Was ist neu

Die feuerfeste Kerze

Seniors
Beitritt
03.07.2004
Beiträge
1.585

Die feuerfeste Kerze

Der Adventskranz war aus Tannenzweigen gebunden und trug keinen weiteren Schmuck, nur vier dicke rote Kerzen. Am 1. Advent wurde die erste Kerze entzündet und die Familie versammelte sich um den Adventskranz. Fünf Kinder, Mama, Papa, Tante Gertrud, Oma, Omi, Opa und Hildegard, das Kindermädchen. Die Augen strahlten im Licht der Kerze und jeder hatte etwas Wichtiges zu sagen und verlangte manchmal recht eindringlich die volle Aufmerksamkeit aller anderen, bis Opa donnerte: „Jetzt werden wir erst einmal abzählen!“
„Warum?“, fragte Bernd, mit fünf Jahren der Jüngste am Tisch.
Opa legte zwei Würfel auf den Tisch. „Weil ich würfeln werde und wessen Zahl auf dem Tisch liegt, darf fünf Minuten lang reden. Und alle anderen müssen schweigen. Und wer einmal gewonnen hat, scheidet aus.“
Es wurde ein sehr vergnüglicher Nachmittag. Der zwölfjährige Andreas, der ungern redete, verschenkte seine Zeit an seine Schwester Lotti. und als sie dann als vorletzte gewürfelt wurde, redete sie ohne Stocken zehn Minuten lang. Es war ziemlich gemein, dass ihre ältere Schwester Christina ihr dann den Mund zuhielt. Sehr vorsichtig, denn sie wollte nicht noch einmal gebissen werden.
Opa war der letzte Redner und er stellte lediglich fest: „Das war doch sehr schön und auch fröhlich. Und jetzt wollen wir das Abendessen vorbereiten.“
Mama löschte die Adventskerze und alle trabten aus der Wohnstube in die Küche oder das Esszimmer. Die vierte Kerze schaute sich in der Dunkelheit um und dachte: ‚Das ist ja eigenartig. Die Eins sieht kleiner aus als heute Morgen.‘
Am Nachmittag versammelte sich die Familie zum Kaffeetrinken in der Wohnstube. Nicht alle waren immer dabei, aber jedes Mal wurde die Adventskerze angezündet und der große Leuchter über dem Tisch ausgeschaltet. Jeden Tag stellte die Vier fest, dass die Eins immer kleiner wurde. Als dann am 2. Advent alle Familienmitglieder um den riesigen runden Tisch saßen und die gewaltige Obsttorte ein genussvolles Kaffeetrinken verhieß, wurde die Zwei gegenüber der Eins auch noch entzündet und brannte zusammen mit der Eins langsam herunter. Da fasste die Vier einen Entschluss: ‚Da mache ich nicht mit, Ich lasse mich nicht einfach benutzen. Ich finde mich so vollständig, wie ich bin, ganz richtig. Ich werde mich nicht anstecken und verbrennen lassen.‘
Die Vier verbrachte also die kommenden zwei Wochen damit, ihren Docht mit feuerfesten Stoffen, die sie aus den Tannenzweigen saugte, zu imprägnieren. Das erschien ihr am sinnvollsten. Sie hätte ja auch den Docht einziehen können. ‚Aber dann kommt bestimmt jemand auf die Idee mit einer spitzen Schere an meinem Kopf zu graben und meine schöne Gestalt zu zerstören.‘
Schließlich kam er, der vierte Advent. Christina, die Älteste, durfte zusehen, wie die anderen Kinder jeweils eine Kerzen anzündeten. Schließlich war die Vier an der Reihe. Ein Streichholz näherte sich ihrem Docht und sie bangte ein wenig: ‚Hoffentlich haben meine Anstrengungen Erfolg.‘
Das Streichholz brannte aus, aber der Docht war so weiß wie zuvor. Drei weitere Streichhölzer waren nicht erfolgreicher und die Vier beglückwünschte sich schon zu ihrer guten Idee: „Ich werde nicht vergehen und zu einem kleinen Licht werden, das gleich wieder verschwunden ist.“
„Licht verschwindet nicht:“, antwortete eine tiefe Stimme. Die Vier war ja schon rot, aber sie war sehr erschrocken: ‚Wieso hat mich Opa gehört?‘
„Was meinst Du damit: Licht verschwindet nicht?“, fragte Helmut. Er ging in die neunte Klasse der Gesamtschule, war recht wissbegierig und Opa als ehemaliger Naturkundelehrer konnte und mochte viele Fragen beantworten.
„Nun, nimm mal eine Taschenlampe nach draußen in die Dunkelheit und schalte sie kurz ein. Was passiert dann?“
„Man sieht einen Lichtstrahl, der wieder verschwindet, wenn man die Lampe ausknipst.“
„Überall auf der Welt gibt es große Teleskope, mit denen ferne Sterne und Galaxien beobachtet werden. Eine Galaxie, die gut zu sehen ist, ist der Andromedanebel. Er ist uns so nahe, dass man ihn in klaren Nächten sogar mit bloßem Auge sehen kann.“
„Also ungefähr tausend Kilometer weit?“, krähte Bernd.
Opa lachte. „Zweieinhalb Millionen Lichtjahre. Das ist in Kilometern eine viel zu große Zahl. Aber das wichtige ist ja: Der Lichtpunkt, denn man am Himmel sieht, der ist zweieinhalb Millionen Jahre alt.“
Es war ganz still um den Tisch. „Also wird in zweieinhalb Millionen Jahren ein Forscher in der Andromeda Galaxie unseren Adventskranz leuchten sehen?“
„Auf jeden Fall wird das Licht unseres Adventskranzes durch das Weltall reisen. Immer weiter ohne schwächer zu werden. Und alle anderen Lichter ebenso. Bis eines Tages die ganze Welt voller Licht ist.“
„Ich möchte leuchten!“, piepste die Vier.
Christina riss ein Streichholz an und hielt es an den weißen Docht. Und es wurde Licht.

 

Diese Geschichte ist aus der Geschichte Die-Ohne-Mich-Kerze und den Kommentaren dazu entstanden. Da sie mit der ursprünglichen Geschichte nur noch wenig Gemeinsames hat, habe ich mich zu einer Neuveröffentlichung entschieden.

Jobär

 

Hola Jobär,

eine wirklich schöne Geschichte hast Du da geschrieben! Hat mir gut gefallen, von Anfang bis Ende.
Guten Humor hast Du eingearbeitet und auch etwas sympathisches Oberlehrertum:

Opa lachte. „Zweieinhalb Millionen Lichtjahre. Das ist in Kilometern eine viel zu große Zahl. Aber das wichtige ist ja: Der Lichtpunkt, denn man am Himmel sieht, der ist zweieinhalb Millionen Jahre alt.“
Ich hätte auch gern einen gebildeten Großvater gehabt:).
Und dann wird’s noch berührend-philosophisch:

„Auf jeden Fall wird das Licht unseres Adventskranzes durch das Weltall reisen. Immer weiter ohne schwächer zu werden. Und alle anderen Lichter ebenso. Bis eines Tages die ganze Welt voller Licht ist.“

Das ist die Weihnachtsbotschaft. Und das ist eine prima Geschichte!

Sei herzlich gegrüßt
José

 

Hallo josefelipe,

ich danke Dir von Herzen für Deine Kritik. Ich war mir nicht sicher, aber bei Dir ist die Geschichte so angekommen, wie ich es mir gewünscht hatte.

Liebe Grüße

Jobär

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Jobär,

obwohl ich kein Fan von Weihnachten oder Weihnachtsgeschichten bin, hat mir Deine Geschichte gut gefallen. Besonders sympathisch fand ich das Bild der Kerze, die nicht sterben will. Also, alles Klasse.

Was mich ein bisschen ins Grübeln gebracht hat, war folgende Aussage:

„Licht verschwindet nicht:“, antwortete eine tiefe Stimme ... „Was meinst Du damit: Licht verschwindet nicht?“, fragte Helmut ... „Auf jeden Fall wird das Licht unseres Adventskranzes durch das Weltall reisen. Immer weiter ohne schwächer zu werden. Und alle anderen Lichter ebenso. Bis eines Tages die ganze Welt voller Licht ist.“

Es geht mir dabei um zwei Punkte:

1) Licht nimmt mit dem Quadrat der Entfernung ab

Obwohl ein Photon nicht altert, weil es masselos ist, "verdünnt" sich Licht, wenn es durch das Universum strahlt. (In letzter Zeit wird auch viel über sterbliche Photonen, also Photonenzerfall geredet, aber das ist eine andere Sache.) Insofern ist die Behauptung, Licht würde nicht schwächer werden, für mich etwas missverständlich.

2) Das Ende des Universums in Dunkelheit

Ist natürlich Spekulation, aber bislang kenne ich nur Theorien, die ein Ende in Dunkelheit beschreiben. Dass eines Tages "die ganze Welt voller Licht ist" habe ich so noch nicht gehört.

Nun kann es sein, dass Du das einfach als ein schönes Bild entwickelt hast, also das niemals schwächer werdende Licht und das am Ende leuchtende Universum. Aber vielleicht hast Du auch naturwissenschaftliche Gedanken im Hinterkopf. Falls ja, würde ich gern mehr dazu wissen.

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus,

danke für Deine Kritik. Opa wollte nicht zu oberlehrerhaft sein, deshalb hat er vieles unausgesprochen belassen. Das Licht einer Adventskranzkerze könnte man sich als eine feste Anzahl von Lichtpunkten, die in einem bestimmten Zeitpunkt entstehen, vorstellen (Punkte sind ja "dimensionslos"). Diese Zahl bleibt gleich (wenn Photonen nicht altern), d.h. die einzelnen Lichtpunkte entfernen sich immer weiter voeneinander, das Licht wird für einen Beobachter, der z.B. mit einem Lichtpunkt unterwegs ist, immer schwächer. Damit ist schon deutlich, dass ein Beobachter in der Andromeda-Galaxie kaum den Adventskranz erkennen kann, weil dieses Licht gegenüber anderen Lichtquellen viel zu weit gestreut und schwach ist.
Dass das Universum am Ende der Zeit nur Licht sein wird, ist keine physikalische Aussage. Auch wenn alle Materie Licht wird, überwiegen die dunklen Bereiche und damit kommen wir auch in einen Bereich, der für uns im Dunkeln liegt. Aber warum sollte eines fernen Tages nicht auch die unbekannte dunkle Materie Licht werden?

Liebe Grüße

Jobär

 

Hallo Jobär,

danke für die Aufklärung. Es ist ja eine schöne Idee, dass das Licht ewig durch den Weltraum strahlt und am Ende/ eines Tages alles leuchtet. Das passt auch gut zur Geschichte. Im Grunde ist das eine Parallele zum Tod des Menschen, von dem man in einigen Kulturen meint, er sei nur ein Übergang.

Beste Grüße
Achillus

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom