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- 19.02.2006
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Die Ewige Blüte
Bruder Dominkus trat aus dem Schatten des Klosters in den frühen Morgen hinaus. Gemessenen Schrittes wandelte er durch die Gartenschreine, die Augen halb geschlossen, mit einem seligen Lächeln im Gesicht. Bruder Dominkus liebte die sanfte Morgensonne. Er empfand die wärmenden Strahlen wie Liebkosungen des Unendlichen. In Momenten wie diesen fühlte er sich ganz leicht und die Erleuchtung schien ihm nicht mehr fern. Er atmete tief ein, schwebte beinahe über den Boden.
Die Gartenschreine der anderen Mönche waren noch wie stets um diese frühe Zeit verwaist. Die offizielle Morgenstunde läutete erst in einem Sonnenbreit.
Lediglich eine Gartenanlage war schon besetzt. Bruder Darshan war immer der Erste, der sich der Meditation widmete und er war der Letzte, der seinen Kraftort verließ.
Die mächtige Gestalt Bruder Darshans kniete in seinem Areal und bearbeitete mit zärtlicher Sorgfalt neue Sprösslinge. Es faszinierte Dominkus immer wieder, dem Neuling bei seiner Arbeit zuzusehen. Mit einer Andacht, die man einem Menschen seiner Statur nicht zugetraut hätte, brachte er die Saat unter seinen erstaunlich sanften Händen zum Blühen.
„Einen wunderschönen guten Morgen, Bruder“, grüßte Dominkus. „Möge der Unendliche dir Erleuchtung gewähren.“
Wie stets erreichte ihn die Antwort auf seinen Gruß in Form eines Lächelns. Darshan sprach nicht viel, doch das war hier nicht unüblich.
Die Vergangenheit hatte für den Orden nur insoweit Bedeutung, wie sie den Augenblick beeinflusste. Keiner der Mönche wusste mehr über seine Brüder, als diese bereit waren von sich preiszugeben. Aber Dominkus war ein sehr sensibler Beobachter. Er las in den meisten Menschen wie in einem offenen Buch. Und so erfreute ihn das stumme Lächeln Darshans stets aufs Neue.
Denn er nahm mehr als das Lächeln wahr. Die Augen gereichten ihm als Fenster zur Seele, und durch diese sah er, wie die innere Blüte Darshans mit jedem Tag mehr an Kraft gewann.
Dominkus machte das segnende Zeichen und begab sich in seinen eigenen Gartenschrein, der nicht unweit von dem des Neulings angesiedelt war.
Wie er es sich angewöhnt hatte, ließ er seinen Gedanken für eine angemessene Zeitspanne ihren Lauf, bevor er sich der Meditation widmete. Auf diese Art machte er sich sein Gemüt nicht zum Feind. Wenn er seinen Gedanken ihren Raum zugestand, gestanden sie ihm auch den Bereich zu, an dem sie ihn in Ruhe ließen.
So kniete Dominkus sich in sein duftendes Beet und beobachtete seine Gedanken. Er war nicht erstaunt, dass sie sich maßgeblich um den Zustand der Welt drehten, und dass Darshan einen nicht unwesentlichen Platz darin einnahm.
Der Wind der Zeit wehte einen neuen Duft ins Land. Die Dinge änderten sich. Obwohl der Orden der Ewigen Blüte jeden Menschen aufnahm, der sich den Regeln der Bruderschaft unterwarf, fand der Tempel nur wenig Zuwachs.
Das Kloster schien bereits jetzt ein Relikt zu sein, das in der kommenden Weltordnung keinen Platz mehr hatte. Nur noch wenige Menschen sahen Sinn darin, den Reizen der Welt zu entsagen und sich einem Leben in asketischer Meditation zu widmen. Niemals waren die Möglichkeiten der Welt größer; der Fortschritt lockte die Menschen scharenweise in die expandierenden, lärmenden Städte. Die voranschreitende Technik gebar nie geahnte Wunder. Man sprach von gigantischen Maschinen, die zu Arbeiten in der Lage waren, die das Potential des Menschen weit überschatteten.
Für Bruder Dominkus hatte es den Anschein, als produzierten jene Maschinen die wildesten Träume und Hoffnungen in den Menschen. Es wirkte beinahe so, als habe der Fortschritt die Menschen im Griff und nicht umgekehrt.
Dominkus schmunzelte bei diesem Gedanken. Hielt er sich für etwas Besseres, weil er das sich anbahnende Drama der Welt durchschaute? Er lauschte in sich hinein, fand dort Frieden. Hochmut kam vor dem Fall, ermahnte er sich selbst liebevoll.
Die Welt ertrank förmlich im Hochmut. Die Menschen glaubten, sich dank des Fortschritts über alles erheben zu können, glaubten sich als Bezwinger der Erde. Dabei ließen sie völlig außer Acht, dass sie mit jedem Fortschritt zwar tatsächlich einen weiten Schritt machten, dieser sie jedoch in die falsche Richtung trieb - nämlich fort von sich selbst. Die Menschen richteten all ihre Energien nach außen und ließen das Innere, die Essenz des Lebens, verkümmern. Es schmerzte Bruder Dominkus mit ansehen zu müssen, wie all den Blüten in den Herzen der Menschen das Licht entzogen wurde. Entzogen aus eigenem, verblendetem Antrieb.
Wahrscheinlich faszinierte ihn deswegen auch Bruder Darshan so sehr. Dominkus spürte deutlich, dass Darshan mit der Welt außerhalb des Klosters abgeschlossen hatte.
Zumindest in einem Maße, welches das Niveau vieler Mönche, die das Kloster schon weitaus länger ihr Zuhause nannten, übertraf. Viele Mönche versteckten sich nur in ihren Gärten vor der Welt, vor ihren Anforderungen und Gefahren – aber sie hatten noch lange nicht mit ihr abgeschlossen.
Bei Bruder Darshan war das anders. Dominkus las es in dessen Augen, in seiner Art sich zu bewegen, seiner demütigen Hingabe an die Meditation. Bruder Darshan hatte die Welt mit vollem Einsatz ausgekostet, hatte ihr angstlos getrotzt und ihre stürmischsten Gipfel erklommen. Aber er hatte auf den Gipfeln nur gähnende Leere gefunden.
Und deswegen war er hier. Er hatte erfahren, dass die äußere Welt keine Erfüllung barg, dass alles dem Gesetz der Vergänglichkeit unterlag – und nur die Reise nach Innen dauerhafte Erfüllung bringen konnte. Er hatte den Ruf des Unendlichen vernommen.
So wie es auch ihm, Dominkus, eines Tages ergangen war.
Bruder Dominkus trennte sich von seinen Gedanken, konzentrierte sich ganz auf die beruhigende Schwingung seines Kraftortes. Mit jedem Atemzug nahm er mehr des ihn umgebenden Friedens auf. Hauch um Hauch versetzte er sich in einen Zustand gelöster Entspannung. Er spürte, wie sich seine Seele, der ewige Funken des Unendlichen in ihm, an diesem Frieden erlabte. Einer leuchtenden Blüte gleich, strebte seine Seele zur Sonne.
Doch plötzlich durchdrang eine störende Schwingung den Frieden. Dominkus’ Konzentration geriet ins Wanken und er war wieder fleischlicher Körper. Alarmiert schlug er die Augen auf.
Bruder Darshan nannte er sich jetzt, und es sollte sein letzter Name sein.
Namen waren für ihn noch nie von Belang gewesen. Namen waren wie Kleidungsstücke, die man sich anlegte, auf die jeweilige Begebenheit zugeschneidert. In seinem abenteuerlichen Leben hatte er sich mit unzähligen Namen geschmückt und war mit den schmeichelhaftesten und fragwürdigsten Titeln überhäuft worden.
Eine lange Zeit hatte er das genossen, aber irgendwann war der Zauber verflogen. Es begann mit einem nagenden Gefühl der Unruhe und wuchs zu einer bedrohlichen Leere in seinem Innern.
In dem Maße wie sein Ruf Unsterblichkeit erlangte, starb die Freude am Leben in ihm ab.
Eines Morgens war er mit dem Gefühl aufgewacht, als wäre er einem Jahre währenden Rausch entstiegen. Er sah mit einem Mal ganz deutlich, dass er so nicht weitermachen konnte. Er hatte alles erreicht, was es zu erreichen gab – und verspürte doch keine Befriedigung. Plötzlich erschien ihm sein gesamtes Leben lächerlich, denn er erkannte, dass er die ganze Zeit vor sich selbst geflohen war.
So nahm er Abschied vom Jagen anderer und begann sich selbst zu suchen. Sein beschwerlicher Weg hatte ihn schließlich zum Orden der Ewigen Blüte geführt und hier wollte er für immer verweilen.
Es war, als wäre er nach hause gekommen.
Darshan gefielen die Ansichten des Ordens. Das Bild der Ewigen Blüte, die in jedem Menschen schlummerte und nur darauf wartete, genährt zu werden, war natürlich nur ein Gleichnis, aber für ihn war es von tiefer Bedeutsamkeit. Ein lebendiges Bild, das erfahrbar wurde.
Indem man als Mönch seine eigenen Pflanzen groß zog, erfuhr man die Bedeutung des Lebens. Man ermöglichte Leben, ließ es mit eigener Kraft entstehen. Und das aktivierte den Kontakt zur persönlichen inneren Blüte. Jeder Gartenschrein spiegelte praktisch die innere Blüte des Mönches wider, der ihn pflegte. Wie außen so innen. Ein universelles Gesetz.
Für Darshan, dessen Berufung darin gelegen hatte, das Leben anderer auszulöschen, war diese Erfahrung wie eine zweite Geburt.
In den vier Monaten, die er hier im Kloster verbracht hatte, war er sich selbst näher gekommen als je zuvor. Mit jedem Tag spürte er seine Seele sich weiten. Seine Blüte entfaltete sich und er fühlte, dass er bald schon ganz in ihr aufgehen würde.
Sein Beet gedieh mit einer Kraft, die über jede Erklärung hinausging.
Darshan hielt in seiner Arbeit inne. Er spürte eine fremde Präsenz. Jemand näherte sich. Und es war kein Mönch.
Noch ehe Darshan seinen Blick hob, wusste er, was ihm bevor stand.
Er hatte den jungen Mann noch nie zuvor gesehen. Aber es war auch nicht wichtig wer er war, sondern was er war. Seinesgleichen erkannte sich.
Die Gestalt war in eine leichte Lederrüstung gekleidet, nachtschwarz gebar sie einen unheilsverkündenen Kontrast zum blühenden Morgen.
Die Griffe zweier Schwerter lugten über breite Schultern, ein Gürtel mit Messern überzog quer die stolze Brust des Mannes. Das einstmals hübsche Gesicht wurde von zahlreichen Narben verunziert. Kalte, wachsame Augen, blitzten in überheblicher Manie.
Zu einer anderen Zeit, hätte Darshan vermutlich schmunzeln müssen. Was sich ihm hier bot, war ein Spiegelbild seiner Selbst. In seiner Anfangszeit musste er das gleiche Furcht einflößende, arrogante Auftreten gehabt haben.
Das blieb im jugendlichen Hochmut vermutlich nicht vermeidbar, wenn man erkannte, wie gut man war. Und dieser Junge war unleugbar gut. Er musste ihn dafür nicht erst kämpfen sehen. Darshan las es an dessen Körpersprache ab. Und er wusste auch, was ihn antrieb, was ihn hierher geführt hatte.
Er war gut, doch er wollte der Beste sein. Aber um der Erste sein zu können, musste man die alte Nummer Eins besiegen. Das war ein ungeschriebenes Gesetz unter Kopfjägern.
„Du weißt, weswegen ich gekommen bin“, rief ihn der Fremde an. Drei Schritte vor ihm blieb er stehen, die Beine leicht gespreizt, kampfbereit.
Ja, das wusste er. Und es schreckte ihn nicht einmal. Es stimmte ihn etwas traurig, dass es so enden musste, so kurz davor. Aber er bedauerte sich nicht. In ihm wogte Dankbarkeit, dass er überhaupt so weit gekommen war. Er atmete tief ein, spürte das Leben seines Kraftortes, die Harmonie des Unendlichen. Er war bereit.
Gelassen erwiderte er den Blick des Herausforderers.
„Tu, wozu du gekommen bist.“
„Du wirst mich nicht um meinen Sieg betrügen – heb auf!“ Mit diesen Worten schleuderte ihm der Kopfjäger eines seiner Schwerter hin.
Wut loderte in Darshan auf, als die Klinge sich unmittelbar vor ihm in sein Beet bohrte und dabei einige Pflanzen enthauptete.
„Ich habe geschworen nie wieder eine Waffe anzurühren“, presste er mühsam hervor. Mit einem Mal war der Frieden in ihm wie weggeblasen.
„Wie bedauerlich“, spottete der Kopfjäger. Vorsichtigen Schrittes kam er näher.
Darshan schloss die Augen, suchte die Blüte. Seine Hände krallten sich dabei in die Erde. Er würde seinen Schwur nicht brechen, aber er wollte nicht sterben, ohne im Kontakt mit dem Unendlichen zu sein. Er atmete zwanghaft ruhig, versuchte die Wut zu löschen, die seine Blüte verzehrte.
"Dafür entsagst du allem?", höhnte der Kopfjäger. „Ruhm, Geld, Macht – für ein bisschen Unkraut?“
Darshan konnte beinahe körperlich fühlen, wie die Stiefel des Fremden sein Beet zermalmten. Es fühlte sich an, als bohrte sich der Absatz in seine Seele. Alles, was er so mühsam erarbeitet hatte, schien plötzlich in Flammen zu stehen. Flammen der Wut. Er öffnete zitternd die Augen.
„Das hättest du nicht tun sollen.“
„Ach nein?“
Voller Entsetzen musste Darshan mit ansehen, wie der Kopfjäger das Beet von Bruder Dominkus zerstörte. Dominkus sah dem Treiben des Mannes geduldig zu. Er hatte absolute Gewaltlosigkeit geschworen und würde seine Hand nicht einmal erheben, um sein eigenes Leben zu retten.
Darshan ertrug es nicht länger. Es war, als hätte der Kopfjäger mit seinem Zerstörungswerk die Ewige Blüte aus seinem Herzen gerissen.
Als Darshan sich erhob, ließ der Kopfjäger von dem Beet ab. Mit einer lässigen Bewegung zog er sein verbliebenes Schwert aus der Rückenscheide. „Du hattest deine Zeit, aber jetzt hat die Welt keinen Platz mehr für dich!“
Ein gehässiges Grinsen im Gesicht, tänzelte er auf Darshan zu. „Keine Sorge, gleich liegst du in der Erde neben deinen geliebten Pflänzchen.“
In einem anderen Leben war Bruder Dominkus auch einmal ein Krieger gewesen. Doch das, was sich jetzt vor seinen Augen abspielte, übertraf alles, was er jemals gesehen hatte. Und dabei war es nicht einmal ein wirklicher Kampf. Ehe die Auseinandersetzung überhaupt begonnen hatte, war sie schon beendet.
Bruder Darshan bewegte sich so schnell, dass er vor den Augen verschwamm. Bevor der höhnende Herausforderer überhaupt begriff wie ihm geschah, lag er schon tot mit eingeschmettertem Kehlkopf auf dem Rücken. Dominkus machte das segnende Zeichen. Hochmut kam vor dem Fall.
Dann kniete er neben Bruder Darshan nieder. Dominkus wusste, dass es für ihn ein Leichtes gewesen wäre, der Klinge des Kopfjägers zu entgehen, wenn er es gewollt hätte.
Er bettete den Kopf des sterbenden Mönchs auf seine Knie.
„Es tut mir leid, das Kloster entehrt zu haben“, hauchte der Todgeweihte.
Dominkus schüttelte sanft den Kopf. „Was geschieht und was nicht geschieht, entscheidet der Unendliche allein.“
„Meine Blüte ist verwelkt. Ich fühle nur Leere in mir. Ich habe Seine Prüfung nicht bestanden.“
Es war fast zu viel für Dominkus in die gebrochenen Augen Darshans zu blicken. Dort, wo zuvor die Kraft der Erkenntnis geleuchtet hatte, herrschte nun vollkommene Verzweiflung.
„Doch, das hast du. Sieh nur!“
Zärtlich wendete Dominkus den Kopf des Sterbenden so, dass er seinen zerstörten Kraftort erblicken konnte.
Wie durch ein Wunder reckte sich eine lavendelfarbene Blüte aus dem zertrampelten Beet. Einem Pfeil gleich, zeigte sie in den klaren Himmel.
Als Dominkus kurze Zeit später die Augen des Toten schloss, tat er dies mit einem beruhigten Lächeln.