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Die Entfernung
Aoife gräbt. Den Mund hat sie mit einem Seidenschal bedeckt, ihre Hände sind geschwollen und voller Blasen. Ich sage, sie müsse aufhören, es seien zu viele. Darum geht es nicht, antwortet sie, weist mit der Schaufel zum Himmel. Wir sind Menschen, das dürfen wir nicht preisgeben. Ich nicke und denke, sie hat den Verstand verloren.
Die Krähen haben sich auf Bäume verzogen, die Fliegen lassen sich durch unsere Anwesenheit nicht stören. Ich ziehe den Tiger Balm aus der Hosentasche, streiche die milchige Paste in meine Nasenlöcher und sehe mich um. Der Park wirkt gepflegt. Vor mir kriecht eine Hummel aus einer Blüte, an ihren Beinen kleben gelbe Pollen. Das Insekt wäre ein ansprechendes Sujet.
Viele meiner Fotos habe ich retuschiert. Ich mochte es, störende Objekte aus dem Bild zu entfernen, den sauberen Hintergrund, die Befriedigung, die sich einstellt, wenn die Komposition auf einmal harmonisch wirkt. Die Hummel fliegt los, ich folge ihr zum nächsten Beet. Aoife hält inne und fragt, was ich mache. Ich sage: Vielleicht sind wir bloß überzählige Pixel. Sie kneift die Augen zusammen, schüttelt den Kopf, fragt, wie ich es schaffe, unnütz herumzustehen und Blödsinn von mir zu geben. Ich weiche ihrem Blick aus. Wir müssten gut zueinander sein, doch es gelingt uns nicht. Unbeirrt setzt sie fort, was sie als ihre Pflicht erachtet, sticht mit der Schaufel in ein Blumenbeet.
Wenigstens die Kinder, sagt sie jedes Mal, wenn wir anhalten. Ich könnte erwidern: Wo immer wir hinkommen, sieht es gleich aus. Ich könnte ihr vorrechnen: Dreißig Prozent aller Menschen sind unter achtzehn, das macht zweieinhalb Milliarden. Ich könnte sie anschreien: Am Ende steckst du dich mit irgendwas an. Stattdessen verlasse ich den Park, hole die Axt aus dem Wagen, überquere die Straße und schlage das Schaufenster eines Ladens ein, der geschlossen hatte, als es geschah. Keine Kunden, keine Leichen. Aus einem der oberen Stockwerke dringt Gebell. Ich finde ein Treppenhaus, steige die Stufen hoch. Der Hund hört meine Schritte, er kläfft noch lauter als zuvor, kratzt an der Tür, vor der ich stehen bleibe. Sie ist verschlossen, also schlage ich mit kräftigen Hieben ein Loch in das Holz und mache mich aus dem Staub. Gestern wollte mir ein Terrier, den ich befreit hatte, an die Kehle springen.
Mit einer Dose in der Hand setze ich mich ins Auto. Seit wir unterwegs sind, trinke ich nur noch Cola. Der Wagen ist brandneu und geräumig. Vier mal vier. Den Kindersitz wollte Aoife gleich dazu kaufen. So ein Ding im Wagen zu haben, macht es nicht wahrscheinlicher, schwanger zu werden, erwiderte ich, worauf wir uns eine Nacht lang stritten. Das ist drei Wochen her, es fühlt sich an, als wären es drei Jahre. Bevor wir losfuhren, nahmen wir den Sitz von der Rückbank, er ruht jetzt auf dem Parkplatz vor dem Haus, in dem wir wohnten.
Ich warte darauf, dass Aoife die Kräfte verlassen. Wie schaffe ich es, im Wagen zu sitzen und nichts zu tun? Ich reibe mir Tiger Balm unter die Nase. Zu Beginn hat man nichts gerochen, jetzt wird es jeden Tag schlimmer. Die Cola ist warm und klebrig. Nie wieder werde ich im Sommer ein gekühltes Getränk zu mir nehmen. Ich staune über die Oberflächlichkeit meiner Gedanken.
Warum wir noch am Leben sind, wissen wir nicht. Im Zorn hat Gott mit den Fingern geschnippt, uns zwei nicht im Blick gehabt. Als ich die Kollisionen hörte, stand ich in der Küche und schnitt Tomaten, Aoife zupfte im Garten Blätter vom Basilikum. Wir rannten auf die Straße, in der Ferne sahen wir Rauch aufsteigen. Auf dem Gehsteig kauerten zwei Männer. Wir gingen zu ihnen hin, fragten, ob sie wüssten, was geschehen sei, doch sie rührten sich nicht. Als ich den einen anfasste, kippte er zur Seite, schlug mit dem Schädel auf den Asphalt. Fragend blickte ich zu Aoife, doch sie hob bloß den Arm und schrie. Ich drehte mich um und sah, wie kaum zwei Kilometer von uns entfernt ein Flugzeug vom Himmel fiel.
Die ersten, die wir begruben, waren Aoifes Eltern. Sie saßen vor dem Fernseher, der noch immer lief, als wir die Wohnungstür aufbrachen. Friedlich sahen sie aus, entspannte Gesichter. Wir wickelten sie in Leintücher und bestatteten sie im Garten. Danach fuhren wir zu meiner Schwester, fanden die Wohnung leer vor. Vielleicht war sie joggen gewesen, vielleicht hatte sie sich mit Freunden getroffen oder einem Liebhaber. Es ist zwecklos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Viele Server stiegen schon nach Stunden aus, einige waren länger erreichbar. Wir suchten nach neuen Einträgen, nach Hinweisen oder Warnungen, hinterließen Nachrichten, wo immer wir Zugang fanden. Wenn ein Text von niemandem gelesen wird, ist es dann noch ein Text? Am zweiten Tag fiel der Strom aus, bald darauf fuhren wir los. Im Kofferraum liegen Gaskocher und Solarpanels, Wolldecken, ein Gummischlauch, um Benzin aus Tanks zu saugen. Auf der Rückbank stapeln sich Medikamente und Verbandszeug für den Notfall. Manchmal müssen wir Umwege nehmen, weil ineinander verkeilte Wagen die Straße blockieren. Städte meiden wir, auch wenn dort die Chance am größten wäre, jemanden anzutreffen. Unser Ziel ist die Türkei und danach Afrika, Kenia vielleicht, wo es warm und die Entfernung zu Atomkraftwerken maximal ist. Die meisten werden sich abschalten, doch es wird auch zu Kernschmelzen kommen. Ob sich unsere Strategie auszahlen wird, kann ich nicht sagen, aber wir müssen es versuchen. Kenia – die zwei Silben haben einen tröstlichen Klang. Wir kämen deutlich schneller voran, gäbe Aoife etwas von ihrer Menschlichkeit preis.
Sie schiebt die Schaufel unter die Rückbank und setzt sich ans Steuer. Ich träufle Desinfektionsmittel über ihre zerschundenen Hände, was sie mit einem zischenden Laut quittiert. Es wäre eine Sache von fünf Minuten, sich Handschuhe zu besorgen, aber davon will sie nichts wissen. Lass mich fahren, sage ich und wir tauschen die Plätze. Als ich den Motor starte, erfasst sie ein Heulkrampf. Wenn sie nicht handeln kann, überwältigt sie der Schrecken. Sie zittert am ganzen Körper. Ich lege eine Hand auf ihr Knie, sie greift danach und drückt so fest zu, dass es schmerzt. Wir müssen weitermachen, sage ich. Sie blickt aus dem Seitenfenster, schluchzend fragt sie: Wozu?
Wir fahren einen langen Umweg, weil eine Brücke mit Autos verstellt ist und es kein Durchkommen gibt. Für eine Weile beschäftigt mich die Frage, wie wir über die Dardanellen oder den Bosporus gelangen sollen, falls wir es überhaupt bis dorthin schaffen. Ich behalte sie für mich.
Die Dämmerung setzt ein, draußen wird es kühl. Die letzte Nacht haben wir im Freien verbracht, weitab von jeder Siedlung. Dieses Mal finden wir ein leerstehendes Ferienhaus. Wir verschaffen uns Zutritt, duschen, beziehen das Doppelbett im oberen Schlafzimmer und legen uns auf die Matratze. Sie ist hart und bequem, die Leinen riechen nach Frühling und Blumen. Wir schlafen innerhalb von Sekunden ein. Ich träume von kläffenden Hunden und den Leichen im Park, bis der Hunger mich weckt. Mit der Taschenlampe in der Hand gehe ich hinunter in die Küche, wo wir unsere Vorräte gelagert haben. Ich öffne eine Dose Ananas, schiebe mir die Ringe in den Mund und trinke den Saft. Ich befürchte, dass ich den Leichengeruch niemals wieder aus meiner Nase bekomme, und halte inne. Bilde ich mir den Gestank wirklich nur ein? Leise öffne ich eine Tür, die in den Keller führt, sehe im Schein der Taschenlampe eine Gestalt unten an der Treppe liegen. Ich ziehe die Tür wieder zu, schließe ab und verstecke den Schlüssel unter einem Sofakissen. Was hat dieser Mensch im Keller gemacht? Hier oben gibt es keinen Hinweis auf seine Anwesenheit.
Als ich am nächsten Morgen erwache, wähne ich mich für einen Augenblick in meinem alten Leben. Draußen höre ich Vögel zwitschern, Blaumeisen und einen Zilpzalp. Aoife dreht sich zu mir, leise seufzend. Die Augen noch immer geschlossen, schiebt sie ihren Fuß zwischen meine Beine. Ich lasse es geschehen, es fühlt sich gut an. Die letzten Tage haben uns voneinander entfernt, auch wenn wir jede Minute gemeinsam verbracht haben. Es ist wichtig, dass wir wieder zueinander finden.
Sie fragt, wie es mir geht.
Gut.
Schön, sagt sie und legt die Hand auf meine Brust. Mir auch. Ihre Finger gleiten über meinen Bauch, kreisen um den Nabel. Sie küsst meinen Hals. Hast du Lust?
Ja, sage ich. Die Kondome liegen im Auto.
Kondome? Sie zieht die Hand zurück.
Ich habe welche eingesteckt. Vorgestern in der Apotheke.
Daran hast du gedacht?
Ja, habe ich.
Warum?
Warum wohl?
Wir müssen weitermachen. Deine Worte.
Und wie stellst du dir das vor?
Das kriegen wir hin. Wir müssen es riskieren. Wenn es noch andere gibt …
Und wenn nicht?
Dann ist es eben so.
Das können wir einem Kind nicht antun.
Was nicht antun? Ihm das Leben schenken? Dass wir überlebt haben, hat einen Sinn. Bestimmt gibt es noch andere. Ich spüre es. Ich weiß es. Es muss weitergehen.
Ich steige aus dem Bett und ziehe mich an. Lass uns abwarten, sage ich. Aoifes Irrationalität setzt mir zu, ich fühle mich weit weg von ihr.
Die Sonne scheint durch einen Schleier aus Wolken. Der Weg ist frei, nur ab und zu ein Wagen, der von der Straße abgekommen ist. Aoife fährt schnell, als wäre ihr auf einmal bewusst geworden, dass wir keine Zeit zu verlieren haben. Wir reden wenig. Ich vermeide es, über die Vergangenheit zu sprechen, da ich nicht weiß, wie sie reagiert. Über die Zukunft zu sprechen, erscheint mir noch weniger angebracht.
An einem Berghang sehen wir ein ziegelrotes Gebäude stehen, die Ventilatoren, die in die Außenwände eingelassen sind, weisen darauf hin, dass es sich um einen Schweinestall handelt. Aoife bremst ab, ich sehe sie an und sie nickt. Noch bevor wir aussteigen, hören wir das Geschrei der Tiere. Wir schlagen die Schlösser von den Türen, sperren sie auf, öffnen die Buchten. Wir ersparen es uns, genauer hinzuschauen, steigen sogleich wieder in den Wagen. Keine Ahnung, ob die Schweine eine Chance haben, aber wenn sie sterben müssen, dann wenigstens in Freiheit.
Dass wir überlebt haben, hat einen Sinn, sagt Aoife, als wir weiterfahren. Wir müssen es versuchen. Je schneller, desto besser.
Es wäre nicht vernünftig, antworte ich. Das ist bloß dein Überlebensinstinkt.
Bullshit! Sie tritt aufs Gas und für einen Moment befürchte ich, dass sie unseren Disput beendet, indem sie gegen einen Baum fährt. Projiziere ich meinen eigenen Wunsch?
Wir haben die Plätze getauscht und ich fahre. Wir erreichen ein größeres Dorf, das auf einem Hügel liegt. Aus dem Kühlschrank eines Kiosks holen wir Wasser und eine Cola. Ich steige wieder in den Wagen, doch Aoife bleibt vor einer Buchhandlung stehen, starrt durchs Schaufenster in den Laden. Ich vermute, dass sie die Leichen von Kindern sieht, doch als ich mich neben sie stelle, sind da nur Bücher. Stilvoll Wohnen. Kochen mit Ayurveda. Gärten gestalten. Etwas weiter hinten Klassiker der Weltliteratur, zwölf Bände, hundertfünfzig Euro. Aoife laufen die Tränen übers Gesicht. Ich greife nach ihrer Hand, doch sie stößt mich weg. Es hat keinen Sinn, sagt sie, ich will nach Hause. Sie setzt sich auf den Gehsteig wie ein trotziges Kind. Aoife!, sage ich, doch sie zeigt keine Reaktion. Ich beschließe, ihr etwas Zeit zu geben.
Ich gehe zwischen den Häusern hindurch, gelange zu einem Aussichtspunkt. Unter mir mäandert ein Fluss durch die grüne Landschaft. Wenn ich den Bildausschnitt richtig wähle, ist keine Spur von Zivilisation zu sehen, kein Haus, keine Straße. Es sieht friedlich und harmonisch aus. Eine Katze kommt vorbei, streicht mir um die Beine, reibt ihren Kopf an meinem Schuh. Nun kommen auch mir die Tränen, das erste Mal, seit es geschehen ist. Ich lasse die Colabüchse auf den Boden fallen und gehe zurück zum Auto. Aoife steht neben der Vordertür und lächelt schwach. Ich sage: Okay.