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Die Geschichte von Adonis

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04.11.2003
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Die Geschichte von Adonis

„Was machst Du denn da, meine Junge?“, fragte Onkel Alfred, und dabei störte ihn überhaupt nicht, wie herablassend er klang.
„Ich schreibe“, antwortete ich und drehte den Computerbildschirm ein Stück von ihm weg.
„Schreiben? Bist Du denn wieder in der Schule? Ich dachte, Du lernst endlich etwas Anständiges!“
Fast platzte mir der Kragen. „Ich bin Schriftsteller, Onkel Alfred“, sagte ich betont lässig. „Ich schreibe Kurzgeschichten und publiziere sie auf einem Internetportal.“
Alfred räusperte sich. „Verstehe“, sagte er dann. „Woran schreibst Du denn gerade?“
„Nun“, entgegnete ich, „gerade befinde ich mich in der Phase der Ideenfindung.“
„Dir fehlt also ein Thema.“
Eigentlich war das ganz genau die Beschreibung meiner aktuellen Situation. Ich weigerte mich aber, dies zuzugeben, deshalb sagte ich nichts und tippte einfach ein paar zusammenhanglose Worte in die Tastatur. Meine Hoffnung, ihn damit langweilen und vertreiben zu können, erfüllte sich aber nicht. Er setzte sich auf den Stuhl gegenüber meines Schreibtisches, lehnte sich zurück, verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, überkreuzte die Beine und fing auf die selbstverständlichste Art an, zu dozieren. „Jeder junge Schriftsteller sollte die Klassiker kennen. Schreib doch mal über Adonis.“
„Den griechischen Schönling?“
Onkel Alfred nickte und begann zu erzählen: „Alles beginnt mit Pygmalion. Der war Bildhauer und von den Frauen in seiner Heimatstadt zutiefst enttäuscht. Die verstanden nämlich nichts von seiner Kunst und wollten immer nur ihre fleischlichen Gelüste mit ihm stillen. Das widerte den guten Pygmalion an. Er praktizierte also freiwillige Enthaltsamkeit, was – so viel sei vorweggenommen – in dieser Geschichte einmalig bleiben wird. Statt sich mit lüsternen Frauen abzugeben, konzentrierte er sich ganz auf sein Talent, arbeitete wie ein Besessener und schuf in einer abgeschiedenen Klause Jahr um Jahr eine Menge Kunstwerke, bis ihm schließlich sein Meisterwerk gelang – eine Statue von unvergleichlicher Schönheit, die Aphrodite darstellte, die Göttin der Liebe.“
Ich musste zugeben, dass mir der Anfang gefiel. So hörte ich auf, unsinnigen Computertext zu produzieren und hörte ihm zu.
„Jeden Tag betrachtete Pygmalion fortan sein Werk, berührte und liebkoste den kalten Marmor, bis er sich schließlich in das Abbild verliebte. Sich in ein Kunstwerk zu verlieben, kam selbst einer griechischen Sagengestalt wie Pygmalion seltsam vor, zumal er fortan keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, seine Kunst vernachlässigte und schließlich verzweifelte. Was sollte er also tun? Irgendwann bat er Aphrodite, die Liebesgöttin selbst um Hilfe, um ihn aus seiner Not zu erlösen.
Naja, die Göttin der Liebe war den Lebenden eigentlich gerne zu Diensten. Allerdings war sie – wie die meisten übrigen Götter auch – im Grunde ihres Herzens eine Zynikerin. Kaum einmal tat sie etwas ohne Hintergedanken. Und hier gefiel ihr die Vorstellung, dass der alte Griesgram Pygmalion seine irdische Bestimmung darin finden sollte, Unzucht mit einem Abbild ihrer selbst zu treiben. So erweckte sie schließlich die Statue zum Leben, und Pygmalion verbrachte den Rest seiner Tage damit, mit der fleischgewordenen Statue rumzumachen. Er zeugte sogar ein Kind mit ihr – ein Mädchen namens Paphos.“
Onkel Alfred beugte sich leicht zu mir vor. „An dieser Stelle der Geschichte erkennt man schon die ersten Parallelen zu moderneren Schriftstellern, mein Junge. Die Figur des Pygmalion weist nämlich viele Parallelen zu einer der berühmtesten Schauerromanfiguren überhaupt auf: Dr. Frankenstein. Der verrückte Wissenschaftler, der seine Kreatur – wenn auch mit den Mitteln der modernen Technik des 19. Jahrhunderts statt durch göttlichen Beistand – zum Leben erweckte, was sich schließlich als fatal für ihn herausstellen sollte.“
Offensichtlich zufrieden mit seiner Analyse verschränkte er wieder die Arme hinter dem Kopf und erzählte schließlich weiter: „Aber zurück ins alte Griechenland: Paphos, die Tochter von Pygmalion und der Statue, war eine ziemlich langweilige Figur. Eigentlich braucht man von ihr nur zu wissen, dass sie die Mutter von Kyniras war, der später König von Zypern wurde.
Kyniras hatte mit seiner Frau eine Tochter namens Myrrha. Die hätte alle Jungs von Zypern haben können, denn sie war als Prinzessin nicht nur eine gute Partie sondern auch noch wunderschön. So wurde der Palast von König Kyniras von unzähligen Verehrern umschwärmt, die alle um die Hand von Prinzessin Myrrha anhielten. Aber sie wollte keinen von ihnen. War sie doch heimlich verliebt in einen anderen Mann: in ihren Vater Kyniras. Natürlich war diese Art von Inzest auch bei den alten Griechen ein Tabu. Und so wusste sie, dass aus dieser Liebe nichts werden konnte. Wie ihr Großvater Pygmalion verzweifelte sie schließlich an ihrer unerfüllten Liebe, wurde letztendlich trübsinnig und beschloss, sich umzubringen. Im letzten Augenblick wurde sie aber von ihrer alten Amme gerettet. Die Amme päppelte Myrrha wieder auf und kümmerte sich fortan um das unglückliche Mädchen. Bald erfuhr sie auch den Grund von Myrrhas Kummers und beschloss heimlich, ihr zu helfen.
Als einmal die Königin, außer Haus war, war König Kyniras alleine im Schloss verblieben. Vermutlich langweilte er sich ein bisschen. Unsereiner hätte vielleicht eine Flasche Wein geöffnet und ein gutes Buch gelesen – eine griechische Tragödie beispielsweise. Aber so wird man nicht König von Zypern. Kyniras suchte nach anderen, königlicheren Vergnügungen. So war er froh, als die Amme ihm ein Mädchen anbot, das sich ihm hingeben wollte. Er nahm das Angebot natürlich sofort an.
Nun ja, im königlichen Schlafzimmer war es dunkel. Trotzdem kamen der König und das ihm unbekannte Mädchen ganz gut zurecht. Aber als er des Morgens erwachte und sich im Schein der Morgensonne zu seiner nächtlichen Geliebten umdrehte, sah er mit Entsetzen, dass es sich um seine Tochter Myrrha handelte. Er wurde unglaublich wütend und drohte seiner Tochter mit dem Tod, sodass das Mädchen aus dem Palast fliehen musste. Neun Monate irrte sie durch die halbe Antike, bis sie schließlich einen Jungen zur Welt brachte, den sie Adonis nannte.“
Innerlich musste ich zugeben, dass Onkel Alfred ein guter Erzähler war. Das Problem war, dass er das auch wusste. Und ein weiteres Problem war, dass ich auf keinen Fall beeindruckt wirken wollte. Deshalb versuchte ich gelangweilt zu wirken, als ich „Und wie ging es weiter?“ fragte.
„So war der kleine Adonis also letztlich die Ausgeburt einer Geschichte, die von Inzest, göttlichem Zynismus und Unzucht mit einer Statue handelte. Aber das sah man ihm nicht an. Als er zu einem jungen Mann herangewachsen war, konnte jeder erkennen, dass er das Beste von seinen ganzen attraktiven Vorfahren geerbt hatte und deshalb selbst unglaublich schön war. Sprichwörtlich jede Frau verliebte sich in ihn, wenn sie ihn nur ansah. Auch Aphrodite ging es nicht anders. Die Göttin, die sich sonst darin gefiel, die Menschen um den Verstand zu bringen, war selbst vor Liebe ganz außer sich. Natürlich wollte sie Adonis ganz für sich haben. Da war aber Göttervater Zeus dagegen. Er verfügte, dass Adonis nicht nur Aphrodite sondern auch seiner anderen Tochter Persephone in Liebesdiensten gefällig sein sollte. Persephone war im griechischen Göttergetümmel für verschiedene Dinge, unter anderem aber auch für Fruchtbarkeit zuständig. Und so schien es Zeus vermutlich, dass sie für Adonis zuständig sei. Ein Drittel seiner Tage – so entschied der Göttervater – sollte Adonis mit Aphrodite verbringen, ein weiteres Drittel mit Persephone und das letzte Drittel hatte er frei.
Im gewissen Sinne war Adonis somit die beneidenswerteste Figur der gesamten Literaturgeschichte, mein Junge. Da kannst Du nur von Träumen! Er teilte sein Bett mit zwei Göttinnen, die ihm verfallen und noch dazu die größten Expertinnen für Liebe und Fruchtbarkeit waren. Und außerdem hatte er noch jede Menge Freizeit. Besser geht‘s doch nicht! Aber jetzt verrate ich Dir etwas über Literatur.“
Und was?“, fragte ich.
„Bei so viel Glück muss es auch immer einen Haken geben, mein Junge. Kein Leser mag Helden, die alles Glück der Welt haben. Überleg Dir als Autor also, wie Du dem ein Ende bereitest. Und zwar so schnell wie möglich.“
„Vielleicht“, sagte ich, „liegt das Problem von Adonis in seiner Freizeit? Kann es sein, dass er an seinen freien Tagen nach anderen Frauen Ausschau gehalten hat und die Göttinnen ihn deshalb erledigt haben?“
Onkel Alfred neigte anerkennend den Kopf. „Nun, ein solches Verhalten wäre zwar, zumal nach dem bisherigen Verlauf der Handlung, nicht ganz abwegig. Allerdings würde vor allem Zeus so handeln. Adonis hingegen war niemand, der mit anderen Leuten stritt. Man stritt sich um ihn. In der ganzen Geschichte wirkt Adonis wie ein Objekt, das passiv bleibt und die Aufgabe hat, die Begierde der handelnden Personen auf sich zu ziehen. So ähnlich wie der Ring der Macht im ‚Herrn der Ringe‘. Tatsächlich blieb Adonis den Göttinnen treu, war aber dennoch dem Untergang geweiht.“ Er machte eine dramatische Pause. „An dieser Stelle betrat nämlich Ares, ein Sohn von Zeus und Gott des Krieges, die Bühne. Ares war verliebt in Aphrodite und für Eifersucht und Jähzorn bekannt. Außerdem war er nicht sehr subtil in der Wahl seiner Mittel. Er verwandelte sich einfach in einen wilden Eber und tötete seinen Nebenbuhler Adonis. So einfach war das!“
„Jaja,“ sagte ich, „manchmal ist es halt einfach.“
„Nicht so schnell,“ entgegnete der Onkel, „wir sind noch nicht am Ende. Von einem wilden Eber niedergetrampelt zu werden, war vermutlich ein ziemlich blutiges Gemetzel. Adonis ging es, wie dem ersten Opfer in einem ordentlichen Zombiefilm. Der Eber verletzte alle möglichen Schlagadern, und Adonis‘ Blut spritzte pulsierend in der Gegend herum, bis ihn endlich der Tod erlöste. Aber aus jedem seiner Blutstropfen wuchs eine zarte Blume, die fortan Adonisröschen genannt wurde und botanisch zur Familie der Hahnenfußgewächse gehört.“
Er stand auf. „Da hast Du dein Happyend“, sagte er noch und ging.

 

Hallo knagorny,

Ich lese die Adonis-Sage - von einigen Seitenzweigen gereinigt - und um den Frankenstein-Ausflug erweitert. Umrahnt von einer unter der Oberfläche schwelenden Auseinandersetzung zwischen dem Prot und seinem Onkel. Und dann? Schweigende Stille.
Leben der prot und sein Onkel zusammen? Welches Verhältnis haben sie zueinander? Der Prot ist ja nicht ungebildet, er weiss sofort, wer Adonis ist. Nennt er die Sage dennoch nicht? Oder wenn er sie kennt, weshalb ist er von der Nacherzählung des Onkels so fasziniert?
Und meine größte Schwierigkeit - Was ist das Happy End? In userer Gegend ist das Adonisröschen in der Regel gelb gefärbt, so dass die Entstehungssage zu hinken scheint. Mir hätte das Buschwindröschen besser gefallen. Es kündet die Auferstehung der Natur und seine weißen Blütenblätter sind häufig mit einem rosigen Schimmer überzogen. und damit blei bt die Frage: Was soll die Adonissage? Zeigen dass den Göttern die Tabus der Menschen gleichgültig sind, sei es Inzest sei es die Belebung von unbelebter Materie, Oder ist sie Nacklang alter Mythen über eine Mutergöttin oder die zyklische Auferstehung eines gemordeten Gottes? Und schlließlich - hat die Erzählung des Onkels die Schreibblockade lösen können? Oder ist diese Geschichte gar das Ergebnis?

Liebe Grüße

Jo

 

Lieber Jo,
Vielen Dank für Deine Rückmeldung. Du hast viele Fragen aufgeworfen, die ich in der Geschichte nicht beantworten konnte oder wollte. Der Kern ist halt die griechische Mythologie. Das hat mich zuerst interessiert, deshalb habe ich es nachgelesen und aufgeschrieben. Dagegen bleiben der Erzähler und der Onkel etwas blass. Das stimmt. Ich glaube auch nicht, dass die Wirkung der Geschichte besser wird, wenn man die Beziehung zwischen Neffe und Onkel besser kennt. Oder meinst Du doch?
Die Geschichte mit dem Adonisröschen ist nicht von mir erfunden. Ich weiß auch nicht, warum das gelb ist.
Dass der Onkel das Gemetzel am Adonis als Happyend bezeichnet, ist Ironie. Tut mir leid, wenn das nicht klar geworden ist.
Dein
Knagorny

 

Hallo knagorny,

im Frühling gibts gelbe Adonisröschen, aber im Sommer blüht das rote Sommer-Adonisröschen, das auch Blutströpfchen heißt und heute sehr selten und leider oft auch gelb ist. Die Sage wurde deshalb weitergesponnen: Aus jeder Träne Aphrodites wurde ein gelbes Röschen und aus jedem Blutstropfen ... wie gehabt.

Das die Schlussbemerkung des Onkels Ironie sein soll, habe ich tatsächlich nicht bemerkt. Das hängt wohl damit zusammen, dass die Intention der beiden unklar bleibt. Wenn ich die Geschichte unter dem Aspekt der Ironie anschaue, frage ich mich, ob der Onkel mit dieser Story der Schreiblust den Garaus machen will.

Seis wies ist.

Liebe Grüße

Jobär

 
Zuletzt bearbeitet:

Hola Knagorny,

nach meinem Dafürhalten weltmeisterlich geschrieben – in vielerlei Hinsicht.
Feiner Humor dabei – was will man mehr?

Diese Frage ist schnell beantwortet: eine Geschichte! Die will man, und nicht Zeuge sein, wie einer dem Anderen etwas erzählt.
Mir erging es so, dass ich zur Freude am sehr guten Stil aufkommende Ablehnung spürte, weil mir auf (zu) langer Strecke vorgelesen wurde.
Die antiken Ereignisse haben schon etwas zu bieten, doch ein Autor sollte den Leser nicht aus zweiter Hand bedienen (lassen). Obendrein bekam ich noch eine Schnupperprobe Adonisröschen, die der Familie der Hahnenfußgewächse zugehörig sind. Interessant.

Nein – sachlich bleiben: Mit Deinem Können hätte der Leser großen Genuss, wenn Du ihm Deine eigene Geschichte erzähltest.

Gospodin Knagorny, ich grüße Sie!
Joséfelipe

 

Hallo,
ganz herzlich Dank für die freundlichen Worte. Ich bin ziemlich genau Deiner Meinung. Die griechische Mythologie ist das Interessante, die Rahmenhandlung ist eigentlich nicht so wichtig. Ich hatte halt einfach nur Skrupel, die Geschichte von Adonis als meine eigene zu verkaufen. Ich habe sie ja nur nacherzählt. Damit keiner sagen kann, ich klaue bei den Griechen (das will ja nun wirklich keiner), kam die Rahmenhandlung dazu. War vielleicht eine Schnapsidee. Zugegeben. Aber das ist ja das Gute an diesem Projekt, dass man es als Autor gesagt bekommt.
Nochmals vielen Dank dafür.
Knagorny

 

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