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Die Hinterbliebenen
Ich knie mich auf den Boden, und sehe immer noch ratlos und leer auf euer Angesicht. Ich streiche über eure Haut, und lasse die Erde aus meinen Fäusten rieseln. Streichle euch das Haar, höre den Moosfarn unter meinen Händen knistern.
Danke, dass ihr Sekundenjahre mit mir teilt.
Vergissmeinnicht für dich, Anna, obwohl mehr als Appell an mich selbst gedacht, nie dein Lachen, deine samtene Stimme und deinen unglaublichen Sinn fürs Praktische zu vergessen.
Eine rosafarbene Primel für dich, Yvonne, die du mit sonderbarer Anmut und Zielgerichtetheit erwachsen werden wolltest.
Eine größere, kräftig Gelbe für Louis, sozusagen zum Ausgleich für dein kurzes, doch hoffnungsvolles Leben.
Was für Jahre hatten wir gemeinsam, und doch, je mehr ich mich an sie zu erinnern versuche, desto weniger kann ich es.
„Hol Wasser!”, sage ich dem, der dort auf der Bank kauert. Doch ich wende den Blick nicht ab von den Buchstaben, die metallen in Stein gemeißelt, aber in unfassbarer Ferne vor meinen Augen tanzen. Ich sammle den Unrat von eurem Bett, entferne sorgfältig das Wildkraut. Die Kanne kommt, ich begieße euch mit Tränen.
Und ich harke Wellenlinien um das Grab, davor ziehe ich mit dem Jätenstiel eine tiefe Gerade, von dieser aus Striche seitwärts. Ich gehe an ihr entlang und schließe die Augen: Die Holzbalken des Kais knarren unter meinem Gewicht, der Wind streift um meine Schläfen und ich sehe, durch den dichten Nebel, ein Schiff uns abholen kommen.
„Wir gehen”, sage ich zu David. Ich tue mich schwer, ihm in die Augen zu sehen. Nebeneinander gehen wir zum Parkplatz, auf uns hängt der graue Himmel herab. An jenem Tag war ein Sonnenschein, der den Asphalt in der Ferne spiegeln ließ. Wir sangen Unsinn, sahen uns im Geiste schon an pommerschen Stränden dösen.
Ich hätte David kein Piratentuch kaufen dürfen.
War es Eifersucht?
War es Spaß, eine kleine Überraschung?
Vorm Wagen bleiben wir stehen und sehen uns an. Ich sehe die ersten Tränen aus seinen Augen kommen, das Kinn, wie es zittert, wie sich die Mundwinkel verziehen. Wohl habe ich unbewusst eine Geste gemacht, als er mir jäh in die Arme fällt und das Gesicht an meinen Mantel presst.
Es ist Zeit, ihm zu vergeben. Er ist schlicht dem Übermut anheim gefallen, als er mir vom Rücksitz aus das Tuch um die Augen schlang. Auch mir schießen die Tränen in die Augen und ich pflüge ihm mit der Hand durchs Haar. „Es tut mir leid”, sage ich mühsam. "Ich vergebe dir ... vergebe dir."
Und ich weine.
Wir sind aller Tränen frei; steigen ein. Nach einer Stille wende ich mich zu ihm. „Du würdest sie gern wiedersehen, nicht wahr?”, frage ich und staune, dass er groß nickt, wie auf das Angebot eines Eisbechers, damit das Knie wieder heilt.
„Ich auch”, antworte ich; erlaube mir ein kleines Lächeln und starte den Motor.