- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 28
... dicker noch als Wasser ...
Eine kräftige Meeresbrise greift mit kühlender Hand nach der stickigen Schwüle, die wie zäher Schleim die Gassen der Stadt verklebt und der beginnenden Nacht den fiebrigen Geschmack einer abgestandenen, wimmelnden Brühe, einer Ausgeburt dieses immerzu gebärenden, sündigen Lebens gibt. Das letzte Tageslicht fließt als schwerer Wein vom Horizont an Ibrahim und Jussuf vorbei und legte seinen seidigen Glanz sanft über eine schlangenartige Lichterkette stockender Autos, die sich schuppig und raupenartig an den Fassaden der flachen Häuser vorbei zum schwarzen Schlund des Schatt el Arab wälzt. Beide blicken schweigend von ihrem Dach hinunter auf das lärmende Treiben inmitten dieses Farbenwunders und saugen abwechselnd leise und friedlich das Blubbern ihrer süßen Wasserpfeife in sich ein.
„Die Zeiten sind viel besser geworden, jetzt da es keine wahllosen Bombenattentate auf Unschuldige mehr gibt“, sinniert Jussuf und betrachtet dabei interessiert das geschäftige Treiben unter ihnen.
„Die Weisheit und Barmherzigkeit Allahs hat über die blinde Wut der Gottlosen und der falschen Propheten gesiegt“, pflichtet ihm Ibrahim bei. „Allahs Gerechtigkeit wird auch die Ungläubigen bezwingen.“
„Ja, Allah der Gütige ist das Wasser für die dürstenden Herzen der Gläubigen.“
Als nach einer Weile das Abendgold einem schüchternen Schleier dunklen Rots gewichen ist, nickt Jussuf Ibrahim zu und sagt:
„Es ist Zeit.“
Ibrahim erhebt sich und nimmt mechanisch seine H&K aus der Tasche. Er positioniert sie am Rande des Daches in Richtung Dunkelheit, mit der untergehenden Sonne im Rücken und fixiert sie auf dem praktischen Zweibein und dem frei verstellbaren Erddorn. Während er routiniert kurz alle Funktionen prüft und den unvermeidbaren Staub vom Okular bläst, greift Jussuf nach seinem goldbestickten Koran in der Brusttasche. Er nimmt ihn, küsst ihn und preist laut Allah:
„Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen. Alles Lob gebührt Allah, dem Herrn der Welten, dem Allerbarmer, dem Barmherzigen, dem Herrscher am Tage des Gerichts! Dir allein dienen wir, und Dich allein bitten wir um Hilfe. Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht den Weg derer, die Deinen Zorn erregt haben, und nicht den Weg der Irregehenden.“
Nach diesen Worten verharrt Jussuf minutenlang regungslos und andächtig mit geschlossenen Augen, den Körper ganz in schweigender Erwartung zum Himmel hin ausgerichtet. Ibrahim, nur drei Meter von ihm entfernt wagt es trotz des tosenden Lärmes unter ihnen kaum zu atmen, um den Moment der Offenbarung nicht zu stören.
Wie von Geisterhand geworfen fällt der Koran aus Jussufs offener Hand herab in dessen Schoß, er taumelt, torkelt und öffnet sich dabei, flattert wie ein goldgelber Schmetterling und schimmert wie honiggetränkte Flügel emsiger Bienen durch das Licht der letzten Sonne. Jussufs Rechte stößt wie ein hungriger Adler auf das sich entfaltende Buch herab, ist eins mit der Bewegung, folgt ihr und lenkt sie wie der Jäger seine Beute und landet schließlich auf einer der ersten Seiten dieses Buches. Mit noch geschlossenen Augen spricht er versteinert wie ein Orakel:
„Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben, denn die Verführung ist schlimmer als Töten. Und kämpft nicht gegen sie bei der heiligen Moschee, bis sie dort gegen euch kämpfen. Wenn sie aber gegen euch kämpfen, dann tötet sie. Solcherart ist der Lohn der Ungläubigen.“
Nach diesen Worten kommt langsam wieder Leben in Jussuf und sein Blick sucht im Zwielicht die Stelle im Buch, auf der sein Finger liegt. Zur Bestätigung nickt er Ibrahim zu um ihm zu sagen, dass sein Finger genau auf die gleiche Stelle im Koran gefallen ist, die er zitierte. Allah der Barmherzige, der gütigste aller Herrscher hat sich seinen treuen Dienern offenbart und ihnen seinen segensreichen Richterspruch aufgetragen.
Ibrahim kennt diesen Vers als Schriftbewahrer sehr gut. Er weiß, was nun zu tun ist: Er muss die 191te Person an der zweiten Kreuzung ausfindig machen, da Allah diesen Vers der zweiten Sure offenbart hatte um an ihr die Bestimmung zu erfüllen. Er beginnt die Passanten zu zählen wie Jussuf es ihn gelehrt hatte:
„Eins, zwei, zweieinhalb, dreieinhalb, ...“
„Nein, heute keine Frauen“, berichtigt ihn Jussuf.
„Drei, vier ...“
Indessen fragt Jussuf:
„Gibt es an dieser Kreuzung eine Moschee oder ein Bethaus?“
„Nein, 13, 14, ...“
„So hat Allah, der Edle und Barmherzige in seiner unermesslichen Güte wahrhaft weise und allwissend gesprochen.“
Ibrahim zählt hastig weiter, seine sunnitischen Augen wechselen von Männern zu Knaben, überspringen Frauen und Töchter, betrachten Kinder und Greise, wechseln hin und her zwischen ihren schiitischen Gesichtern, folgen ihrem verräterischen Glauben, aber lassen Gnade walten, ungeheuere Gnade für alle, alle bis auf den Einen, über den Allah heute Gericht zu halten beschlossen hat.
Jussuf dagegen legt ehrfurchtsvoll wieder seinen Koran zurück in die Tasche neben die gutverpackte Bibel, die er für seinen nächsten Auftrag in Nigeria benötigt, dann, wenn Ibrahim wieder zurück in Bagdad ist. Danach beginnt er in den weiten Taschen seines Kaftans nach dem Umschlag ihrer arabischen Gönner mit den weiteren Instruktionen zu suchen. Hier wie dort ist es das Öl, das zahlt und seine Sicherheit will. Nur der gläubige Ibrahim bemerkt davon nichts. Er ist ganz Auge und zählt gehorsam die lebenden Toten auf Gottes Erde.
„... 46, 47, ...“
„Gib' mir Bescheid, wenn Du ihn gefunden hast. Du weißt ja, wir brauchen ein Photo als Beleg für die Abrechnung.“
„... 61, ja, 62, ...“
Nachdem der Umschlag endlich gefunden ist und er die Nachricht kurz ueberflogen hat, beginnt er nach der japanischen Digitalkamera mit Nachtsichtmodus und Teleobjektiv zu kramen, die irgendwo zwischen den italienischen Designerklamotten für die vierte Frau seines heutigen Gastgebers und der Wodkaflasche stecken musste, die als Wasser der heiligen Zam-zam quelle getarnt war. Es dauert eine Weile, bis er sie zwischen all dem Kram gefunden hat, den er hier abliefern sollte. Mit der Kamera in der Hand stellt er sich schließlich neben Ibrahim und zoomt ebenfalls auf die Kreuzung.
„... 159, 160 ...“
Unaufhaltsam zählt Ibrahim wie der Sekundenzeiger einer Uhr. Die Menschen wimmeln wie in einem Ameisenhaufen durch die vielbelebten Straßen. Allahs Wege sind unergründlich: er weiß um alle Menschen. Das weiß auch Ibrahim: es ist sein Wille.
„... 189, 190, 191. Dort - der Mann mit dem dunklen Turban direkt unter der rechten Ampel. Er hat sich gerade umgedreht.“
„Ich sehe ihn. Ich brauche sein Gesicht. Nach dem Photo tötest Du ihn.“
Als sich der Mann an der Ampel umdreht, nimmt die Kammera wie ein vorausgeeilter Schatten seines Todes mit einem leisen Klicken sein Abbild in sich auf. Danach bleibt es still. Nichts geschieht.
Vorwurfsvoll zischt Jussuf Ibrahim zu: „Was ist? Wieso schießt Du nicht? Er steht alleine.“
„Ich ...“
„Schieß!“
„Ich ...“
„Schieß endlich!“
„Nein, ich ...“
„Du sollst schießen!“
Schweigen.
„Im Namen Allahs und der Propheten: Schick ihn in die Hölle!“
„Ich kann nicht!“
„Du kannst nicht? Du musst! Es ist Deine heilige Pflicht!“
„Nein!“
In der beginnenden Dunkelheit spürt Ibrahim deutlich das zornige Funkeln aus Jussufs Augen auf ihm brennen, die das Feuer seiner plötzlichen Angst verstärken.
„Was ist in Dich gefahren? Du sollst nicht widersprechen, du sollst tun, was Allah von Dir verlangt.“
„Aber ...“
„Nichts aber – schieß! Allah will es.“
„... aber ...“
„Schieß!“
„... es ist mein Bruder.“
Jussuf ist kurz wie vor den Kopf gestoßen, doch sofort beginnt er von Neuem:
„Dein Bruder? Nein, Du irrst. Das kann nicht sein. Dein Bruder lebt in Bagdad. Ich sage Dir: schieße!“
„Es ist aber mein Bruder.“
„Und ich sage Dir: Du irrst.“
„Ich sehe die Narbe an seiner Wange.“
Jussufs muss kurz Luft holen. Seine Worte wachsen zur Wut.
„Selbst wenn es Dein Bruder ist - Allah der Gerechte hat bestimmt, dass er sterben muss. Dein Bruder muss ein Verräter sein!“
„Nein, das kann nicht sein!“
„Es muss so sein! Wir befolgen Allahs direkte Weisung. Wir töten nicht wahllos unschuldige Menschen. Das haben wir noch nie getan. Allah der einzige, der wahre Gott hat gesprochen: Dein Bruder ist der Verräter!“
„Mein Bruder ist kein Verräter, er ist rechtgläubiger Muslim wie ich.“
„Allah ist allwissend, er ist erhaben und gerecht. Er spricht die Wahrheit, immer. Nur er kann wissen, wer ein Verräter ist und wer nicht!“
„Ja, aber ...“
Jussuf herrscht ihn an: „Schweig endlich du Kleingläubiger! Wie kannst Du es wagen, das Wort Allahs in Frage zu stellen? Hast Du nicht gesehen, wie oft er sich uns offenbarte? Nie hat er gefehlt! Auch heute nicht! Was zögerst Du noch?“
„... aber er hat sechs Kinder!“
„Sechs Seelen die es zu retten gilt!“
„Ich kann nicht, ich darf nicht. Er ist einer von uns.“
„Einer von uns? Dann sage mir doch, was er hier mitten unter unseren Feinden zu suchen hat?“
„Er ist Händler.“
„Er ist ein Verräter, sonst wäre er nicht hier. Siehst Du denn nicht ein, dass seine Anwesenheit das bereits beweist? Wie viele Zeichen braucht es noch?“
„Aber wenn ich mich geirrt habe, wenn ich falsch gezählt habe.“
„Wenn Allah Dich führt, kannst Du nicht in die Irre gehen Du kannst nicht falsch gezählt haben: Allah hat gezählt!“
„Aber er ist mein Bruder. Ich darf ihn nicht töten.“
Jussuf schreit ihn an: „Er ist der Verräter, Du musst ihn töten. Schweig endlich, Du Hund. Spürst Du nicht, wie der dreimal gesteinigte Satan nach Dir greift? Schieß!“
„Ich ...“
„Schieß!“, brüllt Jussuf, wobei er Ibrahim einen Tritt gibt.
„Ich ...“
„ D u ... s o l l s t ... s c h i e ß e n !“, donnert Jussuf wobei er bei jedem Wort Ibrahim mit aller Gewalt in dessen Seite tritt. Ibrahim krümmt sich kraftlos über seinem Gewehr und sein Schrei nach Leben bleibt dieses Mal aus. Er schweigt und Tränen treten in seine Augen, Tränen angefüllt mit Schmerz, voll Wut und Zorn, voll Sinnlosigkeit und Angst.
Außer sich greift Jussuf nach seiner Pistole und drückt sie Ibrahim ins Genick: „Wenn Du nicht schießt, dann töte ich euch beide.“
Es sind die Hände eines Bruders, die sich vergeblich um den Abzug krampfen, die hilflos nach der Lösung, nach der Antwort flehen, deren kalter Schweiß sich klamm wie Angst über das tödliche Metall des Gewehres legt; seine Hände, die sich an sein Leben klammern, ans Leben seines Bruders, die noch immer seine Umarmung spüren, seine warme Haut, seine Liebe und sein Leben.
Zwei Schüsse zerreißen das Schweigen über den Dächern und verhallen ungehört im Nichts. Sie klingen dunkel und hell, wie Erinnerung und Zukunft, wie Trauerglocke und Gericht zugleich. Sie klingen wie der Nachhall einer falsch verstandenen Hoffnung aus der Wüste, heute, hier in Basra.
Und morgen?
Der letzte Lichtstrahl fließt einsam noch vom Horizont in das Dunkel der Nacht, die heimlich aus den Ritzen, aus den Poren in die Straßen dringt. Und er ergießt sich über all das brausende Leben, das sündige Sein, das dürstende Land, ist dicker noch als Wasser, so schwer und rot, so rot wie Blut.