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Die Kälte

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09.11.2005
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Die Kälte

Rainer wusste, dass es eine harte Nacht werden würde. Er brauchte keinen Wetterbericht, um das vorherzusagen, ein Blick auf den sternenklaren Abendhimmel genügte vollauf.
Eine Nacht wie geschaffen für frisch verliebte Pärchen. Wer in einer solchen Nacht nicht den dicksten Mantel aus dem Schrank holte, dazu Schal und Mütze, und mit seiner Liebsten zu einer einsamen Wiese ging, um hoch zu den funkelnden Sternen zu blicken und ihr mit feierlicher Stimme zu versprechen ihr den schönsten zu pflücken, wer das nicht tat, der verdiente es ein Buchhalter genannt und in einem Aktenschrank beerdigt zu werden.
Dampfender Atem, rehbraune Augen unter dem Rand einer wollenen Pudelmütze und ihre Fußspuren im Frost auf dem Gras. Rainer erinnerte sich daran, wie man sich an eine Filmszene erinnert.
Ja, es würde eine harte Nacht werden, aber nur zum Teil wegen der Kälte. Rainer kletterte in den gelben Müllcontainer und polsterte den Boden mit Kartons. Die Kälte war nicht allein das Problem. Aus einer Plastiktüte zerrte er den guten Schlafsack, seinen wertvollsten Besitz. Der würde ihn noch bei minus vierzig Grad warm halten, versprach jedenfalls das fadenscheinig gewordene Etikett im Inneren. Nun, vierzig Grad würde es nicht geben, wahrscheinlich würden sie keine zwanzig erreichten, aber es würde kalt genug werden, um ihn wach zu halten.
Rainer wusste aus Erfahrung, ihm stand eine unruhige Nacht bevor mit kurzen Schlafintervallen, aus denen er immer wieder frierend erwachen würde, und dann, wenn der Mensch am müdesten ist, wenn der Grenzübergang von Bewusst- und Unterbewusstsein unbesetzt ist, so zwischen drei und fünf Uhr morgens, würden seine Dämonen ihn besuchen kommen. Und jemand wie Rainer hatte viele Dämonen mit langen, rasiermesserscharfen Fangzähnen.
Als das Nachtlager hergerichtet war, setzte er sich in den Container, um ihn mit seiner Körperwärme zu füllen. Seufzend öffnete er seine letzte Bierflasche. Während er trank, dachte Rainer an rote Lippen und weißen Atem und die Grübchen, die ihr Lachen bereits im Voraus ankündigten, ehe sie den alten Kinderscherz machte: „Sieh mal, ich rauche!“
Rainer lächelte selber darüber, dass er heute so sentimental war.
Hm, dachte er mit einem Blick auf die Flasche in seiner Hand. Was ist los mit dir, Freund Alkohol? Früher hast du Vergessen gebracht, heute zersetzt du nur noch meine Leber. Kann es sein, dass du allmählich alt wirst?
Rainer nahm den nächsten Schluck aus seiner Flasche.
Wir werden beide alt, dachte er. Wir werden beide langsam zu alt für den Scheiß, mein Freund.
Als er die Flasche ausgetrunken hatte, leerte er die letzten Tropfen jenseits seiner Behausung für die Nacht, schlug ein letztes Mal sein Wasser an einer nahen Mauer ab und ging zurück. Er packte die Flasche in seine Leerguttüte zu den anderen und deponierte sie am Fußende. Damit waren Rainer die Entschuldigungen ausgegangen, außerdem wurde es empfindlich kalt. Er zog sich in den Container zurück, schloss den Deckel so, dass er durch einen kleinen Spalt noch genug Luft bekam und kuschelte sich in der Finsternis in seinen Schlafsack.
Rainer wunderte sich, dass sie nicht fror, als er sie mit seinen dicken Fäustlingen an der Taille fasste und weiter an sich ran zog. Er konnte die Konturen ihres Körpers unter dem Mantel fühlen, während er sich, eingepackt in einen dicken Wollpullover und Dufflecoat vorkam wie das Michelin - Männchen oder ein Astronaut in einem Raumanzug.
Über ihnen war der Nachthimmel so klar, als hätte jemand die Sternbilder auf die Unterseite eines schwarzen Zeltdachs gemalt und anschließend über ihnen aufgebaut.
Ihre Lippen waren rot gemalt, ihr Gesicht blass und der Kragen ihres dunklen Mantels hochgeschlagen. Langsam näherten sich ihre Gesichter einander an. Dann berührten ihre Münder sich und sie küssten einander zum ersten Mal.
Zu Beginn hielt er sie in seinen Händen, als wäre sie zerbrechlich. Der Kuss und das Spiel ihrer Zungen waren zärtlich, wie in Zeitlupe. Dann rutschte die Szenerie ab und wurde unversehens leidenschaftlich.
Sie drängte sich an ihn und ihr Mund wurde immer fordernder. Er spürte ihre Hand auf seinem Bauch, wie sie auf und ab wanderte und schließlich an seinem Gürtel zu nesteln begann.

Der letzte Elfmeter war geschossen und das Spiel vorbei. England, wie immer. Wie immer, wenn England in einem großen Turnier ins Elfmeterschießen musste, versagten die Nerven und sie fuhren nach Hause. Hochanständig von David Beckham die Verantwortung zu übernehmen und anzutreten. Mittlerweile sollte er doch bewiesen haben, dass er den Mumm dazu hatte, aber nicht die Nerven oder das Glück. Hoffentlich ersparte man ihm derlei in der Zukunft.
Seltsam, wie ausgerechnet das Elfmeterschießen immer wieder Helden entthronte, so wie 1994 Roberto Baggio, erst der Held des Turniers, dann verschießt ausgerechnet er den entscheidenden Elfmeter gegen Brasilien.
Das Licht im Saal wurde wieder hell und das große Stühlerücken begann. Obwohl die Europameisterschaft schon lange vorbei war und Rainer das Spiel schon mehrmals gesehen hatte, war er jedes Mal aufs Neue enttäuscht und fühlte mit dem zusammengesunkenen Männern auf dem Rasen mit. Ob ihre verschossenen Elfmeter Baggio und Beckham wohl zu persönlichen Dämonen geworden waren, die sie in schlaflosen Nächten heimsuchten?
Als er sich am Ausgang nach seinem Freund Sebastian umsah, stieß er mit ihr zusammen.
So hatten sie sich kennen gelernt und keine drei Stunden später lag er bei Minusgraden auf dem Rücken auf einem Raureif bedecktem Feld und mit heruntergelassener Hose, während sie sich auf ihn setzte.
Bis zu diesem Zeitpunkt hätte Rainer sein Leben vielleicht nicht als langweilig, sicher aber als ruhig beschrieben. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass ihm einmal etwas so Aufregendes passieren würde; Sex unter freiem Himmel mit einer wunderschönen, rassigen Frau, die er erst vor ein paar Stunden kennen gelernt hatte.
Sie stützte sich mit den Händen auf seiner Brust auf und ließ ihr Becken rollen. Dann legte sie ihren Kopf in den Nacken und richtete sich auf. Sie schlug ihren Mantel zurück und ihre vollen Brüste kamen zum Vorschein und Rainer riss die Augen auf.
Als er kam, als er glaubte, dass auch sie kam, leuchteten ihre Pupillen gelb, ihre Gesichtszüge waren verzerrt, wie entgleist und ihre Hände krallten sich in seine Brust und zerrissen seinen Pullover und das Hemd darunter.
So einen Orgasmus hatte Rainer noch nicht gehabt. Er hatte nicht das Gefühl, als würde er seinen Samen in sie spritzen, sondern als würde er aus ihm herausgesogen und zusammen mit ihm noch etwas Anderes, etwas Größeres. Als es vorbei war, lachte sie schrill mit unmenschlicher Stimme auf.
Rainer fühlte sie wie zerschlagen. Obwohl es unbegreiflich war und es so was eigentlich nicht gab, nicht gebend durfte, verstand er beinahe augenblicklich. Immer noch auf ihm knöpfte sie gelassen ihren Mantel zu. Mit gelben Augen blitzte sie ihn spöttisch an. Erst dann stand sie auf und ging langsam den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Rainer war froh, dass es gegangen war und er alleine war. Sie hatte das Feld noch nicht verlassen, da ließ er seinen Kopf auf das kalte, harte Gras sinken und schluchzte trocken. Nach dem Verstehen sickerte langsam und allmählich das Begreifen in seinen Kopf. Es war so ungeheuerlich, dass er sich dagegen wehrte. Wiederstand war aber zwecklos. Das Begreifen schnürte seine Kehle zu, legte ein eisernes Band um seine Gedanken und trocknete die ungeweinten, nutzlosen Tränen.
Das Begreifen hieß Rainer sich aufrichten, seine Kleider und Gedanken ordnen. Die Frau war keine Frau gewesen, kein weibliches Wesen. Jedenfalls nicht weiblich in dem Sinne, in dem er es kannte. Die unbekannte Schönheit war ein Dämon aus der Hölle gewesen. Aus den feurigen Schlünden der Hölle, deren Existenz er noch vor wenigen Minuten als Aberglauben verspottet hätte war sie zu ihm gekommen, um das zu tun, wozu sie da war. Es war ein Handel gewesen, ein Geschäft. Sie, oder es, hatte Rainer das unvergessliche Erlebnis seines Lebens beschert; den Sex, an den er sich noch als Großvater erinnern würde, die Küsse, deren Nachgeschmack er noch nach Jahrzehnten auf den Lippen haben würde, wenn er sie ableckte. Aber der Preis dafür war höher als ein deutlich sichtbarer Knutschfleck, der die peinlichen Fragen von Nachbarn und Freunden nach sich zieht. Sie hatte ihm seine Seele genommen und das war ein hoher Preis, soviel war Rainer klar, noch ehe er verstand was es bedeutete. Die Bande, die ihn mit den anderen Menschen verbanden, jene zarte Seilschaft war jetzt zerrissen.
Mit einem Mal war Rainer auf den Füßen. Er fühlte sich kaum anders als vorher. Der Körper gehorchte seinen Befehlen wie zuvor. Er ballte die Hände zu Fäusten. Nur, dass es kein menschlicher Köper mehr war. Der Gedanke verwirrte Rainer. Er blickte an sich herab und konnte keine Veränderung feststellen. Immer noch ein Mensch, zumindest ein menschlicher Körper. Die Veränderung war nicht sichtbar, sondern hatte ihn ihm stattgefunden.
Er setzte sich in Bewegung. Er ging denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Bald fiel er in einen Laufschritt ein. Sein Herz begann schneller zu schlagen und seine Lungen schmerzten ihn irgendwann, als er sich unbarmherzig weiter trieb. Selbst als seine Muskeln an den Beinen, in den Oberschenkeln und am Schienbein zu schmerzen begannen, lief Rainer weiter. Er missachtete die Warnzeichen seines Körpers, in dem er sich jetzt fremd fühlte. Eine unerwünschte Hülle, die man ihm übergestreift hatte. Er war nur ein Leck geschlagenes Gefäß, das Innen hohl war.
Rainer biss sich auf die Zähne und lieg schneller. Längst war er in den beleuchteten Straßen der Stadt angelangt. Hinter jeder Laterne wurde er von seinem eigenen Schatten überholt. Sein Blick heftete sich dann auf dieses schwarze, unproportionierte Abbild seiner selbst. Hassgefühle kamen in ihm auf, aber er konnte seinen schattenhaften Begleiter nicht abschütteln, so sehr er sich auch bemühte.
Unmöglich zu sagen, wie weit Rainer gerannt war, ehe er an einer weiß getünchten Mauer vor einem Burschenschaftshaus kollabierte. Keuchend ließ er sich gegen die Mauer sinken. Seine Kleider klebten Schmutz durchtränkt an seinem Rücken und er dampfte in der klaren Nacht im Schein einer nahen Laterne als schwelte in seinem Inneren ein Brand.
Rainer keuchte und rang nach Atem. Eine plötzliche Übelkeit überkam ihn und er würgte. Trotz allem funktionierte dieser noch. Rainer bemerkte, dass er sich wieder erholte. Noch immer war er nicht bis an die Grenze dieser Maschine gelangt, nur eine temporäre Unterversorgung mit Sauerstoff, eine Übersäuerung der Muskeln. Er war weit davon entfernt ernsthaften Schaden verursacht zu haben.
Rainer richtete sich auf. Gegen einen Baum gelehnt wartete er darauf, dass seine Beine zu zittern aufhörten.
Hinter dem Baum, außerhalb seines Sichtfeldes, wurden Schritte laut. Das Geräusch der klappernden Absätze kam langsam aber stetig näher, direkt auf ihn zu.
Rainer schloss die Augen. Er wollte nicht gesehen werden und niemanden sehen. Er wollte alleine sein.
Die Schritte hatten ihn beinahe erreicht. Rainer erkannte das Klappern der Absätze von ledernen Damenstiefeln. In einem anderen Leben hätte er sie passieren lassen und einen raschen, verstohlenen Seitenblick auf einen sich wiegenden Hintern in der engen Jeans geworfen.
In einem anderen Leben.
Als sie ihm so nah war, dass er ihr süßes Parfum riechen konnte und nur seinen Arm ausstrecken musste, um sie berühren zu können, hatte Rainer eine Erkenntnis.
Er öffnete die Augen gerade in dem Augenblick, da sie ihn passierte. Als sie ihn bemerkte, zuckte sie vor Schreck zusammen, doch dann war Rainer schon über ihr. Er warf sein ganzes Gewicht gegen sie und während sie fielen, fand seine Hand ihren Mund und presste sich hart dagegen, aber es ging sowieso alles viel zu schnell. Die Zeit, wo sie zu schreien versuchen würde, war noch nicht gekommen.
Als Rainer wieder zu sich kann. Starrte er auf weiße Haut, die in der Kälte bebte. Er sah graue Augen, hinter denen sich Angst eingenistet hatte. Die kleinen schwarzen Pupillen folgten noch der geringsten seiner Bewegungen, als bestünde er aus vielen, unabhängig voneinander agierenden Teilen, von denen jeder einzelne todbringend sein konnte.
Rainer konnte fühlen wie schwach und wehrlos sie war. Er hatte sie völlig, hatte sie ganz und gar gebrochen und besiegt.
Langsam, als hätte sie ein Eigenleben, rutschte seine Hand von ihrem Mund. Sollte sie doch schreien. Er fühlte sich leer, leerer als zuvor. Das kostbare Gefäß war zerschlagen und lag in Scherben.
Sie schrie nicht. Ihre Unterlippe zitterte auf eine Weise, die Rainer nie zuvor gesehen hatte; nicht vor Wut oder Kälte oder weil sie zu heulen anfangen würde. Die Unterlippe zitterte einfach.
„Gelbe Augen“, flüsterte die Frau kaum hörbar und dann noch einmal, lauter: „Gelbe Augen.“
Rainers Hände schlossen sich um ihren Hals und er drückte zu so hart er konnte, bis die Zuckungen des Doppelkinns endeten und die Angst aus den grauen Augen verschwand und sie gebrochen durch ihn hindurch blickten.
Ruhig durchsuchte Rainer ihre Handtasche, nahm das Geld, das sie bei sich hatte und ging. Das Portemonnaie mit ihren Papieren warf er in die nächste Mülltonne. Kein Mensch mehr, ein Dämon aus den feurigen Schlünden der Hölle, die er jetzt noch nicht gesehen hatte.
Rainer erwachte frierend, kalten Schweiß auf der Stirn. Er musste es sich nicht noch einmal vor Augen rufen, um zu wissen, was er geträumt hatte. Seine Hand tastete in der Dunkelheit umher, aber es war sowieso nichts mehr zu trinken da. Er erinnerte sich daran, was aus der letzten Flasche Bier geworden war, überschlug sine Chancen an eine neue zu kommen und wickelte sich dann fester in seinen Schlafsack. Der Alkohol brachte ihm ohnehin kein Vergessen mehr. Fast hätte Rainer bei dem Gedanken gelächelt.

Er nannte sich selbst Lazarus. Der lange, mit grauen Strähnen durchsetzte Bart war ebenso verfilzt wie die Haare. Der verschlissene Mantel hing an ihm, dass es aussah als wäre er ein Parasit, der sich von dem hageren Mann ernährte und nicht wie ein Kleidungsstück, das getragen wurde. Lazarus war eindeutig nicht mehr bei ganz beisammen. Wenn der Verstand eines Menschen ein klarer See ist, dann war der von Lazarus ein sterbender, Algen verseuchter Tümpel. Aber der Alte hatte auf den ersten Blick erkannt wer oder was Rainer war. Außerdem balancierte der gerade selber, getrieben von inneren Dämonen, auf dem schmalen Grad zwischen Wahnsinn und Realität und verlor dabei häufig die Balance.
Die Gesichter der Toten verfolgten ihn in seinen Träumen. Nur ihre Köpfe waren da. Sie sprachen mit ihm, nicht mit ihren Mündern, aus denen zum Teil geschwollene, erdrosselte Zungen quollen, sondern mit ihren gebrochenen Augen. Sie zwinkerten, blinzelten, sie rollten ihre toten Augen, in denen kein Glanz mehr war. Sie zürnten Rainer. Er verstand kein Wort von dem, was sie sagten.
Lazarus erklärte ihm, warum er nachts schreiend aus solchen Träumen erwachte. Seine Rede war durchsetzt mit unverständlichem Gebrabbel, das keinen Sinn ergab – jedenfalls nicht für Außenstehende – und nützlichen Anweisungen für das Überleben auf der Straße.
„Deine Seele, deine arme, arme Seele, Junge. Du machst zuviel Aufhebens um deine Seele. Hast du eigentlich eine Ahnung was das gewesen ist, deine Seele?“ Der Alte zog an einer selbstgedrehten Zigarette, deren Tabak aus auf der Straße aufgelesenen Stummeln stammte und stank wie verbranntes Gummi oder Schlimmerem. Der Alte hustete keuchend. Sein Atem rasselte dabei, als würde sich seine Lunge in Bröckchen auflösen.
„Also keine Ahnung. Stell dir vor, deine Seele wäre eine Spielkarte. Hast du schon mal Golf gespielt, Junge, Minigolf? Da kriegst du so eine Karte, auf der du deine Ergebnisse eintragen kannst.“ Lazarus kicherte. Irgendeine halb verschüttete Erinnerung brachte ihn zum Lachen. Rainer wartete geduldig. „Während du spielst, kann dir die Karte nichts anhaben. Du schleppst sie mit dir rum und trägst brav deine Schläge darauf ein. An Loch 3 vier Schläge, am vierten hast du fünf gebraucht und am fünften nur einen. Juhu!“ Lazarus riss seine dürren Arme in die Höhe, als hätte Rainer wirklich gerade einen Ball mit nur einem Schlag versenkt. Gleich darauf drohte er ihm mit seinem knochigen Zeigefinger.
„Aber nicht schummeln. Schummeln gilt nicht. Aber wenn die Karte deine Seele ist, dann führt sie sowieso jemand anders für dich. Dann kannst du gar nicht schummeln. Du musst bloß spielen. Keine Sorge, wenn mal ein Schlag daneben geht, du merkst gar nicht wie er eingetragen wird. Du hast vergessen, dass es diese Karte überhaupt gibt.“ Wieder kicherte der Alte, dieses Mal aber wohl über etwas, das er gerade gesagt hatte. „Natürlich ärgerst du dich darüber, wenn du den Ball nicht ins Loch kriegst. Du hast keine Ahnung, ob du in Führung liegst oder wo du stehst, aber es ist egal. Du ärgerst dich, weil es ein schlechter Schlag war, verstehst du? Verstehst du, was ich dir sagen will, Junge?“
Rainer schüttelte den Kopf und der Alte kicherte wieder. Rainer wurde nicht ungeduldig. Lazarus würde es ihm ja doch erklären. Er war viel zu dankbar dafür einen Zuhörer gefunden zu haben, um es nicht zu tun.
„Das ist der Unterschied zwischen deinem Gewissen und deiner Seele, mein Junge. Dein Gewissen sorgt dafür, dass du dich jedes Mal darüber ärgerst, wenn du einen Schlag verpatzt. Es ist die ganze Zeit über da. Deine Seele ist aber wie diese Karte, auf der man die Ergebnisse einträgt. Vergiss sie, sie ist unwichtig. Erst wenn das Spiel zu Ende ist und die große Abrechnung gemacht wird, die ganz große Abrechnung, wird sie wieder hervor geholt. Da steht dann alles drauf, aber das ist erst am Ende von Bedeutung.“
„Und jetzt, wo ich keine Seele mehr habe, warum habe ich da noch ein Gewissen?“
„Jetzt hast du keine Karte mehr.“ Der Alte kicherte wieder, bis er zu husten anfing. Wieder rasselte es in seiner Brust. „Du spielst zwar noch mit, aber deine Versuche zählen nicht mehr fürs Endresultat. Es ist jetzt egal wie gut du bist. Das zählt zwar nicht mehr, aber wenn du schlecht spielst, ärgerst du dich trotzdem. Hier drinnen hat sich nichts geändert.“ Er versuchte Rainer mit seinem knöchernen Zeigefinger gegen die Stirn zu tippen, doch der war schneller und zog den Kopf weg.
„Also spiele ich nicht mehr mit“, stellte Rainer fest.
„Natürlich tust du das noch. Das hier ist die Erde.“ Der Alte klopfte mit der flachen Hand auf die Pflastersteine, auf denen sie saßen. „Und du lebst. Also spielst du weiterhin mit. Du kannst bloß nicht mehr gewinnen, das ist alles.“ Der Alte tippte sich gegen die Stirn. „Hier drinnen hat sich nichts geändert, gar nichts. Dass du keine Seele mehr hast, bedeutet bloß, dass du einfährst am Ende, wenn die Abrechnung kommt. Ganz gleich wie vielen alten Damen du im Bus einen Sitzplatz anbietest, am Ende wird es böse für dich enden. Aber bis dahin“, er zuckte mit den Schultern, „bis dahin bleibt alles beim Alten.“
„Die Menschen, die ich getötet habe“, flüsterte Rainer.
Lazarus zuckte mit den Schultern. Allmählich verlor er das Interesse an diesem Gespräch.
„Lausiger Spieler“, sagte er zerstreut. „Der schlechteste, dem ich je begegnet bin und du weißt das selbst, daher die Träume nachts in deinem Kopf. All die furchtbar vermasselten Schläge.“
Lazarus war der letzte gewesen, den Rainer tötete. Nicht deshalb, weil er ihm nicht geglaubt hätte, er hatte sofort gewusst, dass der Alter recht hatte, aber er wusste ihm zuviel. Zuviel von Rainer du was er getan hatte und zuviel von alledem. Als die Pupillen gelb wurden, ehe der Blick brach, hatte Rainer zufrieden genickt. Außerdem hatte er es immer schon gehasst, Junge genannt zu werden.
Als Rainer das nächste Mal aufwachte, waren sie alle da. Der Kopf des alten Lazarus war da, der der dicken grauäugigen Frau, des Jungen mit dem Skateboard und der der Nutte, deren Blut er in der vierten Nacht getrunken hatte, und natürlich der des Bänkers mit dem Kaschmirmantel, den zu tragen sich Rainer dann doch nicht getraut hatte.
Sie alle blinzelten, zwinkerten, schielten und rollten mit den Augen. Aber diesmal konnte Rainer sie verstehen.
warum hast du das getan, ich kannte dich nicht einmal. hast du denn gar nichts verstanden, junge? ich habe ihnen doch meine brieftasche gegeben. nichts habe ich dir getan, kleiner, gar nichts. meine eltern haben eine woche durch geweint. ich hatte eine kleine tochter, einen festen freund, bruder, mutter kann nicht mehr atmen will nicht sterben warum ich
„Ruhe“, sagte Rainer. „Ruhe. Ruhe!“ brüllte er und die Kakophonie in seinem Kopf endete. Alle toten, wässrigen Augen waren auf ihn gerichtet. Ihre gebrochenen Augen durchbohrten ihn.
„Was willst du?“ fauchte Rainer den Alten an. „Was hast du gedacht, dass ich dir dankbar bin für das, was du mir gesagt hast? Und ihr, was schert es euch, dass ihr tot seid? Ihr seid tot.“ Reiner lachte auf. „Nichts schert euch mehr, ihr seid ja tot. Ruhe“, unterbrach er ein Auge, das zu rollen anfing. „Was hast du schon aus deinem Leben gemacht? Du wusstest gar nicht, ihr wusstet gar nicht, was ihr macht. Ihr habt Fehler gemacht, Ihr wart dabei es zu versauen. Wie viele Ehemänner hast du schon verführt, wie viele würdest du noch verführt haben? Die Waage hat sich zu deinen Ungunsten geneigt und ich, ich habe dich gerettet. Ich habe sie gestoppt.“ Er griff nach dem Kopf der Hure. Sie hatte lange, scharfe Fangzähne und ihre roten Haare wurden Schlangen, denen ätzender Geifer aus den Mäulern troff. Rainer achtete den Schmerz gering. Er packte sie und zerrte sie zu sich. Sie wurde ein possierliches Äffchen mit einer kleinen, roten Pagenmütze auf dem Kopf.
Als nächstes griff er sich den Jungen. „Singst du mit den Engeln? Spielst wohl auf der Harfe? Was hättest du wohl getan, wenn ich zehn Jahre später gekommen wäre? Du würdest jetzt dem Teufel auf seiner Flöte aufspielen.“ Er ohrfeigte den Kopf, die Fangzähne lösten sich aus Rainers Fleisch und er wurde ein Pudel, der sich mit dem Hinterlauf am Ohr kratzte.
Als letztes blieb nur noch der Alte übrig.
„Du bist ja verrückt, Junge“, sagte der bloß und schüttelte traurig den Kopf. Er machte keine Anstalten sich zu wehren. Der Hummer, zu dem er geworden war, unternahm einen vielbeinigen Fluchtversuch.
Rainer packte jeden seiner ehemaligen Dämonen, band ihm sein Seil um den Hals und zerrte sie an ihren improvisierten Leinen hinter sich her. So sehr lachte und freute sich Rainer, dass er gar nicht bemerkte, dass er seinen Mantel in dem Container zurückgelassen hatte.
Er zerrte an den Leinen und ging mit seinen Dämonen Gassi. Die schneidende Kälte spürte er gar nicht.
Auf Höhe des Kinos begegnete Rainer einem nächtlichen Wanderer, dick eingepackt in einen schwarzen Wollmantel, Handschuhen und mit einer Baskenmütze auf dem Kopf.
„Sie wundern sich wohl, was ich mitten in der Nacht mit einem Hummer spazieren gehe“, sprach Rainer ihn unvermittelt an. „Kluge Tiere, Hummer. Sie haben vieles gesehen, was wir nicht gesehen haben. Sie haben die Tiefsee gesehen. Ich habe ihn runter geschickt, den ganzen Weg, bis ganz nach unten. Nicht wahr?“ wandte er sich an den Alten. „Wir gehen runter, wir beide, bis ganz auf den Grund.“
Der nächtliche Spaziergänger blickte dem verrückten Penner hinterher. In der linken Hand hielt der ein paar Seile, deren Ende über den Bürgersteig schleiften, während er mit der rechten wild gestikulierte.
„Der Spinner, er wird noch erfrieren“, murmelte der Mann im Mantel. Einen Moment lang stand er unschlüssig da, dann schüttelte er seinen Kopf, holte sein Handy hervor und wählte die Nummer der Polizei.

 

Hi,

Ich leg' mal ohne Umschweife los:

Wer in einer solchen Nacht nicht den dicksten Mantel aus dem Schrank holte, dazu Schal und Mütze, und mit seiner Liebsten zu einer einsamen Wiese ging, um hoch zu den funkelnden Sternen zu blicken und ihr mit feierlicher Stimme zu versprechen ihr den schönsten zu pflücken, wer das nicht tat, der verdiente es ein Buchhalter genannt und in einem Aktenschrank beerdigt zu werden.

Mindestens ein Komma fehlt, und irgendwo würde ich versuchen, einen Punkt unterzubringen. Da verknoten sich einem sonst die Sehnerven...

Rainer erinnerte sich daran, wie man sich an eine Filmszene erinnert.

Wie erinnert man sich denn an eine Filmszene?

Früher hast du Vergessen gebracht, heute zersetzt du nur noch meine Leber. Kann es sein, dass du allmählich alt wirst?

Schön! Bis auf das "Vergessen gebracht". Klingt etwas altbacken.

Seltsam, wie ausgerechnet das Elfmeterschießen immer wieder Helden entthronte

Nette Metapher!

Als Rainer wieder zu sich kann. Starrte er auf weiße Haut, die in der Kälte bebte.

Bis hierhin habe ich sämtliche Flüchtigkeitsfehler ignoriert. Etwas sorgfältiger nacharbeiten, bitte. Das geht ja gar nicht! :read:

Man liest, dass du dir Mühe gegeben hast, aber der Stil ist an einigen Stellen übertrieben kryptisch für meinen Geschmack. Die "deine Seele ist ein Golfball" Geschichte wurde gegen Ende denk' ich etwas überstrapaziert. Und dann schießt du, und dann triffst du, und dann muss einer den Ball wiederholen... :hmm: Einige Vergleiche fand ich aber echt super (s.o.)! :thumbsup:

Was den Inhalt angeht, diesen Versuch, zu erklären, was in einem mordenden Obdachlosen vor sich geht, mmmh, sorry, aber ich fand's öde. Man weiß von Anfang an, wer's war, warum er's macht, und die Mordszenen sind nicht drastisch genug, als dass guts oder gore da noch irgendwas rausreißen könnten.

Hoffe, ich konnte dir ein bisschen weiterhelfen,

mfg,
Proof

 

Zitat: Nun, vierzig Grad würde es nicht geben, wahrscheinlich würden sie keine zwanzig erreichten, aber es würde kalt genug werden, um ihn wach zu halten.

... keine zwanzig erreichen,

Zitat: Dampfender Atem, rehbraune Augen unter dem Rand einer wollenen Pudelmütze und ihre Fußspuren im Frost auf dem Gras. Rainer erinnerte sich daran, wie man sich an eine Filmszene erinnert.

Hier fehlt mir eine sinnvolle Erklärung. An wen denkt er hier?

Zitat: Rainer fühlte sie wie zerschlagen.

... fühlte sich

Zitat: Obwohl es unbegreiflich war und es so was eigentlich nicht gab, nicht gebend durfte, verstand er beinahe augenblicklich.

... nicht geben durfte

Zitat: Rainer war froh, dass es gegangen war und er alleine war

, dass sie gegangen (auch wenn du später klärst, dass sie evtl. gar keine ´sie´ sondern ein és´ ist)

Zitat: biss sich auf die Zähne und lieg schneller.

... lief

Um nur ein paar der Flüchtigkeitsfehler aufzuzeigen.


Fazit: Die Kurzgeschichte habe ich als zu lang empfunden. Das liegt zum einen an den fehlenden Überraschungen und zum anderen an der übertrieben langgezogenen Schlusssequenz. Mir scheint es, als hättest du eine Idee gehabt und drauf losgeschrieben, ohne dir im Klaren zu sein, wohin die Story führen soll.
Zudem fand ich die Menge der Flüchtigkeitsfehlern lesehemmend.

Hoffe, du kannst mit meiner Kritik etwas anfangen
Gruß, André

 

Klar, kann ich mit der Kritik was anfangen und ich bedanke mich recht herzlich. Nicht zuletzt auch für die Hinweise zu Flüchtigkeits- und Tippfehlern.

 

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