn der Vollmond schien, erreichte uns sein Weckruf in den unteren Erdschichten und dann gruben wir uns zurück an die Oberfläche, um sein mattes Licht zu bestaunen. In diesem Licht und unter der Eiche entzündete Babuschka ihre magischen Feuer und erklärte einem unwissenden Zwerg die Wunder unseres Volkes. Sie trug dabei immer einen Filzhut, der ihr ein bisschen in die Stirn hing, das Gesicht von Runzeln durchzogen und ockerbraun.
»Der Vollmond und das magische Feuer, Vechta«, erklärte sie mir dann. »Das sind die Schlüssel, die uns die Anderwelt öffnen.«
»Und der Götterspor«, ergänzte ich jedes Mal. »Denn das ist es, was die Götter wollen.«
Babuschka streichelte mir dann meinen Kopf und ich brummte zufrieden. Sie zog den weißen, ganz glatten Pilz unter der Kleidung hervor und schnitt mit einem scharfen Stein ein Stück davon ab. Sie nahm es in ihren Mund, kaute darauf herum und legte es in die Feuerstelle. Dann warteten wir, bis der Vollmond hinter den Wolken hervorkam und sein Licht auf den Götterspor schien. Es knisterte und wenn wir lange genug warteten, entzündete sich der Götterspor zu einer blauen Flamme. Dieses kleine Feuer war immer etwas Wunderbares. Meinen drahtigen Körper konnte es nicht wärmen, aber das stete Flackern hatte etwas Beruhigendes, auch wenn ich das magische Feuer damals noch nicht verstand. Wir setzten uns immer an den Rand des Feuers, bis wir die Stimme hörten. Manchmal hörten wir sie sofort und manchmal warteten wir so lange, dass meine Beine einschliefen und ich sie mühsam abklopfen musste. Doch die Stimme kam immer.
»Wer?«, flüsterte es dann aus der Flamme.
»Die Babuschka«, sagte meine Babuschka und es zischte im Feuer.
»Wann?«, flüsterte die Stimme wieder.
»Wenn der Vollmond scheint.«
»Und wie?«
»Mit einem Stück des Götterspors. Denn das ist es, was die Götter wollen.«
Dann warf sie noch ein Stück des weißen Pilzes in die Flamme und in dem Augenblick wehte uns ein frischer Wind aus dem Feuer entgegen. Babuschka saß da, stumm, den Blick auf die Flammen gerichtet und es blieb mir verborgen, was sie dort sah, denn nie hatte die Stimme mit mir gesprochen. Stattdessen vertrat ich mir im Wald die Beine, immer in Sichtweite unserer Eiche. Beizeiten saß ich auch einfach nur stumm da und betrachtete Babuschka zufrieden. Ein einziges Mal nur hatte ich den Finger ausgestreckt und sie an der Schulter berührt, bis ein starker Wind mich von den Beinen riss. Ich war noch nicht bereit für die Anderwelt.
»Was siehst du auf der anderen Seite?«, fragte ich Babuschka jedes Mal, wenn sie aus der Anderwelt zurückgekehrt war.
»Die Ahnen. Und die Ahnen unserer Ahnen«, sagte sie dann und streichelte mit ihrer Hand zärtlich meine Wange. »Könige, die mit Bettlern speisen. Und Götter, die den Steigbügel halten.«
Es gefiel mir sehr, wie sie das sagte. Denn Babuschka sagte immer die Wahrheit.
»Wenn du älter bist, wirst auch du die Ahnen sehen können. Jeder Zwerg zu seiner Zeit.«
Und meistens schwiegen wir dann, betrachteten noch eine Weile den Mond und waren zufrieden. Bis ich schließlich daran dachte, dass jetzt ein tiefer Schlaf das Beste wäre.
Doch es kam die Vollmondnacht, die anders war als alle vorherigen. Das Feuer war längst erloschen und doch blieb Babuschka sitzen. Ich wollte zurück in die Erde und schlafen, denn wir hatten lange am Feuer gewacht. Aber Babuschka hielt mich mit ihrer kleinen Hand zurück.
»Denk dran: Der Götterspor ist der Zugang zur Anderwelt. Wenn deine Zeit gekommen ist und du die Anderwelt aufsuchen willst, dann suche den Wolfskönig. Dort wirst du den Götterspor finden.«
»Den Wolfskönig?«, fragte ich überrascht, denn die Eindringlichkeit in ihren Worten war mir fremd. Noch nie hatte Babuschka einen Wolfskönig erwähnt. Mein Herz klopfte plötzlich schneller.
»Du musst ihn unter allen Umständen finden.«
»Natürlich, Babuschka. Alles, was du willst.« Sie sagte immer die Wahrheit. »Aber wo finde ich den Wolfskönig?«
»Fang bei den Menschen an.« Dann blickte sie zum Vollmond hinauf und mir war so, als ob sie bedrückt war, und erleichtert zur selben Zeit. »Ich bin müde, Vechta. Lass uns schlafen gehen.«
Und dann folgte ich ihr in die Erde hinab.
Ich wusste es noch nicht, und dennoch war da diese dunkle Ahnung, dass dies der Tag war, an dem ich mein altes Leben hinter mir ließ, dass ich ein letztes Mal unter der geliebten Eiche schlief. Wir alle müssen Altes und Liebgewonnenes loslassen. Daran gemessen zerbrach es mir fast das Herz, als ich erwachte und feststellte, dass Babuschka fort war. Ich verbrachte die ganze Nacht damit, mir allerlei Schrecklichkeiten auszumalen, denn sie kam einfach nicht zurück. Dort unter der Eiche war ich ein einsamer, verlorener Zwerg. Wie sehr erschrak ich, als ich plötzlich an den Stamm der Eiche gelehnt Babuschkas alten Filzhut fand. Mit einem erstickten Schrei stürzte ich hin und griff danach, wusste ich doch, dass es Babuschkas wertvollster Besitz gewesen war. Seit ich zurückdenken kann, hatte sie ihn immer getragen und Nadel und Faden darin aufbewahrt. Ich erinnere mich an so manche Vollmondnacht, als sie aus der Anderwelt zurückgekehrt war und in tiefster Versunkenheit Zauber in die Innenseite gestickt hatte. Einige dieser Zauber hatte sie mich gelehrt, andere nicht. Aber ich weiß auch, dass Babuschka in diesen spröden Filz alle Namen unserer Ahnen eingestickt hatte. Niemals sollte jemand vergessen werden. Und als ich nun die Nähte entlangtastete, die dort gestickt waren, sah ich, dass Babuschka in einer unscheinbaren Ecke ihren eigenen Namen eingestickt hatte. Ich sank ganz kraftlos zur Erde, weil ich nicht begriff, warum sie das getan hatte und weil ich in meiner jugendlichen Unbedarftheit noch nicht wahrhaben wollte, dass alles einmal enden musste. Ich verschloss mich gegen diese Wahrheit und es war schlicht die Verzweiflung, die mich bis zum Morgengrauen warten ließ. Denn ich war allein und wollte es nicht sein.
Dann, als die Sonne aufging, setzte ich mir Babuschkas Filzhut auf den Kopf und machte mich auf die Suche nach ihr. Und ich spürte, je länger ich das Gewicht des Filzhutes auf meinem Kopf trug, dass ich sie in der Anderwelt finden musste.

»Fang bei den Menschen an«, hatte Babuschka gesagt. Immerhin wusste ich, dass sie am Fluss wohnten, wusste auch, wo ich sein Ufer finden konnte. Aber ein Fluss war lang und es gab ein flussauf und ein flussab. Ich hatte schlicht keine Ahnung, welche Richtung ich einschlagen sollte. So hatte ich nach kurzer Zeit zwar sein Ufer erreicht und wackelte mit den Zehen im Wasser, um mir die Müdigkeit zu vertreiben. Nur war ich in meinem ganzen Leben nie weiter als bis zu dieser Stelle gekommen. Links oder rechts? Ich wollte diese Entscheidung nicht treffen. Es war mir mühsam und die Aufgabe, einen Wolfskönig zu finden, viel zu groß für einen Zwerg, der das Vertraute liebgewonnen hatte und nichts wissen wollte über eine Welt jenseits der Eiche. Ich beschloss, da ich mich entscheiden musste, stromab zu laufen und besann mich auf etwas, was Babuschka mir gesagt hatte, wenn ich ungeduldig meine Hand nach den Ahnen ausstrecken wollte: Immer einen Schritt vor dem anderen.
So dachte ich noch, als ich sie hörte: Das Menschenkind, das genau so einsam war wie ich. Nur wusste ich es damals noch nicht. Ein Schrei, der das gluckernde Wasser übertönte, war alles, was ich hörte. Ich überwand das seichte Wasser mit raschen Schritten, erreichte den Uferhain auf der gegenüberliegenden Seite, den Rufen folgend, und trat schließlich etwas unbeherrscht auf eine Lichtung. Dort hing an einem Baum ein junges Mädchen mit einer Stimme, hell und hoch. Rote, lange Haare, Sommersprossen. Ein junges Mädchen, das dort in einem Netz hin- und her. Die nackten Beine ragten aus den groben Maschen heraus. Sie sah mich, wie ich ins Licht stolperte und was ich auf Grund der Rufe als Hilflosigkeit deutete, zersplitterte rasch, als sie die ersten Worte an mich richtete.
»Bei Odins Klöten«, rief sie und stierte zu mir herüber. Der Ast, an dem sie hing, bog sich gefährlich nach unten. »Ein Zwerg, ausgerechnet hier und jetzt?«
Begierig presste sie ihren Kopf an die Maschen. Ich trat noch zwei Schritte vor, getrieben von Neugier und – so schien es mir im Angesicht des Netzes – relativer Sicherheit. Doch wie ich Zwerg so dastand, beglückt, so schnell einen Menschen gefunden zu haben, hatte ich keine Gelegenheit mehr, das Mädchen weiter zu studieren. Ich hörte schwere Schritte durch den Wald herannahen und das Mädchen scheuchte mich mit einer hastigen Handbewegung fort.
»Versteck dich. Der Jägersmann darf dich nicht sehen.«
Ich lief einigermaßen verdutzt in das nächste dornige Gebüsch, ganz überrumpelt, denn Babuschka hatte mir nie Befehle erteilt. Ich hatte keine Ahnung, wer der Jägersmann war, aber seine Schritte klangen in meinen Ohren unheilvoll. In was für eine Malaise war ich hier geraten! Ich beschloss spontan, dass ich Magie wirken würde, war dieses Mädchen doch meine einzige Spur. Und immerhin gefangen. Nervös nestelte ich an meinem Filzhut und strich über die magischen Nähte.
Ein verstruppter, großer Mann trat nun auf die Lichtung und über seine Schulter hatte er sich eine Eisenaxt bequem zurechtgelegt. Er prüfte sorgsam das Netz, stupste das Mädchen an, so dass es hin- und herschwang. Der Jägersmann stieß ein zufriedenes Brummen aus. Das Mädchen blieb still, beobachtete lediglich und zu meiner Überraschung war da keine Angst in ihren Augen. Als der Jägersmann seine Axt von der Schulter nahm und das Seil trennen wollte, welches das Netz mit dem Ast verband, war ich vielmehr beeindruckt, wie sachlich ihre Stimme klang.
»Jägersmann nennen sie dich.« Der Jägersmann zuckte zusammen und glotzte nur. Das Mädchen nickte mit dem Kopf flussab. »Die Leute im Dorf, so nennen sie dich.«
Der Jägersmann prüfte langsam die Schneide der Eisenaxt mit seiner Hand. Er sagte kein einziges Wort. Das Mädchen tippte an ihre Brust.
»Mich nennen sie die Bestienjägerin. Bist du eine Bestie, Jägersmann?«
Der Jägersmann lächelte, fing aber nicht an, zu reden. Ich packte die Krempe des Filzhutes mit festem Griff und überlegte hastig, welcher Zauber hier der Beste wäre. Da begann das Mädchen von Neuem: »Wenn du mich jetzt runterlässt, dann kämpfe ich gegen dich. Wir werden sehen, wer diese Lichtung lebend verlassen wird.«
Ja, man kann sagen, dass ich den Mut in ihren Worten von Anfang an bewunderte.
Der Jägersmann blickte das Mädchen noch einmal an. Sie war dürr, unbewaffnet und gefangen. Ich begriff, dass das, was er dort sah, ihn nicht weiter beunruhigte. Wenn da nicht diese Kühnheit in ihren Worten gewesen wäre. Aber dennoch: Ein Kind blieb ein Kind. Ich strich die Naht im Hut entlang. Es würde ein starker Zauber werden.
Der Jägersmann holte aus und hieb mit kräftigem Schwung seiner Axt das Seil durch. Das Netz fiel auf die Erde. Plötzlich hatte das Mädchen ein Messer unter ihrem Hemd hervorgeholt. Ich sah die Klinge in der Sonne blitzen und erschrak. Hilflos, nutzlos, fummelte ich noch an Babuschkas Filzhut herum, da hatte sich das Mädchen schon um den Jägersmann herumgewunden und ihm das Messer in den Rücken und unter die Rippen hindurch gestoßen. Der Jägersmann blickte fassungslos an sich herab und selbst jetzt noch starb er, wie er gelebt hatte: Kein einziges Wort entrang sich seinen Lippen. Er fiel zur Seite, die Axt glitt aus seinen Händen. Das Mädchen zog rasch die Klinge aus seinem Körper und wischte sie im Gras sauber.
»Hab keine Angst, kleiner Mann. Ich bin Freja«, rief sie in meine Richtung und ließ das Messer wieder unter ihrem Hemd verschwinden. Und ob ich Angst hatte! Ich war wie erstarrt vor dieser rohen Gewalt, hielt meinen Hut über meine Stirn gepresst und blieb stumpf in diesem Dornengebüsch stehen.
»Nun komm doch her. Wollen wir uns nicht einander vorstellen?« Sie zeigte auf den Jägersmann vor ihren Füßen. »Ich kann ja auch nichts dafür.«
»Du hast ihn umgebracht!«, rief ich zu ihr rüber. Es war zwar eine Offensichtlichkeit, aber angesichts der Größe eines Lebens musste ich es ihr entgegenschreien.
Freja, denn so nannte sie sich ja, winkte mich zu sich heran. Halb benommen wankte ich zurück auf die Lichtung und als ich sie erreicht hatte, reichte ich ihr gerade bis zur Hüfte. Ihre Worte fielen unverkrampft auf mich herab.
»Ist nicht schlimm um ihn«, sagte sie gleichgültig. »Du weißt ja nicht, was er gejagt hat.« Sie hob mit ihrer Fußspitze das Axtblatt an und zeigte mir rostbraune Stellen. »Hier und hier. Das hab ich sofort gesehen. Getrocknetes Blut. Hat die Frauen aus dem Dorf gefangen und sie dann mit dieser Axt um eine Kopflänge kürzer gemacht. Da kann man ja gar nichts machen.«
Sie krempelte ihre Ärmel hoch und nahm das Messer erneut hervor.
»Fast hätt ich es vergessen vor soviel Zwerg. Erst mal Ohren ab.«
Sie beugte sich über seinen Kopf und als sie mit dem Messer seine Ohren abschneiden wollte, übermannte mich eine Welle des Zorns über soviel Kaltblütigkeit. Ich fühlte die Nähte im Hut entlang, sog Kraft daraus und richtete meinen Zorn wie einen festen Speer gegen Frejas Geist. Sie erstarrte augenblicklich. Ich befahl, wie ich einer Puppe befehlen würde.
»Zurück von ihm.« Freja ging zurück.
»Jetzt weg mit dem Messer.« Freja warf das Messer zur Seite.
»Und jetzt-.« Ja, das wusste ich auch nicht. Was sollte jetzt kommen? Ich sah nur, wie Frejas Finger zitterten wie bei meiner Babuschka. Was war das doch nur für eine rohe Welt hier draußen. Meine Wut kippte, die Ratlosigkeit kam. Und mit ihr löste sich der Griff, mit dem ich Frejas Geist in Beschlag genommen hatte. Ich verstand dieses Mädchen von Anfang an nicht. Der Zauber, den ich gewirkt hatte, war ja eine Ungeheuerlichkeit. Ich hätte ihr sonstwas befehlen können. Doch anstatt dagegen anzugehen, schien sie wie elektrisiert. Sie klatschte in die Hände.
»Es ist also wahr. Bei Odins Klöten, ihr Zwerge könnt also zaubern. Und dann mit Gewissen, hat man sowas schon mal gehört?«
Ich schüttelte den Kopf. Es war ziemlich ermüdend und doch war ich noch nicht fertig mit Freja.
»Du hast ein Dorf erwähnt. Wie weit ist das weg?«
»Nicht weit. Ein paar Stunden. Wie soll ich dich nennen, kleiner Mann?«
»Vechta ist mein Name«, kam es ganz schlapp über meine Lippen.
Sag immer deinen Namen, wenn dich jemand fragt, hatte Babuschka gesagt. Und verbeuge dich anständig. Babuschkas Wahrheit – sie half mir hier nicht weiter. Stattdessen streckte ich meinen Rücken. Ich musste mein Glück in diesem Dorf versuchen. Vielleicht würde ich dort auf Verständigkeit treffen. Doch Freja war noch nicht fertig mit mir.
»Genau so einen wie dich hab ich gesucht«, sagte sie, stellte sich vor mich und verbeugte sich drei Mal schnell hintereinander. Fast schon spöttisch erschien mir das. »Du musst mit mir kommen. Es gibt noch eine viel schlimmere Bestie in diesem Wald als den Jägersmann. Eine, die zaubern kann, genau wie du. Ich brauch jemanden, der die Zauber des Wolfskönigs brechen kann. Ich muss diese Bestie erlegen.«
Es gibt Momente im Leben, da führen die Wege einfach zusammen, auch wenn man sich lieber einen anderen Wanderer für die Reise ausgesucht hätte.
»Du kennst den Wolfskönig? Weißt du denn, wo er lebt?«
Freja nickte eifrig.
»Mehr oder weniger. Er lebt in einer verlassenen Kohlemine. Aber es ist unmöglich für mich, an ihn ranzukommen. Wie gesagt, ich kann seine Zauber nicht brechen. Gegen ihn ist selbst der Jägersmann eine kleine Fliege im Netz der Spinne.«
»Zauber kann man durchdringen«, sagte ich und hatte rasch eine Entscheidung getroffen. »Du führst mich zu ihm. Dafür helf ich dir.«
Freja streckte mir ihre Hand entgegen und ich tat nur so, als würde ich zögern. Ich schlug ein.
»Dann ist es abgemacht«, sagte Freja. »Und nun dreh dich mal um. Ich bin Bestienjägerin. Aber ich mach das nicht umsonst. Die Leute im Dorf zahlen nur, wenn ich ihnen seine Ohren bringe.«
So lernte ich Freja kennen.

Das, was dann folgte, war ein Beispiel dafür, dass Frejas Kaltschnäuzigkeit – zu meinem Verdruss – nur noch von ihrer unfassbaren Geschwätzigkeit übertroffen wurde. Wie sehr hatte ich es geliebt, mit Babuschka schweigend und in völliger Eintracht zu den Sternen zu blicken, dem großen Wagen bei seinem Zug übers Himmelszelt zuzugucken und dem bleichen Vollmond seine Gedichte abzuringen, die in seinem schönen, doch traurigen, Licht verborgen lagen.
Freja hingegen umkreiste mich mit ihren Fragen wie eine Honigbiene ihre Blüten. Woher? Wie lange? Warum? Es war eine erschöpfende Litanei und ich brummte nur Unverständliches. Ich brauchte Freja. Aber das hieß nicht, dass sie mir sympathisch war. Sie hatte ein Leben genommen und auch, wenn der Jägersmann eine Bestie war, so war es doch nicht an uns, zu entscheiden, zu welcher Zeit jemand die Anderwelt betreten durfte. Jeder zu seiner Zeit.
Als wir schließlich auf einen ausgetretenen Pfad stießen, den die Dorfbewohner vor Urzeiten dem Wald abgetrotzt hatten, überwog jedoch die Angst des Kommenden die Abneigung gegen meine Begleiterin.
»Die Leute im Dorf bezahlen dich also, damit du Bestien tötest?«
Nun, da wir auf festem Boden gingen, hatte ich Mühe, mit Frejas Schritten mitzuhalten. Ich trabte fast hinter ihr her, während sie bequem ausschritt und sich die Axt des Jägersmannes nun selbst auf die Schulter gelegt hatte.
»Das werden sie. Naja, nicht gerne. Weil ich in ihren Augen noch ein Kind bin. Sie glauben nicht daran, dass ich die Bestien wirklich töten kann. Aber sie werden mich bezahlen müssen, wenn ich ihnen die Ohren zeige. Außerdem plagt sie das schlechte Gewissen, weil sie ein Kind für etwas beauftragen, was sie selbst nicht wagen. Hast du Erfahrungen mit Bestien, Vechta? Der Jägersmann war nur ein Vorgeschmack auf den Wolfskönig.«
»Ich weiß gar nichts über diese Welt«, gab ich unumwunden zu. Freja musterte mich prüfend und zuckte dann mit den Schultern.
»Hauptsache, du kannst zaubern. Der Rest zieht irgendwann nach. Und wenn wir das Dorf erreichen, dann sag am besten gar nichts. Steh einfach nur da und sei ein Zwerg. Das wird schon reichen, um uns ernst zu nehmen.«
»Müssen wir denn in das Dorf? Ich will nur zum Wolfskönig.«
»Ich will verdammt sein, wenn ich meine Belohnung nicht kriege nach der Schweinerei da auf der Lichtung. Außerdem liegt das Dorf auf direktem Weg zur Kohlemine. Wird nicht lange dauern, kleiner Mann.«
Also gab ich es erst mal auf, aus diesen Menschen schlau zu werden und rezitierte die Nähte und Zaubersprüche, je näher wir dem Dorf kamen. Ich hatte genug gesehen, um die Menschen fast so sehr zu fürchten wie den Wolfskönig.

Meine Angst erwies sich jedoch als gänzlich unbegründet. Denn als wir das Dorf erreichten, erschienen mir sowohl Menschen als auch deren Behausungen viel zu blass: Ein paar bescheidene Holzhütten links und rechts der Straße. Nur vereinzelt, wie graue Kleckse hingepinselt, standen Männer beisammen, mit bleichen, abgezehrten Gesichtern und struppigen Bärten. Ich sah kaum Frauen. Und Kinder nirgendwo. Keiner machte Anstalten, uns anzusprechen.
»Es ist schon eine schlimme Sache«, sagte Freja, während wir die Holzhütten passierten. »Die Menschen hier haben so viel verloren. Der Jägersmann nahm ihre Frauen und deren Köpfe. Und man sollte meinen, diese Plage hätte gereicht für so ein kleines Dorf. Dann aber kam der Wolfskönig und er ist noch die größte Bestie von allen. Er kommt in das Dorf, wenn es Neumond wird. Und wenn sein Heulen ihn ankündigt, geht er durch die Häuser und nimmt sich eines der Kinder. Aber immer nur eines zur Zeit und immer nur bei Neumond. Dieses Dorf ist so ausgetrocknet und mürbe, da ist es kein Wunder, dass alle so schweigsam sind. Erst wenn der Wolfskönig ein zweites Mal heult, ist alles vorbei und sie kommen kalkweiß aus ihren Hütten gekrochen.«
»Es muss jemanden geben, der den Wolfskönig gesehen hat«, erwiderte ich. Es schien mir unbegreiflich zu sein, dass Kinder einfach so verschwinden konnten. Freja, die vor mir ging, drehte sich nicht einmal um.
»Es gibt aber niemanden. Keiner kann sich an den Wolfskönig erinnern. Niemand weiß, wie er aussieht. Ein Heulen und er kommt. Ein zweites Heulen und alles ist vorbei. Es ist so, als hätten die Dorfbewohner vergessen, was dazwischen passiert ist.«
Ich dachte lange über Frejas Worte nach. Babuschka hatte mich einen Zauber gelehrt, der genau das bewirken konnte. Die Erinnerungen verschwinden lassen. Aber wenn der Wolfskönig tatsächlich diese Zauber wirken konnte, handelte er planvoll. Ein böser Geist mit Sinn und Verstand war hier am Werk und ich gestehe, dass mir dieser Gedanke mehr Angst machte als das Bildnis einer ungezähmten Bestie, deren Geist niedergeworfen werden konnte.
Am Rand des Dorfes ging Freja schließlich auf eine Gruppe Männer zu, die uns die ganze Zeit über finster anstarrten. Freja achtete nicht darauf. Sie gab einem der Männer die abgeschnittenen Ohren des Jägersmannes. Ich stand daneben und bemühte mich nach Kräften, wichtiger auszusehen, als ich mich fühlte. Ich spürte ihre fragenden Blicke auf mir, sagte aber nichts. Ich glaube, ich war der erste Zwerg, dem sie jemals begegnet waren. Sie konnten mich einfach nicht einschätzen und was auch immer sie in ihren Legenden über uns Zwerge zusammengesponnen hatten, es machte Eindruck. Vielleicht war es aber auch Frejas Axt, ich weiß es nicht. Einer der Männer gab ihr eine Silbermünze im Tausch für die abgeschnittenen Ohren drein und als wir weitergingen, drehte Freja sich noch einmal zu der Gruppe um.
»Das Dreifache, wenn ich euch den Wolfskönig erlege. Denkt dran.«
Ein knappes Brummen, das ich mit viel Mühe als Zustimmung deuten konnte und schon hatten wir das Dorf hinter uns gelassen.

Wir wanderten den ganzen Nachmittag schweigend auf dem Pfad. Freja hatte es aufgegeben, sich mit mir zu unterhalten und spielte stattdessen mit der Silbermünze, die sie in die Luft warf und wieder auffing. Doch je mehr die Sonne mit uns wanderte, desto schwermütiger erschien sie mir. Ich wusste auch den Grund dafür, denn ich nahm bereits die ersten Anzeichen von Magie wahr. Ohne dass sich das Wetter geändert hatte, wurde die Luft stickiger und brannte heiß in den Lungen. Meine Schritte fielen mir zusehends schwerer und ich fing an, zu schwitzen. Ich hatte schon viel zu lange nicht geschlafen und war müde, sicherlich. Meine Knochen fühlten sich wund an, der Körper beansprucht, aber ich konnte es ertragen, solange ich in Bewegung war. Doch jetzt, wo wir uns dem Reich des Wolfskönigs näherten, fühlte ich mich zu Tode erschöpft und ich sah es Freja an, dass es ihr nicht anders ging. Immer länger wurden unsere Pausen, obwohl ein ganz gerader, ebener Weg vor uns lag. Schnaufend schleppten wir uns weiter, bis Freja auf eine Biegung vor uns wies.
»Hinter dieser Biegung liegt der Grund, warum niemand bis zur Kohlemine vordringen kann. Jetzt liegt es an dir.«
Und ich fragte mich noch, was Freja damit meinte, als wir den Schafskopf erreichten. Ein abgeschlagenes Haupt, das auf einem langen Holzspieß aufgepflanzt war. Die blaue Zunge hing heraus, die von Fliegen besetzten Augen starrten uns an. Und in diesen Augen glaubte ich, eine Präsenz wahrzunehmen. Einen bösen Geist, der diesen Kopf hier abgelegt hatte und uns durch die Augen mit entsetzlichem Blick betrachtete.
»Niemand kommt an diesem Schafskopf vorbei«, sagte Freja ganz außer Atem. »Er befiehlt uns, umzukehren. Schon jetzt will ich laufen, so schnell ich kann.«
Rasch nahm ich meinen Filzhut ab, befühlte die Nähte im Inneren und kämpfte mit dem Geist, der sich im Schafskopf versteckte. Ich richtete meinen Willen auf ihn, mit ganzer Kraft, und versuchte etwas zu bezwingen, das mir größten Widerstand leistete. Die zerfressenen Augen blickten bis auf den tiefsten Grund meiner Seele. Ich fuhr die Nähte geschwind hinab und rang minutenlang mit einem Meister, dessen Zauber mir ebenbürtig schien. Dann, als ich glaubte, nun müsste er bis auf meinen Seelengrund hinabblicken können, zog sich der Geist plötzlich aus dem zerfressenen Schafskopf zurück. Erschöpft und von Schwindel befallen, setzte ich mich auf die Erde. Freja hingegen atmete erleichtert auf. Sie streckte sich zu voller Höhe.
»Du hast es geschafft«, rief sie und wischte sich Schweiß von der Stirn. »Mir ist jetzt schon leichter zu Mute.«
Sie trat auf den Schafskopf zu und stieß den Holzspieß zur Seite. Die Fliegen stoben auf, der verrottete Schafskopf fiel zur Erde. Ich blickte seine Augen erneut an und hatte doch das beklemmende Gefühl, dass nicht ich es war, der den Geist vertrieben hatte. Es schien mir so, als hätte er sich freiwillig zurückgezogen. Jetzt war da nur noch dieser Schafskopf. Auch wenn er mir einen Vorgeschmack darauf gab, was uns noch bevorstand.
»Also dann.« Freja schien Mühe zu haben, sich vorwärts zu bewegen. »Wagen wir es.« Sie gab sich einen Ruck und marschierte am Kopf vorbei. Ich folgte ihr und endlich hatten wir die Grenze zum Reich des Wolfskönigs überschritten. Es dämmerte mittlerweile. Ich sah, wie ein weiterer Vollmond aufging. Die Luft war klarer, kühler und für einen kurzen Augenblick, es mochten hundert Schritte gewesen sein, wuchs meine Zuversicht. Dann zerriss ein schauderhaftes Wolfsheulen die Stille der Dämmerung. Es war ein klagender, ganz langgezogener Laut, der mich innehalten ließ. Ich nahm meinen Filzhut wieder in die Hand und hatte einen trockenen Mund. Ein Heulen und der Wolfskönig kam, ein zweites Heulen und er verschwand.
Freja war neben mir erstarrt. Ich nahm sie an die Hand. Ich wusste, worauf sie wartete.
»Komm jetzt, Bestienjägerin. Es wird kein zweites Heulen geben. Ich glaube vielmehr, dass er uns bereits erwartet.«
Freja nickte nur. Zum ersten Mal schien es ihr die Sprache verschlagen zu haben und ich wusste plötzlich, wer sie wirklich war: Ein junges Mädchen, das trotz aller Härte gegen sich selbst nicht sterben wollte. Widerstrebend, aber vor ihrem eigenen Urteil bestehend, hielt Freja mit mir Schritt. Denn Bestienjägerinnen und solche, die es werden wollten, trugen ein Löwenherz in sich.

Die Nacht hatte die Dämmerung vollständig abgelöst, als wir die Kohlemine erreichten. Vor dem Eingang blickten uns zwei weitere aufgespießte Schafsköpfe entgegen. Frisch ausgeblutet. Unter den Spießen war die Erde schwarz gefärbt. Doch spürte ich keinen bösen Geist in diesen Augen. Der Wolfskönig hatte sich zurückgezogen. Freja hielt die Axt des Jägersmannes mit beiden Händen vor die Brust und blieb vor den Schafsköpfen stehen. Genau wie ich wollte sie diesen Ort nicht betreten, nicht nach dem Heulen, das wir gehört hatten. Gleichwohl konnten wir auch nicht zurück. Ich konnte es zumindest nicht. Ich atmete tief ein, spürte die kühle Luft der Vollmondnacht in meinen Lungen und mit diesem letzten frischen Atemzug schritt ich an den Schafsköpfen vorbei und betrat die Mine. Ein fettglänzendes Kohleerz schien uns von den Wänden entgegen und wies uns zunächst den Weg ins Innere. Doch als wir weitergingen und das Mondlicht uns nicht mehr folgen konnte, blieb uns nichts anderes übrig, als uns in völliger Dunkelheit voran zu tasten.
Ich weiß nicht, wieviele Stollen die Minenarbeiter hier vorgetrieben hatten, wieviele Abzweigungen wir tatsächlich verpassten, denn wir sahen nicht die Hand vor Augen, fassten uns an den Händen und stolperten mühsam voran. Alles, was uns den Weg wies, war ein Geräusch, das sich – je tiefer wir vordrangen – nun langsam offenbarte. Es war ein Fauchen, ein Knurren und metallische Geräusche, so als würde jemand Hammer auf Amboss schlagen.
Wir ließen uns von diesem Lärm leiten und wussten, dass wir nicht fehlgegangen waren, denn schon bald wurde ein mattes bläuliches Leuchten von den glänzenden Kohlewänden den Stollen entlanggetragen. Es roch nach ungewaschenem Fell und ich hielt Frejas Hand so fest, ich konnte gar nichts dagegen machen.
Der Stollen mündete in einer Höhle, die wohl früher als Lagerstätte der Minenarbeiter gedient hatte. Fässer, Kisten und Werkzeuge lagen, bar jeder Ordnung, über den Boden verstreut oder in Haufen zusammengeschichtet. Doch darauf achtete ich zunächst nicht. Denn in der Mitte dieser Höhle sah ich den Wolfskönig mit seiner lächerlichen Blattkrone. Ein riesiger behaarter Wolf, der aufrecht stand und mit nasser Schnauze um ein magisches Lagerfeuer tappte. Genau so eins, wie Babuschka es immer entfacht hatte. Wir versteckten uns hinter einem Stapel Kisten und blickten stumm auf dieses bizarre Bild.
»Rrr. Roro. Hrhr«, machte der Wolfskönig und ging um das Feuer, in Schafsfellen, die er sich um Lenden und Schultern gelegt hatte. Wahrlich, das sah ich sofort, hier war eine Kreatur am Werk, die Mensch sein wollte und ihr Verhalten imitierte.
»Rohro. Rararo«, machte der Wolfskönig und als er einmal um das Feuer gelaufen war, sah ich in seinen großen Tatzen einen perfekten weißen Pilz. Es war ein Götterspor. Der Wolfskönig brach ein Stück ab, mit einer Vorsicht, die ich ihm nicht zugetraut hätte und warf es ins Feuer. Die blauen Flammen zischten auf und zu meinem Erstaunen hörte ich eine vertraute Stimme aus den Flammen.
»Wer?«, sagte sie. Neben mir zuckte Freja unwillkürlich zusammen. Der Wolfskönig ließ sich auf seine Tatzen fallen und knurrte das Feuer an. Fast erwartete ich, die Stimme aus dem Feuer erneut zu hören. Aber sie schwieg. Der Wolfskönig warf den Kopf nach hinten und heulte. So unheilvoll wurde dieser Laut von den fettglänzenden Wänden weitergetragen, dass wir uns die Ohren zuhalten mussten. Der Wolfskönig keuchte und schnappte, als wollte er etwas aus seinem Inneren hochwürgen. Er trat aus dem Lichtkegel und wir sahen nun, wie er sich in einer dunklen hinteren Ecke der Höhle an einem Eisenkäfig zu schaffen machte. Er hieb mit seiner Tatze auf das Eisen ein und wieder hörten wir das metallische Geräusch. Auf seinen Hinterbeinen schleifte er den Käfig in den Lichtschein des Lagerfeuers. Ein kleiner Junge mit blondem Schopf und verkniffenem Gesicht war darin gefangen. Er hatte sich in die hinterste Ecke des Käfigs zurückgezogen. Der riesige Wolfskopf beugte sich mit seinen bernsteinfarbenen Augen zum Käfig hinunter. Die Zunge hing ihm aus der Schnauze. Mit einer Kralle entfernte er das rostige Scharnier und öffnete die Eisentür. Ich spürte, wie plötzlich Bewegung in Freja kam, als der Wolfskönig den Jungen griff und sich an die haarige Brust drückte. Er hielt ihn gefährlich nah an das magische Feuer.
»Roro. Rrr«, machte er. Der Junge wimmerte und Freja, die Gerechte und Strenge, zeigte nun das Holz, aus dem sie geschnitzt war. Sie nahm nicht nur Leben, sondern war auch bereit, es zu schützen, wo sie konnte. Und ich, Vechta, der Zwerg, der bibbernd und zitternd dem Wolfskönig zuschaute, die feigen Nägel in das Kistenholz gekrallt, war nicht fähig, ihm Paroli zu bieten. Ich hätte in meiner Furcht nicht einen Zauber wirken können, während Freja, mit nichts weiter gerüstet als Mut und einer rostigen Axt, hinter der Kiste hervor und in den Feuerschein trat.
»Lass ihn runter«, brüllte sie der Bestie entgegen. »Hier ist eine Jägerin, die deinen Kopf abhackt.«
Der Wolfskönig fletschte die Zähne und schnappte wild. Er blickte Freja mit seinen furchterregenden Augen an.
»Lass ihn runter, hab ich gesagt.«
Es grollte in den Tiefen seiner Kehle. Behutsam ließ sich der Wolfskönig auf alle Viere fallen. Der Junge fiel zur Erde und rollte unter dem behaarten Bauch zur Seite, weg vom Feuerschein. Die ganze Aufmerksamkeit des Wolfskönigs war nun auf Freja gerichtet. Er trottete auf sie zu. Doch hatte er noch nicht wie ich verstanden, dass Freja anders war als seine Opfer. Anstatt zurückzuweichen, sprang sie vor. Anstatt zu fliehen vor dieser Naturgewalt, bezähmte sie die Angst und griff an. Mit drei Sprüngen hatte sie die Distanz zum Wolfskönig überwunden. Sie stieß ihm die Axtspitze in die Schnauze und so ein Brüllen hatte ich noch nie gehört. Die bernsteinfarbenen Augen des Wolfskönigs tränten, die Blattkrone fiel ihm vom Haupt und mit einem gewaltigen, wilden Tatzenhieb stieß er Freja zur Seite, die durch die Luft geschleudert wurde und reglos am Boden liegenblieb. Ich sprang aus dem Schatten.
»Hier«, rief ich. »Hier bin ich. Du wusstest, dass ich kommen würde.«
Der Wolfskönig drehte sich zu mir um. »Rhrh. Ro«, machte er und zeigte auf mich.
»Rararo«, erwiderte ich und zeigte auf meinen Mund. Der Wolfskönig wurde plötzlich ganz still. Er hob seine Blattkrone auf und setzte sie sich auf den Kopf. Ich zeigte auf das magische Feuer. »Ich weiß, dass du mich brauchst.«
Ich trat zu Freja und sie war nicht tot. Ich hörte ihr Stöhnen und drehte sie zu mir. Ich erkannte, dass meine Magie mir hier nicht weiterhelfen würde, selbst wenn ich so stark wie Babuschka gewesen wäre.
»Steh auf, Freja«, sagte ich milde und reichte ihr meine Hand. »Ich weiß jetzt, warum ich hier her geschickt wurde. Bleib hier. Warte, bis ich seine ganze Aufmerksamkeit habe. Dann nimm das Kind, verlasse diesen Ort und blicke nie wieder zurück.«
Freja schluckte und blickte mich nervös an. Dann spuckte sie aus und drückte noch einmal fest meine Hand.
»Bei Odins Klöten, pass auf dich auf. Was auch immer du vorhast.«
Dann wandte ich mich von meiner Gefährtin ab. Ich näherte mich den blauen Flammen und obwohl sich meine Knie ganz schwach und zittrig anfühlten, fasste ich mir ein Herz und trat dem Wolfskönig entgegen. Er richtete sich auf die Hinterbeine auf, trat dann langsam zurück. Seine Bernsteinaugen ließen mich nicht los.
»Ich weiß jetzt, was du willst«, rief ich mit lauter Stimme. »Roro. Hrhr. Du willst mit den Ahnen reden.« Ich zeigte auf meinen Mund. »Roro, hrhr.«
Der Wolfskönig fletschte die Zähne. Ich glaube, er hätte mich mit zwei Bissen verschlingen können. Doch ganz langsam gab er seinen Platz auf und wich zurück. Misstrauisch, als müsste ich mich noch als würdig erweisen. Ich trat so dicht an ihn heran, dass ich nur den Arm ausstrecken musste, um sein Fell zu berühren. Obwohl es zuerst gänzlich schwarz erschien, sah ich jetzt, dass es von unzähligen grauen Haaren durchzogen war. Ich zeigte auf seine Tatze.
»Du brauchst meine Hilfe dafür. Gib mir den Götterspor. Gib ihn mir oder die Ahnen werden dir immer verborgen bleiben.«
Der Wolfskönig hatte den weißen, makellosen Pilz an seine Brust gepresst. Mein Herz klopfte so laut und schnell. Es war fast zu viel. Ein Glück verlangte das magische Feuer nie Mut oder Stärke. Es wollte nur eine einzige Sache. Langsam legte der Wolfskönig den Pilz auf die Erde und trat weiter zurück, abwartend, mit lauernden Augen. Ich brach ein Stück des Pilzes ab, lutschte darauf herum und spuckte es in die blauen Flammen. Inständig hoffte ich, dass die Ahnen mit mir sprechen würden, dass sie mich für würdig erachteten. Mein Leben lag in ihrer Hand. Ich starrte in die Flammen. Es zischte und knackte, aber das Feuer blieb stumm. Der Schatten des Wolfskönigs war jetzt direkt über mir. Ich wich nicht zurück. Wo sonst hätte ich auch hingehen sollen? Endlich hörte ich ein Flüstern aus dem Feuer.
»Wer?«, sprach die Stimme. Das Herz wollte mir zerreißen.
»Vechta«, sagte ich.
»Wann?«
»Wenn der Vollmond scheint.«
»Wie?«
»Mit einem Stück des Götterspors.« Ich schluckte. »Denn das ist es, was die Götter wollen.«
Ich spürte den Sog der Flammen, der mich in die Anderwelt hinüberzog. Noch bevor ich vollständig drüben war, packte ich den Wolfskönig am Fell und zog das Biest mit mir. Mit einem letzten Blick sah ich, wie Freja sich den Jungen geschnappt hatte. Dann hatte die Anderwelt mich und den Wolfskönig endgültig verschluckt.

Hier ist meine Geschichte fast zu Ende. Das heißt, es ist nur das Ende von meinem alten Leben. Ich blickte in die Anderwelt und sah Babuschka. Ich sah meine Ahnen und die Ahnen meiner Ahnen. Ich sah, wie Götter den Armen den Steigbügel hielten und Könige mit Bettlern speisten. Ich sah, wie der alte Wolfskönig weinte wie ein Mensch, denn auch er sah seine Ahnen und war allein. Aber er verzweifelte nicht, denn wer in dieser Gesellschaft weilte, hatte keinen Grund mehr dazu. Und dann sah ich noch etwas: Einen kurzen Ausblick auf die Zukunft, nur ein verschwommenes, in seinen Anfängen gezeichnetes, Bild. Aber ich sah, dass ich nicht allein war, auch wenn Babuschka nie mehr wiederkehren würde.
Nach einer Zeit, die eine Sekunde oder ein ganzes Jahr gedauert haben mochte, erfasste uns ein Wind und brachte uns zurück. Ich öffnete die Augen und ließ den Wolfskönig los, der sich abwandte und in die dunkelste Ecke der Höhle wankte. Nur Freja hatte ihr Wort gebrochen. Denn anstatt mit dem Jungen aus der Höhle zu fliehen, war sie bei mir geblieben.
»Was habt ihr dort gemacht?«, fragte sie immer wieder. »Der Wolfskönig hat sich nicht vom Fleck bewegt, als du ihn berührt hast. Hat nur dieses grässliche Heulen angestimmt. Am Ende wär ich beinahe doch geflohen.«
Aber sie war es nicht. Denn es gab keinen anderen Ort mehr für sie als hier bei mir.
Ich ging zum Wolfskönig, der seine Blattkrone von sich geworfen hatte und Tränen in sein schwarzes Fell weinte. Freja war mir hinterher gegangen und hielt den kleinen Jungen im Arm. Er hatte sein Gesicht an ihre Brust gepresst und schaute nur hin und wieder die weinende Bestie an. Hinter dem Wolfskönig wuchsen weiße Pilze aus dem fetten Kohleerz hervor. Noch nie hatte ich so viele Götterspore gesehen.
Ich nahm die riesige, beharrte Tatze des Wolfskönigs, die meinen ganzen Leib mit einer einzigen Bewegung zerquetschen konnte und zog sachte daran, bis er mich mit seinen bernsteinfarbenen Augen anblickte und wir zu viert diesen unheilvollen Ort, diese einsame Höhle, verließen.
Freja löcherte mich mit Fragen über die Anderwelt und natürlich musste ihr meine Bestimmtheit merkwürdig erscheinen, aber wie Babuschka gesagt hatte: Jeder sieht die Anderwelt zu seiner Zeit.
Nach einer Weile gab sie es auf, hielt den Jungen an der Hand, die Axt in der anderen und blickte unruhig zum Wolfskönig, der hinter uns auf allen Vieren folgte und mich nicht aus den Augen ließ.
»Muss der wirklich mitkommen?«, sagte Freja. Ich hielt meinen Filzhut fest, unter dem ich einen riesigen Vorrat an Göttersporen trug.
»Er gehört jetzt zu uns«, sagte ich. Denn Babuschka war fort und wo immer etwas hinweggenommen wird, wird auch immer etwas hinzugefügt. Freja atmete geräuschvoll aus.
»Bei Odins Klöten.« Sie schüttelte den Kopf, doch widersprach sie nicht. »Was für einen komischen Haufen wir doch abgeben. Und die Silbertaler werd ich auch nicht bekommen, nicht wahr?«
»Nein. Aber es gibt noch viele Bestien da draußen.«
Ich strich langsam über meine Hutkrempe. Welcher Zwerg würde da noch zurück in die Erde wollen?

 

Hier mal eine Geschichte, die ursprünglich für einen Wettbewerb mit Frist Ende November gedacht war. Thema: "Fantasy." Tja, die Frist habe ich leicht gerissen und für die Challenge hab ich jetzt auch nichts. Aber dafür immerhin eine Geschichte zu Ende...erst mal.
Ich bin gespannt. Einige Fragen wurden z.B. aufgeworfen und gar nicht beantwortet. Mal gucken, ob da jetzt irgendwo und wenn ja, wo genau, der Schuh drückt...

 

Hi kayoschi,

Also ich habe gleich zu Anfang Probleme mit dem Timing:

kaum so alt wie der Baum über unseren Köpfen.

das ist etwas seltsam. Das würde bedeuten die Zwerge legen ihre Behausungen unter jungen Pflanzen an? Nicht unter ewig alten Bäumen?

Zwerge können ewig in der Erde schlafen. Nur, wenn der Vollmond scheint, erreicht uns sein Weckruf auch in den untersten Erdschichten und dann graben wir uns zurück an die Oberfläche, um sein mattes Licht zu bestaunen.

Naja.. "ewig" schlafen bis zum Vollmond? Vollmond ist ja nun recht häufig .. also wie lange schlafen die Zwerge denn nun?

Dann .. fragt sich, was weckt den die Zwerge nun? Der Vollmond ja vielleicht doch nicht?

Dann warteten wir, bis der Vollmond hinter den Wolken hervorkam und sein Licht auf den Götterspor schien.

Hat das Licht des Vollmondes sie nun dazu veranlasst sich hervorzugraben auch wenn es gar nicht schien? Erahnen sie es? Weil sehen könnte man es unter der Erde ja nicht..

Die Geschichte beginnt (für mich) unlogisch und nicht nachvollziehbar. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Du da nach mal genauer Korrektur liest, ob wirklich alles in Satz A steht, was nötig ist um Satz B zu verstehen.

LG
Sim

 

Hallo Similarion

und danke für deinen Kommentar. Ich seh schon, dass es dich gleich zu Anfang rausgehauen hat und das ist im allgemeinen natürlich das, was ich gerade nicht bezwecken will mit meinen Texten.

das ist etwas seltsam. Das würde bedeuten die Zwerge legen ihre Behausungen unter jungen Pflanzen an? Nicht unter ewig alten Bäumen?

Naja, in einer früheren Version war Vechta, der Zwerg, so ca. 50 Jahre alt und halt so alt wie die Eiche über ihren Köpfen. Das mit den 50 Jahren hab ich wieder rausgenommen. Aber Zwerge müssen jetzt nicht per se unter Eichen oder unter Bäumen mit einem bestimmten Alter schlafen. Das hab ich als Autor jetzt ganz salopp mal so dahingeknallt:).

Naja.. "ewig" schlafen bis zum Vollmond? Vollmond ist ja nun recht häufig .. also wie lange schlafen die Zwerge denn nun?

Dann .. fragt sich, was weckt den die Zwerge nun? Der Vollmond ja vielleicht doch nicht?


Die Wortwahl "ewig" kann man tatsächlich missverstehen. Den Vollmond hat man ja - wenn ich richtig informiert bin - nur alle 27 (oder 29?) Tage einmal. Im Vergleich zum Menschen sind die Phasen dazwischen, in denen ein Zwerg durchschläft, also schon eine kleine "Ewigkeit." Und ja, es ist der Vollmond, der sie weckt. Sein Licht können sie allerdings unter der Erde nicht sehen, das ist auch richtig.

Also summa summarum: Der Autor neigt ja zur Betriebsblindheit. Es muss natürlich für den Leser verständlich sein. Mal gucken, ob noch jemand drüber stolpert. Ich hab da aber schon ein paar Formulierungen im Kopf, wie man das mehr in deine Richtung gestalten könnte. Also vielen Dank für deine Hilfestellung! Ich werde das noch mal aufgreifen (Später, denn noch bin ich zu nah dran an dem Text).

Allerdings noch eine Kleinigkeit am Rande: Herr Kollege, da muss noch mal bittschön in der eigenen Geschichte an den Kommatas gearbeitet werden! Deine Kritik und zukünftige Kritiken hätten dann in meinen Augen eine wesentlich größere "Autorität" und erheblich mehr Gewicht.

 

For what it's worth Similarion: Ich hab deine Kommentare mittlerweile eingearbeitet.
Gruß,
kayoschi

 

Hallo maria.meerhaba,

hier hab ich's mal wieder gemerkt: So ein feedback von einem Leser, den ich nicht überzeugen konnte, ist immer noch was Feines. Damit kann ich leben. Und ich seh ja, dass du dich mit meinem Text im Einzelnen auseinander gesetzt hast. Dank dir dafür. Nur ein leicht schlechtes Gewissen hab ich dann doch, dass du dich da durchquälen musstest:D. Das war so nicht im Sinne des Erfinders.
Deine Hinweise guck ich mir an. Da ist ja nichts in Stein gemeißelt.

Ja nun, ich schwaller halt gerne mal ein bisschen rum, um mal auf einen Kritikpunkt von dir weiter einzugehen, der mir auch an anderer Stelle angekreidet wird. Und ich seh auch relativ klar, dass die "Action" der Geschichte erst beim zweiten Absatz losgeht und der ganze Teil davor von etwas anderem lebt...wie gesagt, guck ich mir an.

Dank dir für deine Anmerkungen!

 

Hallo kayoschi,

hier mal ein Leseeindruck eines Neulings. :)

Ich muss zugeben, dass ich mich durch den Einleitungsteil relativ durchkämpfen musste, da einfach nicht viel passiert. Prolog hin und oder her, aber nach dem fünften mal habe ich verstanden, dass Vechta seinen Babuschka sehr gerne hat. Leider wird dabei auch keine spezielle Atmosphäre erzeugt. Im Beginnerteil hast du mich dreimal verloren. Dann bin ich weg mir einen Kaffee machen o.ä., weil ich einfach keine Lust mehr hatte und mich die Story nicht mitgerissen hat. Wäre es ein Buch gewesen, hätte ich es vermutlich nicht nochmal zur Hand genommen, tut mir leid.

Nachdem die Story ab der Hälfte etwas fahrt aufnimmt bessert sich dies allerdings. Aber als wir den Wolfskönig kennenlernen, kommen für mich an drei zentralen Stellen logische Ungereimtheiten auf.

Wie genau ist die Höhle des Wolfskönigs durch fur gleiche Magie geschützt (blaues Feuer) die Vechta bereits kennt, wenn er zu dieser Magie quasi kaum fähig ist?

Wenn der Wolfskönig immer an Neumond ein Kind aus dem Dorf holt und Vechta immer an Vollmond erwacht, dann liegen zu Vechtas Ankunft bei ihm seit dem letzten Raub ca. 14 Tage. Wie hat der Junge das im Käfig überlebt ohne Wasser und Brot? Und wieso wartet der Wolfskönig so lange den Jungen ans Feuer zu bringen? Wenn er das seit Neumond jeden Abend gemacht hat, dann würde ich wenigstens ein paar Kommentare zum Zustand des Jungen erwarten (schwach, kraftlos, etc.).

Woher wusste Babuschka vom Wolfskönig, wenn er offensichtlich nicht in die Anderwelt kommt?

Du hattest ja zu Beginn von unbeantworteten Fragen gesprochen. Vielleicht meintest du ja genau das :)
Ansonsten waren das meine Leseimpressionen.

Liebe Grüße
Brandon

 

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