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Die Jägerin
Etwas hatte sich verändert. Sie spürte es, noch ehe sie völlig erwacht war. Noch wusste Sie nicht, was es zu bedeuten hatte. Noch war das Gefühl der Veränderung zu schemenhaft. Aber allmählich festigte sich der Eindruck. Etwas war nicht an seinem Platz. Sie erhob den Kopf, und beinahe sah es so aus, als nähme sie Witterung auf. Um sie herum schien alles unverändert. Doch dann spürte sie es deutlicher. Der Verlust war schon länger her. Doch nun schien eine neue Kraft erwacht zu sein. Zwar noch schwach und unreif, aber dennoch verheißungsvoll.
Sie hatte geschlafen. Wie lange, wusste Sie nicht. Aber nun war Sie erwacht. Die Rune auf ihrer linken Wange glomm rötlich in der Dunkelheit und gab Ihrem Gesicht ein geisterhaftes Aussehen. Sie ergriff den Speer und den Bogen, die beide all die Zeit über neben Ihr geruht hatten. Sie trat hinaus auf die Lichtung. Ein leiser Pfiff erklang, und kurz darauf trat Ihr Pferd aus dem Nebel heraus, als hätte es die ganze Zeit über dort gestanden und auf sie gewartet. Zuerst undeutlich und lautlos, doch je näher es kam, desto wirklicher wurde seine Erscheinung, bis Sie deutlich den Glanz der Sterne auf seinem Fell erkennen konnte. Ruhig blieb es neben Ihr stehen. Sein Atmen dampfte in der Frische der Nachtluft vor seinen Nüstern. Sein Huf scharrte auf dem felsigen Untergrund.
"Es ist Zeit." flüsterte Sie ihm zu, und als hätte es verstanden, senkte es den Kopf und scharrte voller Ungeduld mit dem Fuß. Gewandt schwang sie sich auf seinen Rücken und packte den langen Speer fester. Ein heller Lichtreflex durchschnitt die Dunkelheit, als seine Spitze die Silhouette des beginnenden Mondes streifte. Langsam wendete Sie das Pferd, überquerte die kleine Lichtung, die ringsum von verwitterten Felsen geschützt wurde, und begann den kurzen aber steilen Abstieg. Am Fuß der Felsen angekommen, richtete Sie sich im Sattel auf und sog tief die frische Nachtluft ein. Wie lange hatte Sie dieses Gefühl vermisst. Sie war bereit, Ihre Aufgabe zu erfüllen, die Ihr vor so langer Zeit aufgetragen worden war.
Ruckartig warf sich das Pferd herum und galoppierte mit seiner Reiterin in die Nacht hinein. Ihr Ziel lag Ihr deutlich vor Augen.
Die Jägerin war erwacht.
***
Ein freundlicher Morgen zeichnete sich am Himmel ab. Mit geröteten Augen stand die Wache am großen Tor und blickte gelangweilt in die Morgendämmerung. Wieder einmal war eine ereignislose Nacht vergangen, und die Frau sehnte sich nach einem ruhigen Lager. Die letzte Ablösung war etwa fünf Stunden her. In Kriegszeiten fand der Wachwechsel natürlich wesentlich häufiger statt, aber im Augenblick waren alle Wachposten froh über eine halbwegs durchschlafene Nacht. Ein dampfender Krug heißen Weines wäre jetzt genau das richtige.
Träge blinzelte die Wache in den klaren Himmel. Die Vögel hatten bereits ihr Morgenlied angestimmt, und aus der großen Küche der sich gegen den langsam erhellenden Himmel abzeichnenden Feste erklangen erste Vorboten morgendlicher Geschäftigkeit.
Ein Fuchs schnürte einige hundert Schritt weiter unten über den von unzähligen Pferdehufen plattgetretenen Weg. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und hob witternd die Nase in den sanft wehenden Wind. Irritiert blickte er zu einer Baumreihe am Rande des Weges hinüber, konnte jedoch nichts erkennen, was seine Witterung rechtfertigen mochte. Vorsichtig setzte er daher seinen Weg fort, und hatte das seltsame Gefühl einer drohenden Gefahr schon bald wieder vergessen.
Im Unterholz nahe der Baumreihe raschelten ohne ersichtlichen Grund einige Blätter. Dann herrschte wieder Stille.
Die Fremde starrte lange Zeit hinüber zur Feste. Was Sie sah, sah so völlig anders aus, als die glorreiche, hoch aufragende Feste der Amazonen von Silverbow, auf die sie ihre Blicke gerichtet hatte. Für Sie erschien sie wie ein beinahe vorzeitlicher Befestigungswall. Ein ringförmiger Erdwall umgeben von einer Holzpalisade, deren gezackte Spitzen sich drohend in den Himmel reckten. Die kleinen und erst in den letzten Jahren erbauten Hütten und Häuser waren für Sie nicht sichtbar. An der Stelle, an der die Amazonen stolz den Tempel Montanas errichtet hatten, erblickte Sie lediglich eine kreisförmige Ansammlung von alten Eichen, in deren Mitte sich ein großer Felsblock befand. Eine unwirkliche Stimmung lag über der kleinen Siedlung. Lediglich einige Details waren mit dem wirklichen Silverbow identisch. Etwa die Form des just verblassenden Mondes, die sanft geschwungene Küstenlinie, an die sich die kleine Siedlung anschmiegte. Oder das Wäldchen, durch das Sie auf dem Weg hierher geritten war. Allerdings waren für Sie auch die Häuser von Confedera, der großen Siedlung nahe des Waldes, nicht existent. Lediglich die alte Wachstation unten an der großen Handelsstraße war für sie, wenn auch in anderer und weitaus weniger gut befestigter Erscheinung, vorhanden.
Nun stand Sie unter einem knorrigen Baum und blickte auf die Stelle, an der Ihr ehemaliges Zuhause lag: Dûn Kharreigh.
Noch war der Übergang nicht zur Gänze vollzogen, noch lebte Sie weder auf der einen, noch auf der anderen Seite. Noch wandelte Sie auf einem schmalen Grat zwischen den Zeiten. Es war Ihr nicht wirklich bewusst, dennoch konnte Sie spüren, wie es Sie immer mehr auf die eine, genauer gesagt die andere Seite zog. Es würde nicht mehr lange dauern und Sie würde den letzten Schritt tun.
Die Frau schnalzte mit der Zunge. Ihr Pferd gab ein leises Schnauben von sich und schüttelte seine prächtige weiße Mähne aus. Dann wendete es lautlos und trottete langsam zurück tiefer in den Wald hinein.
Ein Rauschen erhob sich über den Baumwipfeln. Die Torwache hob den Kopf und blickte hinüber zum Waldrand. Einige Vögel stoben aus dem Unterholz in die Luft. Die Stirn der Wache legte sich in Falten. Bekamen sie etwa zu dieser frühen Morgenstunde bereits Besuch? Aber alles blieb ruhig und kein Besucher zeigte sich auf dem breiten Weg, der sich in sanftem Schwung zum Tor hin wand. Womöglich ein Tier? Vorsichtig machte die Wache einige Schritte nach vorn. Den Speer stoßbereit näherte sie sich wachsam den ersten Baumreihen. Alles war ruhig, und doch schien eine gewisse Spannung über dem Wald zu liegen. Es war beinahe so, als hätte die Natur den Atem angehalten. Noch wenige Schritte, dann stand die Wache unter einem großen Baum, einen Fuß auf der Strasse, den anderen auf dem lockeren Waldboden. Vorsichtig spähte sie ins dichte Unterholz. Das Zwielicht des frühen Morgens erleichterte ihr nicht gerade die Sicht durch die Baumreihen hindurch. Sie lauschte. Beinahe war ihr, als hörte sie ein leichtfüßiges aber eiliges Stampfen. Wie durch einen Nebelvorhang verhüllt drang das Geräusch in ihr Bewusstsein.
Im dichten Nebel auf dem Meer erklangen Geräusche ebenso unwirklich, das wusste sie aus ihrer Zeit, bevor sie zu den Amazonen gekommen war. Aber hier war sie nicht auf See und Nebel herrschte ebenso wenig.
Plötzlich brach unmittelbar vor ihr ein kapitaler Zwölfender aus dem Unterholz. Reflexartig warf sich die Wache zur Seite und schlug mit der Schulter hart gegen einen Baumstamm. Im letzten Moment setzte der gewaltige Hirsch über sie hinweg und galoppierte hakenschlagend auf der anderen Seite der Strasse wieder in den Wald hinein. Ein tiefes Brüllen erschall direkt neben ihrem Ohr, als ohne jede Vorwarnung der wohl gewaltigste Grizzly, den sie jemals zu Gesicht bekommen hatte, an ihr vorbei stolperte und auf allen Vieren dem Hirsch nachsetzte.
"Bei Montana!" fuhr es ihr durch den Kopf. "Was für ein Ungetüm!"
Das helle Sirren einer Bogensehne ließ die völlig verschreckte Wache aufblicken. Direkt vor ihr, auf einem schneeweißen Pferd, saß eine Frau, gänzlich in eine weiß gekalkte Lederrüstung gehüllt, und schickte dem Grizzly einen Pfeil von einem weit geschwungenen Hornfischbogen hinterher. Auf der anderen Seite der Strasse brüllte das Untier schmerzgepeinigt auf und brach krachend im Unterholz zusammen. Die Wache konnte nur noch mit vor Verblüffung weit aufgerissenem Mund und dem Rücken an den Baumstamm gepresst dastehen und die unwirkliche Szene beobachten.
Langsam setzte sich das weiße Pferd in Gang und überquerte ebenfalls die Strasse. Auf der anderen Seite angekommen, ließ die Reiterin das Tier anhalten und glitt geschmeidig von seinem Rücken. Sie kniete sich neben den mit gebrochenem Blick daliegenden Grizzly und legte eine feingliedrige Hand auf seine Stirn.
"Verzeih mir, Herr des Waldes, aber ich hatte keine andere Wahl." flüsterte die Frau beinahe wehmütig. Der Pfeil hatte den Bären von hinten zwischen die Schulterblätter getroffen und ihn bis zur Brust durchbohrt. Die Frau machte mit der Hand eine seltsame, segnende Handbewegung auf der Stirn des toten Bären. Dann richtete sie sich langsam auf.
"Komm Azzur, es wird Zeit." murmelte sie abwesend in Richtung ihres Pferdes. Kurz darauf gingen die Frau und ihr Pferd in den Wald hinein und waren bereits nach wenigen Schritten nicht mehr zu sehen.
Dampfend auf dem feuchten Waldboden zurück blieb der gewaltigste Bär, den die Wache je zu Gesicht bekommen hatte und dessen Art als schon vor Generationen ausgestorben galt. Und nur ein einziger Pfeil hatte ihn getötet.
***
Die fahlsilberne Mondsichel war vor einigen Stunden im Licht der aufgehenden Sonne vergangen. Die warmen Strahlen der Herbstsonne tauchten die kleine Siedlung in goldenes Licht. Hinter den steil in den Himmel aufragenden Pfählen einer halbkreisförmigen Palisade erklang das heitere Geschrei von Kindern. Das hintere Ende des hölzernen Bollwerkes schmiegte sich an die offenen Ufer eines tiefblauen Fjords. Einige Fischerboote dümpelten an schmalen, in das Wasser hinausragenden Stegen. Die Boote waren bereits im Morgengrauen, tief im Wasser liegend vom Gewicht ihres nächtlichen Fangs, nach hause zurückgekehrt.
Über einem dampfenden Bottich wurden Bahnen von ungefärbtem Leinen gewaschen, im großen Steinofen bollerte das Feuer und erhitzte im Akkord den Teig, aus dem die Frauen die Brotlaibe für das große Fest buken, das sie am Ende der Woche begehen wollten. Jedes Jahr um diese Zeit wurden die Eingänge der Hütten festlich geschmückt und die große Eiche in der Mitte des kleinen Festplatzes mit bunten Girlanden behangen.
Für die Frauen war das Fest der Abschluss des Fruchtbarkeitszyklus´. Die Ernte war eingefahren, die Vorratskammern für den bevorstehenden Winter prall gefüllt, und die Abende würden von nun an bis zum nächsten Frühling angefüllt sein mit am Feuer erzählten Geschichten, mit Waffenübungen und mit der gemeinsamen Jagd.
Die Gemeinschaft der Frauen war klein. Sie waren vielleicht zwanzig Erwachsene und etwa noch einmal so viele Kinder. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr blieben auch die Jungen in der Obhut der Frauen, danach würden sie zu ihren Vätern zum Clan der Bärenschädel ziehen, um dort ihre Mannweihe zu erhalten. Die Mädchen würden bei den Frauen bleiben und sich später ihrerseits mit den Männern eines anderen Clans zusammentun.
Alle fünf Jahre gab es diese Zusammenkünfte. Die jungen Mädchen blickten ihrer ersten Zusammenkunft oft ängstlich entgegen, die erfahrenen Frauen mit einer gewissen Ungeduld, und die älteren Frauen mit immer wieder großer Amüsiertheit. Je mehr Zusammenkünfte die Frauen erlebt hatten, umso mehr spaßige Anekdoten gab es über sie zu erzählen. Wurden die Frauen noch älter, pflegten sie jedoch bereits zeitig am Abend der Zusammenkünfte über selbstgebrautem Gerstensaft einzunicken, so dass die Ältesten unter Ihnen kaum noch Geschichten zur allgemeinen Belustigung beizutragen hatten und das ganze Geschehen eher mit einer Art distanzierten Skepsis betrachteten.
Die Zusammenkünfte mit wechselnden Clans ermöglichten die Auffrischung des eigenen Blutes und somit den Fortbestand des Clans. So wurde es bereits seit Generationen gehalten.
Der Clan des Bärenschädelstammes war die letzten drei Zyklen in den Genuss der Teilnahme am Fruchtbarkeitsfest der Frauen gekommen; dieses Jahr hatten allerdings die ersten Mädchen, die aus diesen Zusammenkünften hervorgegangen waren, ihr fünfzehntes Lebensjahr erreicht. Es war also an der Zeit, das Blut des Stammes erneut aufzufrischen und sich andere Männer zu suchen. Eine nicht unbeträchtliche Anzahl struppiger und kurzbeiniger Rinder, die gerade von drei begeistert johlenden Kindern in den Wald getrieben wurden, zeugte von der Wertschätzung, die die Clans der Teilnahme an den Zusammenkünften beimaßen.
Dieses Mal war die Wahl auf den Clan des Großen Wolfes gefallen, mit dem man bereits seit geraumer Zeit in freundschaftlicher Verbundenheit lebte. Zwei weitere Clans waren an den strengen Auswahlkriterien der anspruchsvollen Frauen gescheitert; eine Tatsache, die die Nachbarschafsbeziehungen zu ihnen in den nächsten Monaten gewiss einigermaßen belasten würde. Jedoch waren die Frauen wehrhaft und die anderen Clans ihnen zahlenmäßig kaum überlegen. Schon so mancher Eindringling hatte sich an der Geschicklichkeit, die die Frauen im Umgang mit ihren langen Speeren an den Tag legten, die Zähne ausgebissen und war unter dem unflätigen Spottgelächter der Frauen eingezogenen Schwanzes wieder von dannen gezogen. Man konnte es sich also durchaus leisten, seine Nachbarn eine zeitlang zu vergrätzen.
Für Elvyan war es bereits die dritte Zusammenkunft. Vergnügt dachte sie an ihr erstes erlebtes Fest vor zehn Jahren zurück. Was war sie damals naiv und unbedarft gewesen. Dieses Mal würde es vermutlich die letzte Zusammenkunft werden, an der sie aktiv teilnahm. Danach würde sie sich mitsamt ihren älteren Schwestern an den langen Eichentisch setzen, an dem trüben und bitteren Bier nippen und den jüngeren Schwestern amüsiert bei der Auswahl ihrer Verehrer zusehen. Natürlich würde sie ihnen auch ab und zu einige Anzüglichkeiten zurufen. Das war das Privileg des Alters.
Elvyan musste unwillkürlich Lächeln. Der lange Strohhalm, auf dem sie die ganze Zeit über herumgekaut hatte, nutzte die Gunst des Augenblicks und ließ sich klammheimlich auf den weichen Boden fallen, auf dem sie sich lang ausgestreckt hatte, um verträumt die Wolken am Himmel zu beobachten, bevor sie für einen Augenblick eingenickt war. Müde reckte sie ihre langen Beine, die bis zu den Knien in schweren Reitstiefeln steckten und genoss das kribbelnde Gefühl des allmählichen Erwachens.
"Mama?" Elvyan öffnete träge ein Auge und blinzelte in die warme Herbstsonne.
"Mamaa!" Sie wandte den Blick. Einige Schritte entfernt kam ihre beinahe zehnjährige Tochter mit hochrotem Gesicht den Hügel hinaufgeklettert, auf dem Elvyan mit ihrem Pferd den Vormittag verbummelt hatte. Langsam stützte Elvyan die Ellenbogen auf und erhob sich. Sie zupfte einige vorwitzige Strohhalme aus den Maschen ihres Wamses, die nach dem Mähen des hochgelegenen Kornfeldes noch herumlagen und lächelte.
"Cälie, du bist ja ganz außer Atem." rief sie dem kleinen Mädchen amüsiert zu. Cälie kam schnaufend herangestolpert und ließ sich erschöpft auf die warme Erde plumpsen. Nach einigen Augenblicken hob sie schwer atmend den Kopf, blickte ihre Mutter an und tadelte sie neckend.
"Mama, du hast mir versprochen, dass ich heute mit Llwynn und Tianh aufs Boot darf. Megan hat mich aber nicht gelassen. Ich habe ihr gesagt, dass sie dafür von dir ganz großen Ärger bekommt, weil du es doch erlaubt hast, aber sie hat nur gelacht und gesagt, dass kleine Kinder nicht mit hinausfahren dürfen, weil es zu gefährlich ist. Ich habe dich überall gesucht, aber du warst weg. Dann war ich beim Ofen und wollte mit Brotbacken helfen, aber die haben mich auch weggeschickt. Für alles was Spaß macht, bin ich noch zu klein, aber die doofen Schweine füttern, das darf ich. Das ist ungerecht. Immer wollen alle..."
"Cälie..."
"...dass ich nur die blöden Sachen mache. Dabei bin ich schon ganz groß. Ich bin schon fast zehn! Und du warst wie immer nicht da. Das ist so unfair!"
"Cälie..." hob Elvyan ein weiteres Mal an, um den Redeschwall ihrer Tochter zu bremsen, "Ich musste leider ganz früh weg. Ich hatte keine Zeit mehr, mit Megan zu sprechen. Es tut mir leid. Aber ich werde nachher mit ihr reden und ihr sagen, dass du meine ausdrückliche Erlaubnis hast, morgen früh mit hinaus zu fahren."
"Morgen... Das ist doch noch soo lange hin!" Ein zutiefst enttäuschter und vorwurfsvoller Blick bohrte sich in ihre Augen. Eine kleine Ewigkeit hockten sich Mutter und Tochter schweigend gegenüber und fochten ein unsichtbares Blickduell aus, und wie immer musste Elvyan als erste lachend aufgeben.
"Cälie, du wirst bestimmt einmal eine berühmte Kriegerin. Allein mit deinem Blick kannst du die Feinde zu Tode erstarren lassen." Cälie grinste verschmitzt.
Elvyan rang einen Moment lang mit sich und gab dann seufzend endgültig nach.
"Also gut, junge Dame, dann werden wir beide eben jetzt einen Angelausflug machen. Es sind zwar wohl kaum noch Fische unterwegs, aber vielleicht haben wir ja Glück." Cälie klatschte begeistert in die Hände.
"Ich laufe schon vor und frage Llwynn, ob sie mitkommen mag. Darf sie?" aufgeregt sprang das Mädchen auf und hüpfte von einem Fuß auf den anderen.
Elvyan verdrehte spielerisch die Augen und seufzte schwer. "Dafür will ich heute Abend aber keine Beschwerden hören, wenn es ins Bett geht." ermahnte sie Cälie in bemühter Strenge.
"Versprochen!" rief Cälie noch eilig und war auch schon auf und davon. Elvyan blickte ihrer Tochter amüsiert nach. Ihr ging jedes Mal beinahe das Herz über, wenn sie die Kleine in ihrem lohfarbenen Wollkleid herumrennen sah. Die nackten Füße patschten erstaunlich geschickt auf den Boden, wie immer hing ihr das halbe Gestrüpp der Wiese im Haar und wie immer zottelte sie irgendeinen langen Stock, einen imaginären Speer, hinter sich her. Sie war eine echte Tochter des Stammes.
"Komm her, Azzur," rief Elvyan dem friedlich hinter ihr dösende Pferd zu, "es wird Zeit, dass wir wieder hinuntergehen."
Gerade als Elvyan das aus groben Eichenstämmen zurechtgezimmerte Palisadentor durchquerte, rannte ihr abermals ihre Tochter entgegen.
"Mama, Mama, das Schwein bekommt Junge! Galwyn sagt, es ist jeden Moment soweit. Darf ich zusehen? Bitte!"
"Und was ist mit unserem Angelausflug?" fragte Elvyan etwas irritiert.
"Mama." tadelte Cälie sie ungnädig. "Angeln fahren können wir jeden Tag. Aber das Schwein bekommt nur einmal im Jahr Junge." Wo sie recht hatte...
Resignierend entließ sie Cälie zu den Schweinen, nicht ohne sie vorher noch einmal zu ermahnen, dass sie nicht im Weg stehen sollte. Anschließend wandte sie sich den offenen Stallungen zu, um Azzur zu striegeln.
Langsam verblasste das Bild vor ihrem inneren Auge.
Ruckartig fuhr die Jägerin auf. Schweiß klebte ihr auf der Stirn. Sie hatte geträumt. Noch völlig verwirrt griff sie instinktiv nach ihrem Speer, der neben ihr im feuchten Waldboden steckte. Einige Schritte entfernt stand ihr Pferd regungslos unter einem Baum. Langsam kam die Erkenntnis des Traumes zurück und traf sie tief in ihr Innerstes.
"Myn'Tarr Nah'..." flüsterte sie entsetzt in die Dunkelheit, "warum hast du mir das angetan?"
Sie hatte diesen letzten Tag so deutlich vor Augen, als wäre alles erst Gestern geschehen. Der freundliche Herbsttag, die warme Sonne, Cälie, die lieber bei den Schweinen helfen wollte, als mit ihrer Mutter aufs Meer zu fahren... Cälie... Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen. All die Jahre in ihrem Gefängnis, all die Jahre des Wartens, all die Jahre der Besinnungslosigkeit, all die Jahre im Stein... Diese ganze Zeit hatte nicht ausgereicht, um die schrecklichen Erinnerungen verblassen zu lassen. Sie konnte sich noch nicht erinnern, was danach geschehen war, aber sie war sich sicher, dass auch diese Erinnerung nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Sie wusste nur eines: Etwas Schreckliches war geschehen.
Und etwas anderes wusste sie noch: Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Eine Aufgabe, die die ganze Zeit über auf sie gewartet hatte. Die Saat musste weitergegeben werden.
Der Zeitpunkt des Handelns rückte immer näher.
***
Geschmeidig hechtete das Pferd über einen toten Baumstamm. Die Reiterin hatte sich eng an seinen Körper geschmiegt. Das Pferd spannte die Muskeln an, schoss um die Ecke eines Felsens und setzte mit einem gewaltigen Sprung über einen Bachlauf hinweg. Der Mond kämpfte vergebens gegen die dichten Wolken am Himmel an und erhellte die Nacht nur dürftig. Eine Eule stieß kreischend auf eine Maus nieder. Der schwere Huf des Pferdes verfehlte die Eule und ihre Beute nur knapp. Erschreckt ließ die Eule von der Maus ab und warf sich meckernd in die Luft. Ihr vermeintliches Abendessen flitzte unter einen nahen Stein und war vorerst in Sicherheit. Erdreich wurde aufgeworfen, als sich die schweren Hufe erneut in die Erde gruben. Das Pferd und seine Reiterin schienen miteinander zu verschmelzen, als sie in vollem Galopp über die nächtliche Lichtung preschten.
Das lange bleiche Haar der Reiterin flatterte ungebändigt im Wind und eine kühle Brise strich über ihre nackte Haut, dass sich die feinen Härchen auf ihrem Körper aufstellten. Ihr gesamter Körper war mit Runen bedeckt, die sie sich mit einer aus Ocker gewonnenen Farbe aufgemalt hatte.
Es war beinahe wie früher. Oft war sie so mit ihren Schwestern nachts über die Felder geritten. Nur selten hatten sie das Gefühl der Freiheit so intensiv genossen, wie in diesen Augenblicken.
Plötzlich durchzuckte ein stechender Schmerz die Frau. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, fasste sich an die Brust und schlug kurz darauf hart auf den Boden auf. Irritiert hielt das Pferd einige Schritte weiter an und kehrte mit gesenktem Haupt zu seiner Reiterin zurück.
Die Frau lag mit dem Rücken auf der Erde. Der brennende Schmerz raubte ihr schier die Besinnung. Krampfhaft hielt sie beide Hände auf die Brust gepresst. Tränen schossen ihr in die Augen.
In ihrer Brust steckte ein Speer. Sein Schaft war mit blutroter Farbe bemalt und sein Ende war mit Federn geschmückt, die sich ruhig im sanften Nachtwind bewegten. Doch der Speer war nicht real. Er entstammte einer Zeit, die lang vergessen war. Er entstammte einer längst verschütteten Erinnerung, die die Frau in diesem Moment mit gnadenloser Brutalität überkam.
"Cälie..." flüsterte sie mit gebrochener Stimme.
"Mama, was sind das für Männer da unten?" Elvyan und ihre Tochter hatten sich tief auf den Boden gedrückt. Azzur stand einige Schritte abseits und schnaubte verhalten. Sie lagen auf einem Felsvorsprung und starrten auf das Lager der Männer, das sich an die zwanzig Schritt unter ihnen befand. Eigentlich waren sie im Wald gewesen, um Rauschpilze für das Fest zu sammeln. Auf dem Rückweg waren sie an diesem Felsvorsprung vorbeigekommen und hatten Stimmen gehört. Vorsichtig war Elvyan an den Rand des Felsen gerobbt, um in die Tiefe zu spähen. Cälie sollte eigentlich mucksmäuschenstill bei Azzur warten, bis ihre Mutter herausgefunden hatte, was dort unten vor sich ging. Wie immer war Cälie’s Neugier stärker gewesen als ihr Gehorsam.
"Schscht! Verflucht Cälie, du solltest doch warten." flüsterte Elvyan gereizt.
"Ich wollte doch nur mal gucken." rechtfertigte sich ihre Tochter flüsternd. "Sind das Fremde?"
Am Fuß des Abhanges hatten etwa fünfzehn wild aussehende Männer ein Lager aufgeschlagen. Sie hatten Zelte aus Tierhäuten aufgespannt und saßen um ein Lagerfeuer herum, über dem auf einem Dreibeingestell ein großer Kessel dampfte. Der Geruch, der aus dem Kessel zu ihnen nach oben drang, war nicht gerade appetitfördernd.
"Kochen die darin etwa ihre schmutzigen Beinlinge?" kicherte Cälie leise.
Elvyan wollte gerade etwas erwidern, als hinter ihnen Azzur laut aufwieherte. Reflexartig ruckte Elvyan herum. Hinter ihnen hatten sich vier Männer angeschlichen, von denen einer Azzur am Zaumzeug gepackt hielt und ihn heftig an sich heranriss. Die Oberkörper der Männer waren nackt, von der Sonne gegerbt und mit seltsamen blauen Symbolen geschmückt. Sie hatten grobschlächtige Gesichtszüge und stark gewölbte Knochen über den Augenbrauen. Ihr Haar war nach oben hin zu einem dicken Knoten gebunden. Allesamt trugen sie rot gefärbte Speere, deren Schäfte mit Federn verziert waren.
"Wen haben wir denn da?" lachte einer der Männer feindselig.
"Lass sofort Azzur los, du tust ihm weh!" schrie Cälie erbost.
"Cälie, sei still!" zischte Elvyan sie an. Sie schalt sich, wie sie sich nur derart hatte überrumpeln lassen können. Die Männer mussten hervorragende Jäger sein, wenn sie sich so lautlos anschleichen konnten, dass selbst Azzur nicht rechtzeitig angeschlagen hatte. Vorsichtig glitt ihre Hand zu ihrem Gürtel und tastete nach ihrem Hirschfänger. Ihr Speer und der weitgeschwungene Hornfischbogen baumelten unerreichbar an Azzur’s Seite herab.
Azzur bäumte sich auf und versuchte den Mann, der ihn festhielt, abzuschütteln. Ein anderer Mann schlug mit seinem Speer nach ihm.
"Du elender Feigling!" schrie Cälie und stürzte sich auf den Mann.
"Cälie, neeeiiin!!" Elvyan stürzte sich ebenfalls nach vorn, um sich schützend vor ihre Tochter zu werfen. Der angegriffene Mann hob blitzschnell den Arm und schleuderte seinen Speer.
Brennender Schmerz durchzuckte Elvyan, als sich der Speer tief in ihre Brust bohrte. Die Wucht des Aufpralls riss ihr die Füße weg und ließ sie rücklings hart auf den Boden schlagen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie entsetzt in den Himmel. Azzur keilte aus und traf den Mann, der den Speer geschleudert hatte, mit einem harten Schlag an die Stirn. Blut spritzte.
"Mamaaaaaa!!"
"Cälie.... Lauf!" krächzte Elvyan heiser. Dann spuckte sie eine Fontäne dunklen Blutes hervor. Um sie herum wurde es schwarz.
Die Frau lag noch immer im taufeuchten Gras. Ihr Pferd stand neben ihr und stupste sie sanft mit der Nase an. Langsam ließ der Schmerz nach. Ihre Brust brannte nicht mehr wie Feuer. Dennoch konnte sie sich noch immer nicht bewegen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in den Nachthimmel und war den Erinnerungen, die sie nun immer heftiger überkamen, hilflos ausgeliefert. Sie hatte den Mund wie zu einem stummen Schrei aufgerissen, aber kein Laut drang über ihre Lippen. Noch war sie nicht frei zu gehen. Noch musste sie starr vor Entsetzen auf dem Boden liegen und sich ihren Erinnerungen stellen.
Über ihr zog die Eule wieder ihre Kreise auf der Suche nach Beute.
"Wir sind hier zusammengekommen, um über den Fortbestand unseres Stammes zu beraten."
Galwyn lies ihren Blick ruhig über die Gesichter der anwesenden Schwestern gleiten. Einige erwiderten ihren Blick eingeschüchtert, andere kampflustig. Aber allesamt hatten ihre Blicke das einstige Feuer, das tief in ihnen gebrannt hatte, verloren. Zu hart waren die letzten Monate für den kleinen Stamm gewesen. Zu schwer die Verluste, die sie zu beklagen gehabt hatten. Wenn man doch nur die Zeit zurückdrehen könnte. Aber hätte es wirklich etwas genutzt? Hätte es irgendetwas an ihrem Schicksal geändert? Vermutlich nicht. Galwyn's Gedanken drohten in die Vergangenheit abzuschweifen. Sie gab sich einen Ruck, richtete sich auf, und erhob erneut ihre Stimme.
"Wie ihr alle bereits wisst, können wir Dûn Kharreigh nicht mehr lange halten. Wir haben nicht mehr viele kampffähige Kriegerinnen und müssen ernsthaft mit einer Niederlage rechnen. Was das bedeuten würde, ist euch allen klar: Alle Arbeit, all die Jahre des Kampfes um unsere Freiheit, alles wofür wir einstehen, alles wäre für immer ausgelöscht. Das darf nicht geschehen." Die Schwestern nickten unsicher.
"Viele von uns haben fast alles verloren seit diesem Unglückstag, an dem Elvyan's Tochter von diesen Bastarden geschändet und getötet wurde. Wir haben sie gejagt und getötet, aber es hat nichts geholfen. Für jeden, den wir töteten, kamen zehn neue. Die Bärenschädel sind ausgelöscht, und seit gestern auch der Wolfsclan." Ein Raunen ging durch die Reihen der Frauen. Diese üble Nachricht war ihnen neu.
"Bisher," fuhr Galwyn fort, "bisher hatten wir nur am Rande mit den Kämpfen zu tun. Und dennoch haben wir mehr als die Hälfte unserer Schwestern verloren. Aber das wird sich nun ändern. Einer direkten Konfrontation sind wir nicht gewachsen. Dafür sind sie einfach zu viele. Und sie werden noch immer beinahe täglich mehr."
Eine großgewachsene einäugige Frau, der man die Spuren vieler Kämpfe nur allzu deutlich ansehen konnte, erhob sich trotzig.
"Wir werden kämpfen und untergehen wenn es sein muss. Was bleibt uns anderes übrig? Aber bis dahin werden wir so viele von diesen Bastarden mitnehmen wie es geht!" Beifälliges Gemurmel erklang.
"Richtig, Llwynn, das werden wir auch. Aber wir werden vorher für den Fortbestand unseres Stammes sorgen."
"Und wie willst du das machen, Galwyn? Sollen wir uns etwa wie die Karnickel verkriechen?"
"Nay, das werden wir nicht! Ich sagte doch eben, wir werden uns dem Kampf stellen. Und wir werden gemeinsam bis zum Schluss zusammenstehen. Wir alle. Alle bis auf Eine." Irritierte Blicke flogen von einer Schwester zur anderen.
"Niemals!" rief Llwynn erbost. "Keine von uns wird sich vor dem Kampf drücken!"
"Wie sollte eine von uns jemals ein normales Leben führen können, ließe sie im Augenblick der größten Gefahr ihre Schwestern im Stich?" wandte nun auch Megan trotzig ein. "Das kommt gar nicht in Frage!"
"Ruhe!" Galwyn knetete unruhig ihre Finger. Sie hasste solche Debatten. Irgendwie hatte sie dabei jedes Mal das Gefühl, auf einer anderen Seite als ihre Schwestern zu stehen. Natürlich entsprach das nicht den Tatsachen, aber dennoch empfand sie ihre Aufgabe, die Geschicke des Stammes zu lenken, immer mehr als eine Belastung denn als ein Privileg.
"Ich weiß sehr wohl, dass das eine harte Entscheidung ist. Und ich bin mir ebenso bewusst, dass keine von Euch freiwillig zurückstehen wird. Wir müssen diese Auswahl zum Glück auch nicht selbst treffen: Die Götter werden entscheiden!"
"Verflucht, Galwyn," rief Elvyan, deren Verletzungen seit jenem unseligen Tag wieder nahezu vollständig verheilt waren, "wie stellst du dir das vor? Soll eine von uns auswandern und im Akkord Nachkommen zeugen, damit wir in fünfzehn Jahren zurückschlagen können? Und wenn auch nur eine von uns die Chance hätte, von hier unbehelligt fortzugehen, warum gehen wir dann nicht alle? Noch ist es nicht zu spät!"
"Elvyan, selbst wenn wir es könnten, würde keine von uns Dûn Kharreigh freiwillig verlassen, das weißt du!"
"Natürlich weiß ich das! Und genau deswegen wird es auch keine von uns tun!"
Galwyn seufzte schwer. "Die Götter haben entschieden und wir werden uns diesem Entschluss beugen."
"Einen Dreck haben die Götter!" brummte Llwynn zähneknirschend. "Die sind ja auch nicht an unserer Stelle. Sie sollten uns lieber beim Kampf beistehen!"
"Llwynn!" Rheanna’s Blick bohrte sich in die Augen der grobschlächtigen Frau. "Wage eine solche Bemerkung nicht noch einmal!" Llwynn senkte schuldbewusst ihren Blick. Galwyn nickte der Schamanin dankbar zu.
"Schwestern!" fuhr Rheanna gleich weiter fort, "Beruhigt euch wieder. Was wir zu tun haben, liegt nicht in unseren Händen. Ich habe die letzten beiden Nächte am großen Stein verbracht, und die Götter haben zu mir gesprochen. Ihnen allein obliegt die Entscheidung. Wir dürfen ihnen nicht zuwider handeln."
"Und was haben sie dir mitgeteilt?" fragte Megan noch immer erregt. Ruhig blickte Rheanna in die Runde der Frauen.
"Sie werden eine von uns auswählen. Diese Eine wird die Jägerin." Ein Raunen ging durch die Reihen.
"Die Jägerin?" fragte Llwynn mit erhobenen Augenbrauen. "Das ist doch nur eine alte Legende. Wenn es eine Jägerin gäbe, warum steht sie uns dann jetzt nicht bei?"
Rheanna seufzte. "Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, wie man die Jägerin herbeiruft. Ich weiß nicht einmal, wie eine von uns zur Jägerin werden könnte."
"Dann hoffen wir mal, dass die Götter dir noch ein bisschen mehr mitzuteilen haben." beschloss Galwyn skeptisch die Diskussion.
Es war zur dritten Morgenstunde, als Galwyn ein eiliges Klopfen an ihrer Tür vernahm. Ohne auf eine Einladung zu warten, wurde die Tür aufgestoßen und Rheanna’s Silhouette zeichnete sich im Zwielicht gegen den schmalen Durchgang ab.
"Myn'Tarr Nah'," sprach sie ihre Königin mit ihrem offiziellen Titel an, " es ist soweit. Die Götter haben entschieden."
Kurz darauf hatten sich alle Frauen im Vorraum zu Galwyn’s Gemächern eingefunden. Ihrer sichtlichen Müdigkeit zum Trotz harrten sie unruhig der Eröffnung ihres Zusammentreffens.
"Schwestern," hob Galwyn gleich darauf an, "die Götter haben entschieden." Llwynn musterte eindringlich die Decke der Hütte, so als gehe sie die ganze Sache nichts an. Megan erhob sich und richtete das Wort an die Schamanin.
"Rheanna, auf wen ist die Wahl gefallen?"
"Nicht so voreilig." beschwichtigte Rheanna. "Ehe ich euch die Entscheidung in allen Einzelheiten mitteile, lasst uns einen Trinkspruch auf den Stamm und die Große Göttin ausbringen." Die Frauen sahen sich einen Augenblick lang irritiert an. Andererseits hatte niemand in dieser feuchtkalten Nacht etwas gegen einen Schluck warmen Weines einzuwenden. Diesen kurzen Moment konnte die zu erwartende Rede der Schamanin gewiss noch warten.
Galwyn hielt den glühenden Schürhaken in einen großen Steinkelch. Sofort begann der Wein darin zu brodeln und ein süßer Duft verbreitete sein Aroma im Innern der Hütte.
"Auf den Stamm!" Galwyn hob den Becher an ihre Lippen und nahm einen tiefen Schluck.
"Die Große Göttin sei gepriesen." Auch Rheanna nippte an dem Wein und ließ den Kelch dann an die anderen Schwestern weitergehen.
Llwynn schnupperte misstrauisch an dem Gebräu, konnte jedoch nichts ungewöhnliches an dem Wein feststellen und nahm ebenfalls einen großen Schluck. Heiß glitt ihr der schwere Wein die Kehle hinunter.
Der Kelch ging reihum und war bis auf den letzten Tropfen geleert, als er schließlich wieder bei Galwyn angelangt war.
"So," erhob Megan schließlich die Stimme, "nachdem wir nun also alle unseren Durst gestillt haben: Rheanna, auf wen ist die Wahl gefallen?"
Die Schamanin lies ihren Blick von einer zur nächsten schweifen und musterte die Schwestern eindringlich.
"Mir wird... übel..." stotterte Elvyan plötzlich. Dann knickten ihr die Beine ein und um sie herum wurde es schwarz.
"Nun, offensichtlich ist die Wahl auf Elvyan gefallen!"
Im dunklen Nachthimmel stieß die Eule einen schrillen Ruf aus und warf sich auf ein Kaninchen, das so unvorsichtig gewesen war, sich zu weit von seinem Bau zu entfernen. Diesmal würde ihre Beute nicht entkommen.
***
Elvyan spürte den hölzernen Karren unter sich rumpeln. Ihr Kopf schmerzte, als hätte sich ein Höhlenbär auf ihn gesetzt. Ihre Arme und Beine waren von einer seltsamen Taubheit befallen. Elvyan blinzelte. Das Licht einer Fackel brannte ihr in den Augen. Sie konnte nur einen gleißenden Lichtfleck ausmachen. Ein paar Schritte entfernt wurde leise ein kehliger Gesang intoniert. Elvyan verstand nicht eines der Worte aus dem Lied. Ein kühler Windhauch strich über sie hinweg und lies den weichen Stoff ihrer Toga flattern. Sie fröstelte. Wer hatte sie umgezogen?
"Leise jetzt! Tianh, lösch das Licht!" Das Licht der Fackel erlosch zischend.
"Ich wünschte, ich könnte über diesen elenden Wall klettern und den verfluchten Beutelratten ihren Pelz über die Ohren ziehen!" zischte eine Stimme leise.
"Sei ruhig, Llwynn, oder willst du noch, dass man uns bemerkt?"
Anscheinend hatten sie den befestigten Außenposten dieses neuen Volkes erreicht, der erst kürzlich direkt an der Kreuzung der beiden großen Handelsstraßen errichtet worden war. Er gab eine gewaltige Erscheinung ab und war zur Gänze aus massivem Stein erbaut. Die Eindringlinge schienen ihrem barbarischen Aussehen zum Trotz meisterhafte Architekten zu sein. Seit sie in dieser Gegend vor einigen Monden das erste Mal aufgetaucht waren, hatten sie sich wie eine Plage über den halben Norden des Landes ausgebreitet. Wehranlagen wie diese durchzogen mittlerweile das ganze Land.
Es war noch immer (oder bereits wieder?) Nacht.
"Wir müssen durch den Sumpf, also gebt acht, wohin ihr eure Schritte setzt." Das war Megan gewesen.
Elvyan wollte den Mund öffnen und etwas sagen, doch sie brachte keinen Laut über ihre Lippen. Über sich konnte sie die fahle Sichel des Mondes erkennen, vor die sich gerade in diesem Augenblick eine dunkle Wolke schob.
"Jetzt, schnell!" Der Wagen wurde an vier Ecken angehoben und schwankend durch das Unterholz getragen. Elvyan wurde schwindelig. Nach einigen Minuten wurde der Karren wieder abgesetzt und seine unbeschlagenen Holzräder versanken schmatzend im Schlamm.
"Verflucht, warum müssen wir das Ding den ganzen Weg mitziehen?" maulte Llwynn.
"Wenn wir erst wieder offenes Gelände erreicht haben, wirst du noch dankbar dafür sein, dass wir sie nicht die ganze Zeit über schleppen müssen." Damit konnten sie nur Elvyan gemeint haben. Sie konnte nicht ausmachen, wer das gesagt hatte. Noch immer war sie völlig benommen und nahm alles um sie herum nur wie durch einen dichten Vorhang hindurch wahr. Die Augen wurden ihr schwer und einige Zeit später übermannte sie erneut der Schlaf.
Als sie das nächste Mal die Augen öffnete, war der Mond bereits ein gutes Stück über den nächtlichen Himmel gewandert.
"Die Göttin sei gepriesen, wir sind da. Endlich." seufzte Rheanna erleichtert.
"Wie sollen wir den Karren diesen schmalen Weg hinaufbekommen?"
"Der Wagen bleibt hier. Wir nehmen nur die Bahre. Fasst mal mit an." Kurz darauf wurde Elvyan in die Luft gehoben. Schwankend ging es nun bergauf. Die Bahre, auf der Elvyan’s Körper lag, schrammte ein- zwei Mal gegen eine Felswand. Dann wurde sie endlich abgesetzt. Sie konnte über sich die Zweige eines alten Baumes erkennen. Sanft wehten die letzten bereits tiefbraun gefärbten Blätter im Nachtwind. Dann gleißte wieder eine Fackel auf.
Ein Gesicht beugte sich über Elvyan. Es war Megan.
"Ist sie tot?" fragte Megan unsicher über ihre Schulter.
"Nein, ich denke nicht." erklang hinter ihr die Antwort. "Aber ich weiß es nicht. Ich habe dieses Ritual bisher ebenso wenig durchgeführt wie du. Ich kann nur hoffen, die Götter wissen, was sie tun."
"Das ist keine sehr tröstliche Antwort." lies sich Llwynn vernehmen. "In meinen Augen ist es eine verfluchte Schande!"
"Llwynn, zügle dich!" fuhr Galwyn sie an. "Wir haben hier nichts zu bestimmen. Es ist der Wille der Götter. Elvyan wird von nun an unter dem Schutz der Großen Göttin persönlich stehen."
"Den hat sie auch bitter nötig." brummte Llwynn unversöhnlich, lies es aber dabei bewenden.
Langsam wurden Elvyan’s Gedanken wieder klarer. Das Treffen, der Wein... Aber was war danach geschehen? Ihr war übel geworden... In ihrer Erinnerung klaffte ein großes schwarzes Loch. Plötzlich wurde ihr die Bedeutung ihres Zustandes klar: SIE war die Auserwählte! Wie ein Schock durchfuhr sie diese Erkenntnis. Wie hatten sie ihr das nur antun können? Hätte sie die Wahl gehabt, sie wäre lieber mit ihren Schwestern in der Schlacht gefallen. Was geschah nun mit ihr? Ein Gefühl der hilflosen Panik überkam sie. Und warum hatten Galwyn und Rheanna sie überhaupt derartig übertölpelt? In dem Wein musste eine Droge gewesen sein! Nein, das konnte nicht stimmen, denn sonst wären alle Schwestern ohnmächtig geworden. Sie alle hatten aus demselben Becher getrunken. Aber warum dann nur sie? War das die Art, auf die die Götter sie ausgewählt hatten? Aber warum war niemand eingeschritten? Ihre Schwestern mussten doch gewusst haben, dass sie niemals geopfert werden wollte. Aber war sie überhaupt ein Opfer? Immerhin war sie die Auserwählte; durfte sie da mit ihrem Schicksal hadern? Sie wäre zumindest gerne gefragt worden!
Panisch schossen ihr unzählige Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Was bedeutete es, die Jägerin zu sein? Warum hatte niemand vorher mit ihr gesprochen, warum hatte sie niemand auf diese Aufgabe vorbereitet? Hatte sie sich womöglich etwas zuschulden kommen lassen? Womöglich irrte sie, und sie war gar nicht die Auserwählte. Ebenso möglich war es, dass sie für irgendetwas bestraft wurde. Nur für was? Sie konnte sich nicht erinnern, eine Strafe verdient zu haben. Oder war sie gar gestorben? Fühlte sich so der Tod an und befand sie sich womöglich auf der Passage ins Unterreich? Das hier konnte einfach nicht das Schicksal einer Auserwählten sein. Dazu gehörten Privilegien, eine Zeremonie, eine feierliche Prozession. Das nahm sie jedenfalls an. Niemand wurde stillschweigend und klammheimlich auserwählt und gleichzeitig übertölpelt! Sie musste sich irgendwie bemerkbar machen, ihren Schwestern mitteilen, dass sie im Begriff waren, einen fürchterlichen Irrtum zu begehen. Das alles konnte unmöglich wirklich geschehen!
"Sie starrt so unheimlich vor sich hin, dass man denken könnte, sie bekommt alles mit." flüsterte Megan und bekam bei ihren eigenen Worten eine Gänsehaut.
"Wollen... nein, dürfen wir das überhaupt mit ihr machen? Sie ist immerhin eine von uns."
"Megan," erwiderte Rheanna aus dem Hintergrund, "sie ist nicht mehr länger eine von uns. Sie ist die Jägerin. Sie steht weit über uns. Sie ist kein sterbliches Wesen mehr. Für sie gelten von nun an andere Gesetze. Ich wäre gern an ihrer Stelle, das kannst du mir glauben. Aber nicht ich wurde erwählt, sondern sie. Wer sind wir, dass wir den Willen der Götter zu bezweifeln wagen?"
"Du hast recht, Rheanna, entschuldige. Es ist nur so... unheimlich."
'Und für mich erst!' wollte Elvyan laut herausschreien, aber wie nicht anders erwartet, blieben ihre Lippen stumm. Verflucht, sahen ihre Schwestern denn nicht, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war? Wenn sie tatsächlich die Jägerin sein sollte, wie Rheanna eben behauptet hatte, warum war sie dann zu völliger Reglosigkeit verdammt? Warum hatte sie selber nicht die Gewissheit, die Jägerin zu sein? Warum verspürte sie diese Panik? Machte sie vielleicht selbst etwas falsch? Sollte eine Jägerin nicht erfüllt sein von erhabenen Gedanken? Sollte sie nicht verflucht nochmal auf irgendeine Art und Weise spüren, dass sie die Jägerin war? Die Götter mussten sich geirrt haben. Es war schiefgelaufen. Es konnte gar nicht anders sein. Elvyan überkam ein schlechtes Gewissen. Bin ich es womöglich nicht wert, die Jägerin zu sein? Liegt es daran? Bin ich denn überhaupt schon die Jägerin, oder werde ich erst zu ihr? Was muss ich tun? Was kann ich tun? Warum weiß ich nicht, was ich als Jägerin zu tun habe, was meine Aufgabe sein wird? Ihre Schwestern setzten ihre letzte Hoffnung auf eine falsche Jägerin. Das konnte doch alles nicht wahr sein!
"Galwyn, es wird Zeit. Der Morgen graut bereits."
Galwyn erwachte aus ihrer Starre. Langsam nickte sie und es schien ihr eine ungemeine Anstrengung abzufordern, die folgenden Sätze auszusprechen.
"Rheanna, lass uns beginnen. Lass uns das Ritual durchführen." Und zu Elvyan flüsterte sie: "Lebe wohl, Elvyan. Vergib mir, es tut mir so leid."
"Hebt die Bahre auf und stellt sie an die Felswand."
Elvyan wurde emporgehoben. Die Frauen lehnten die Bahre an die Felswand. Elvyan’s Körper wurde mit dicken Lederriemen an der Bahre festgebunden.
Galwyn legte einen großen Lederbeutel vor sich auf den Boden und entnahm ihm eine mit Kalk gebleichte Lederrüstung. Llwynn und Tianh streiften Elvyan die Toga aus und legten ihr die neue Rüstung an. Megan hielt Elvyan’s Bogen und den langen Speer in den Händen.
Rheanna hatte begonnen, die nördliche Felswand mit geheimnisvollen Runen zu verzieren. Um die nun senkrecht aufgestellte Bahre formte sie auf dem Boden einen Halbkreis aus Steinen.
Tianh steckte einen großen Kreis mit sieben Fackeln ab. Megan legte den Bogen und den Speer vor Elvyan auf die Erde.
"Galwyn, was ist mit dem Obsidian?" wandte sich Rheanna an Galwyn, nachdem sie mit ihren Vorbereitungen geendet hatte.
"Der Stein! Beinahe hätte ich ihn vergessen." Galwyn löste vorsichtig eine Lederschnur von ihrem Hals, an dem ein pechschwarzer glatter Stein befestigt war. Andächtig drehte sie ihn zwischen ihren Fingern. Der Stein reflektierte das Licht der Fackeln nicht.
"Dann ist es also beschlossen." flüsterte sie bekümmert. "Es gibt kein Zurück mehr." Vorsichtig hob sie die Lederschnur über Elvyan’s Hals und legte ihr das Band um.
Der Stein war seit Anbeginn der Zeit von einer Myn'Tarr Nah' an die nächste weitergegeben worden. Es hieß, er sei einst als Stern vom Himmel gefallen, um dem Stamm das sichtbare Zeichen der Verbundenheit mit der Großen Göttin zu sein. Durch ihn genossen sie den Schutz der Großen Mutter. Mit seiner Weitergabe an die Jägerin besiegelte Galwyn gleichsam das Schicksal des Stammes. Mochte er in einer fernen Zeit erneut die Verbundenheit der Schwestern zu ihrer Göttin besiegeln.
Elvyan konnte nicht glauben was sie mitbekam. Galwyn gab den heiligen Stein an sie weiter! Das durfte nicht geschehen! Sie war keine Myn’Tarr’ Nah’. Sie durfte den Stein nicht besitzen. Hatten denn ihre Schwestern den Verstand verloren? War ihnen noch immer nicht klar, dass sie einen gewaltigen Irrtum begingen? Warum ließ nur diese verfluchte Starre nicht nach? Wenn Elvyan gekonnt hätte – sie wäre fortgelaufen. Weit weg von allem, weit weg von diesem Ort, weit weg von ihrer Aufgabe, derer sie sich sichtlich als unwürdig erwiesen hatte. Fort von ihrer Schande. Rheanna hätte die Jägerin werden sollen. Sie war immerhin die Schamanin. Sicherlich konnte nur eine Schamanin die Rolle der Jägerin ausüben. Aber warum war das außer ihr niemandem sonst klar? Elvyan war kurz davor, ihren Verstand zu verlieren. Ihre Hilflosigkeit, ihr Unvermögen sich bemerkbar machen zu können, ihre Gewissheit, dass irgendetwas gewaltig schief gelaufen war, all das machte sie rasend. Und dennoch zeigte ihr Körper äußerlich keinen Anschein einer Regung.
"Große Mutter, erhöre deine Töchter." intonierte Rheanna. Ihre feste Stimme drang weit über die Grenzen der Lichtung hinaus. "Dir zu Gefallen geben wir das kostbarste, was wir besitzen: Eine Schwester. Nimm sie auf und behüte sie wohl. Und schenke uns deinen Segen für die bevorstehende Zeit."
Dann drehte sie sich zu Elvyan um.
"Du bist die Jägerin,
Dein ist die Rache und Dein ist die Saat.
Dein Herz erkenne die Falschheit,
Dein Pfeil fehle keinen Feind."
Die Fackeln um sie herum spuckten Pechtropfen und begannen heftig zu flackern. Es herrschte kaum Wind.
"Du bist die Bewahrerin der Vergangenheit,
Du bist der Quell der Zukunft,
Du bist das Band, das uns vereint.
Du bist der Geist, der über uns wacht.
Deine Schwestern sollst du erkennen,
sie um dich sammeln und sie lehren,
den Pfad der Jägerin zu gehen!"
Rheanna zeichnete mit dem Finger eine Rune auf Elvyan’s Wange.
Aus der Fackel in Tianh’s Hand schoss eine blaue Stichflamme hervor. Erschrocken zog sie die Hand zurück und lies die Fackel fallen. Der Boden erzitterte.
"Erhöre mich, oh Jägerin, und lausche dem Blut,
erkenne dein Wesen, ich rufe deinen Namen,
Bei der Großen Mutter,
Elvyan Tir’Rhiann, Du bist die Jägerin!
Erkenne Dich!"
Die Runen auf der Felswand leuchteten gleißend auf und erhellten die Gesichter der Frauen mit gespenstischem Licht. Auch die Rune auf Elvyan’s Wange begann hellrot aufzuglühen und brannte sich tief in ihre Haut hinein. Es roch nach verbranntem Fleisch.
Bis zu diesem Augenblick hatte Elvyan das Geschehen zur Reglosigkeit verdammt mit ansehen müssen. Doch plötzlich spürte sie erstmals seit ihrer Ohnmacht in Galwyn’s Hütte wieder ihren Körper. Ihre linke Wange begann zu kribbeln, und schon kurz darauf verwandelte sich das Kribbeln in einen brennenden Schmerz. Ein Ruck ging durch ihren gesamten Körper. Sie nahm Geräusche wahr, die sie vorher nicht gehört hatte. Es glich einem Wispern, das aus allen Richtungen auf sie eindrang. Rhythmisch, pulsierend. Das Licht der Fackeln verwandelte sich in ein unnatürliches Indigo. Ein Knistern wie von unzähligen kleinen Blitzen lief ihre Arme herab und löste sich erst in den Fingerspitzen auf. Ihr Körper bäumte sich auf, wurde für einen Augenblick von den schweren Lederriemen, die sie an die Bahre fesselten, zurückgehalten, um sie kurz darauf mit dem schneidenden Geräusch eines Peitschenknalls zu sprengen. Ihr Blick flog den Himmel hinauf. Sie konnte die Sterne in nie gekannter Klarheit erkennen. Geräusche prasselten von allen Seiten auf sie ein. Das Trippeln einer Maus, die im Unterholz verschwand, das weit entfernte Grunzen eines Ebers, der Flügelschlag eines Nachtfalters. Dann traf sie die Erkenntnis mit voller Wucht: Sie WAR die Jägerin.
Und im Augenblick der Erkenntnis kam das Vergessen. Die Frau, die einstmals Elvyan Tir’Rhiann gewesen war, sank besinnungslos rücklings durch den Stein der Felswand.
Schlagartig erloschen die Fackeln und auch das Glimmen der Runen war vergangen.
"Bei den Göttern!" zischte Llwynn zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Elvyan war verschwunden. Der Stein hinter ihr hatte sie aufgenommen, als wäre sie durch Wasser geglitten.
Schweigend standen die Frauen in einem Halbkreis um Elvyan’s steinernes Grab. Niemand wagte etwas zu sagen.
Schließlich überwand sich Llwynn und stellte der Ergriffenheit in ihrer Stimme zum Trotz die Frage:
"Ok, war’s das jetzt?"
Galwyn blickte unsicher zu Rheanna hinüber. Die Schamanin nickte erschöpft.
"Ich glaube schon. Hoffentlich haben wir alles richtig gemacht."
"Wird schon schief gehen." grinste Llwynn schief in die Runde.
Galwyn blickte beklommen auf die Stelle der Wand, an der eben noch die Bahre mit Elvyan gelehnt hatte. Die Bahre lag auf dem Boden. Die Lederriemen, mit denen sie Elvyan auf ihr festgeschnallt hatten, baumelten in Fetzen an ihr herab. Seufzend griff sie an ihren Hals, zog ihre Hand jedoch gleich wieder zurück. An den Verlust des Steines würde sie sich erst noch gewöhnen müssen. Seit siebzehn Jahren hatte sie ihn nicht ein einziges Mal abgelegt. Sein Fehlen konnte sie geradezu körperlich spüren.
Sie sollte nicht lange unter diesem ungewohnten Gefühl zu leiden haben.
"Gehen wir, Schwestern. Hier gibt es für uns nichts mehr zu tun."
Epilog
Die Schlacht war vorüber. Dûn Kharreigh war bis auf die letzten Palisadenstümpfe niedergebrannt. Die Rauchwolke, die von diesem Inferno zeugte, kräuselte sich noch immer weit in den Himmel hinauf.
In den Baumwipfeln des nahegelegenen Waldrands hingen die geschändeten toten Körper der einstmals wehrhaften Frauen.
Über dem Ort lag tiefes Schweigen.
Azzur schüttelte seine zerzauste Mähne aus. Er hatte wie alle anderen wacker gekämpft. Allein durch seine Hufe waren mehr als ein halbes Dutzend Gegner gefallen. Doch der Kampf war nie zu gewinnen gewesen. Spätestens als die Angreifer die Palisade genommen hatten, hatte der Ausgang der Schlacht festgestanden.
Ihm hallte noch der lang verklungene Schlachtruf in den Ohren nach, mit dem sich Galwyn und Llwynn, die beiden letzten Überlebenden, freiwillig in die Speere ihrer Gegner geworfen hatten.
Die fremden Männer hatten die Speicher geplündert und anschließend an mehreren Ecken Brände gelegt. Sie hatten die Leichen ihrer Gegnerinnen geschändet und danach in den Bäumen aufgehangen. Schließlich waren sie abgezogen.
Irgendwann war Azzur in den Wald geflüchtet. Er wusste nicht mehr genau wann.
Er hatte seine Reiterin schmerzlich vermisst. Seit zwei Tagen hatte er sie bereits nicht mehr zu Gesicht bekommen, aber er war sich sicher gewesen, dass sie heute bei dem großen Kampf in vorderster Reihe mitkämpfen würde. Er hatte vergeblich gewartet.
Einige andere Pferde waren eingefangen und verschleppt worden. Anderen waren die langen Speere der Angreifer zum Verhängnis geworden. Auch in Azzur’s Flanke klaffte eine tiefe Wunde. Bis zu diesem Augenblick hatte er den Schmerz ignorieren können, doch nun konnte er kaum noch sein linkes Bein anheben, ohne vor Schmerz halb besinnungslos zu werden. Er wusste instinktiv, dass er diese Verletzung nicht überleben würde.
Hier gab es für ihn nichts mehr zu tun. Langsam trottete er lahmend den kleinen Weg nach Süden hinab, fort von diesem unheilvollen Ort, an dem er früher so viele glückliche Jahre verbringen durfte.
Er suchte die Einsamkeit, und dennoch wollte er die letzten ihm verbleibenden Stunden nicht tatenlos abwarten. Er folgte der Spur, die die Frauen in der vergangenen Nacht hinterlassen hatten, als sie in stiller Prozession den schweren Karren ebendiesen Weg entlanggeschoben hatten.
Azzur wusste nicht, warum er ausgerechnet dieser Spur der Vergangenheit folgte. Es erschien ihm einfach auf eine ganz bestimmte Art und Weise vertraut. Etwas Vertrautes tun, einer vertrauten Spur folgen in einer Welt, in der seit heute alles aus den Fugen geraten war. Er spürte, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb.
Als er am Sumpf ankam, konnte er von der nahen Wachstation den Klang von Trommeln und grölendem Gesang vernehmen. Die Angreifer feierten trunken von Siegestaumel, den erfolgreichen Ausgang der Schlacht.
Sein Hinterlauf knickte plötzlich ein und Azzur stürzte seitlich in den Schlamm. Es kostete ihn eine Ewigkeit und unsägliche Schmerzen, um von allein wieder auf die Beine zu kommen.
Die Nacht brach schon herein, als er schließlich den Eingang zu dem kleinen versteckten Hochplateau erreicht hatte. Er kannte diesen Ort. Einmal im Jahr war er mit den Frauen hierher gekommen und die Frauen hatten die ganze Nacht hindurch gefeiert. Es war "ihr" Ort.
Mühsam erklomm er den steilen Aufstieg. Er blutete heftig aus der tiefen Wunde und konnte kaum noch klar denken, als er schließlich oben in dem kleinen geschützten Hochtal angekommen war.
Und sofort spürte er es: SIE war hier gewesen.
Er konnte sie nirgends entdecken, aber er konnte ihre Präsenz deutlich wahrnehmen. Instinktiv schleppte er sich hinüber zu der mit verglommenen Runen übersäten Felswand. Er wollte unbedingt dorthin. Wenn ihm vorher wieder das Bein wegknickte, das wusste er genau, würde er nie wieder aufstehen können.
Er würde hier auf sie warten. Irgendwann würde sie zurückkehren, und dann würde er hier sein. Sie konnte nicht weit entfernt sein, dazu war ihre Nähe zu deutlich zu spüren.
Umständlich lehnte er sich an den kalten Fels und glitt langsam an der Wand herab. Noch einmal durchzuckte ihn heftiger Schmerz. Dann lag er im feuchten Gras und die Kühle des Bodens linderte das Feuer in seinem Körper.
Wenn sie zurückkehrte, würde er hier sein.
Friedlich schlief Azzur ein, um nie wieder aufzuwachen.
***
Langsam ebbte ihre Benommenheit ab. Ihre Fingerspitzen tasteten zitternd durch das feuchte Gras, auf dem sie lag, und versuchten einen vorsichtigen Kontakt zur Realität herzustellen. Kühl perlten die Tautropfen auf den Gräsern über ihre Haut.
In ihrem Kopf drehte sich alles, aber ganz allmählich klärte sich ihr Blick. Sie fand zurück.
Kalter Schweiß bedeckte ihren nackten Körper und unwillkürlich begann Elvyan zu frösteln. Sie fühlte sich, als hätte sie tagelang hier auf dem kalten Boden herumgelegen. Vorsichtig winkelte sie unter Schmerzen eines ihrer Knie an. Und langsam dämmerte ihr, was mit ihr geschehen war: Sie hatte eine tiefgreifende Verwandlung durchlebt.
Bislang hatte sie sich in einer Art Dämmerzustand befunden. Alles was sie Tat, tat sie aus einem tiefen Instinkt heraus. All ihre Gedanken waren nie durch diese Mauer der Selbsterkenntnis gedrungen. Doch nun war alles anders.
Elvyan seufzte tief. Sie war sich ihrer Bewusst. Nicht mehr nur der Instinkt bestimmte ihr Handeln, sie war nun frei zu entscheiden.
Sie hatte ihre Erinnerungen zurückerlangt. Erinnerungen an eine schreckliche Tragödie, die sie hatte zu dem werden lassen, was sie nun war: Die Jägerin.
Aber sie hatte auch all die schönen und wertvollen Erinnerungen geschenkt bekommen, die ihr ihre neue Existenz erträglicher machten. Ihre Schwestern, ihre Tochter, ihr glückliches Leben in Dûn Kharreigh.
Rheanna hatte sich geirrt. Sie war nicht einfach nur die Jägerin. Elvyan lächelte erleichtert. Nein, sie war ein Zwitterwesen, in dem das Bewusstsein zweier Existenzen lebte, die miteinander verschmolzen waren. Sie war Elvyan und die Jägerin zugleich. Sie war nicht zu einem gesichtlosen Racheengel geworden, sie war keine geistlose Bewahrerin uralter Mythologien. Sie war kein neues, kein gänzlich anderes Wesen geworden. Die Göttin hatte Gnade walten lassen.
Ihr war das Privileg des Neubeginns gegeben. In ihrer Hand lag es, den einst so stolzen Stamm mit einem neuen Bewusstsein zu erfüllen. Mit neuem Stolz - und mit einer Vergangenheit. Sie war die Lehrerin. Durch sie lebte ihr Stamm weiter.
Und ihr Stamm existierte noch immer. Sie war gerufen worden. Es war der Obsidian. Er war verschwunden und sie konnte sich nicht erklären, wie das geschehen war. Aber eines war offensichtlich: Der Obsidian hatte seine Bestimmung gefunden.
Galwyn’s Befürchtungen waren demnach unbegründet gewesen. Irgendwie hatte der Stamm überlebt. Sei es, dass doch eine der Schwestern davongekommen war, sei es, dass die Wurzeln des Stammes in noch fernerer Vergangenheit lagen, als sie es sich bisher hatte vorstellen können. Es war das Blut, das zählte. Die Linie der Mutter. Und es war der Geist. Der Geist der Großen Göttin.
"Deine Schwestern sollst du erkennen,
sie um dich sammeln und sie lehren,
den Pfad der Jägerin zu gehen!"
Nun endlich verstand sie. Endlich verstand sie, was sie bei ihrem Erwachen bereits instinktiv gespürt hatte: Eine neue Kraft war erwacht. Lange Zeit hatte sie im Verborgenen geschlummert, doch nun schien die Zeit reif für einen Neubeginn.
Und noch ein Geschenk war ihr vergönnt gewesen: Sie musste ihre Aufgabe nicht allein bewältigen. In ihrer Gnade hatte die Große Mutter ihr einen Gefährten an die Seite gestellt: Azzur.
Eine Träne rann über ihre linke Wange und zeichnete sanft der Linien der eingebrannten Rune nach. Er war alles, was ihr von ihrem alten Leben geblieben war. Er war der Fels.
Langsam erhob sich Elvyan aus dem feuchten Gras. Die Mondsichel hing noch immer hoch oben am Nachthimmel und ein sanfter Wind blies über die Lichtung. Azzur stand neben ihr und schubberte seine Nase an ihrer Wange, als wolle er ihre Tränen trocknen. Zärtlich strich Elvyan ihm über den Kopf.
Ihr Blick wanderte hinauf zu den Sternen, die in diesem Augenblick besonders hell zu leuchten schienen. Nur für sie. Beinahe war ihr, als winkten ihr die Himmelslichter versöhnlich zu.
Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen, und zum ersten Mal hatte sie keine Angst mehr.
Die Göttin war groß.
Weit entfernt über den Baumwipfeln zog eine Eule ihre Kreise, schraubte sich immer höher in den Himmel hinauf und wurde bald darauf vom Dunkel der Nacht verschluckt.
[Beitrag editiert von: Roede Baer am 18.12.2001 um 14:41]