- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Die Liste
Die Liste
Anja und Andi, die Zwillinge, saßen auf ihrem Zimmer und warteten. Nebenan hörten sie die Eltern das Wohnzimmer schmücken. Die beiden langweilten sich von Herzen, denn es war genau wie jedes Jahr.
Die Mutter würde sie Punkt acht Uhr mit dem silbernen Glöckchen von Oma Elisabeth ins Wohnzimmer rufen. Andi und Anja würden ganz erstaunt tun, wenn sie den kleinen Plastikweihnachtsbaum sahen. Und dann würde Papi jeden wieder in die Backe kneifen und ihnen erzählen, er solle sie vom Weihnachtsmann grüßen. Als ob sie noch an den großen, dicken Mann mit dem weißen Rauschebart glauben würden!
„Was wollen wir bis acht noch machen?“ fragte Anja gelangweilt.
„Spielen wir Schikane“, schlug Andi lustlos vor.
„Okay, pack’ die Karten aus. Ich räum solange den Tisch ab.“ Sie stand auf, warf die ganzen Schulsachen vom Tisch und räumte die Stühle frei, die wie immer mit Klamotten voll gepackt waren.
Sie spielten eine Viertelstunde, dann gewann Andi und sie hatten keine Lust mehr. Alle möglichen Kartenspiele, die ihnen einfielen, wurden durchgespielt, aber es brachte nichts. Ihnen war sturzlangweilig. Um viertel vor acht lagen sie nur noch auf ihren Betten und starrten Löcher in die Luft.
Plötzlich klopfte es ans Fenster. Überrascht schauten beide hoch. Anja stand vom Bett auf und ging hin. Das konnte doch nicht sein, dass jemand hier klopfte! Schließlich wohnten sie im vierten Stock!! Sie öffnete das Fenster und sah hinaus. Nichts. Nur die stockfinstere Nacht und der Lärm von der Straße unten.
Auch Andi war aufgestanden und quetschte sich jetzt neben Anja in den Fensterrahmen. Der Atem der beiden bildete weiße Wölkchen in der kalten Luft.
„Ich muß mich verhört haben“, meinte sie verunsichert. Sie sah ihren Zwillingsbruder an.
„Quatsch“, winkte er ab. „Ich hab’s doch auch gehört! Da war was!“ Er beugte sich noch weiter hinaus, dass Anja Angst bekam, er könne hinausfallen. Auf einmal schrie er leise auf und stürzte wieder ins Zimmer hinein. Laut polterte er auf den Fußboden.
„Was ist?“, fragte Anja bestürzt. Sie half ihm auf die Beine, und keuchend antwortete er ihr.
„Da war was! Es hat geleuchtet, lila geleuchtet! Es ist direkt vor meinem Gesicht herumgeflogen!“
„Du spinnst doch“, antwortete Anja und zeigte ihm einen Vogel. „Du hast wohl Halluzinationen, Andi! Was soll denn da bitte herumgeflogen sein?“
„Wenn ich’s dir doch sage“, brauste er auf, „da war etwas! Da, schau!“ Er deutete mit dem Zeigefinger aus dem Fenster. Und tatsächlich! Da schwirrte eine kleine, lila Gestalt vor dem Fenster herum. Die durchscheinenden Flügel hatten Ähnlichkeit mit denen von Libellen, und das lange Haar schimmerte silbern im Mondlicht.
„Das gibt’s doch nicht“, hauchte Anja mit weit aufgerissenen Augen. „Das ist eine Elfe oder so was!“
„Ja, was denkst du denn!“, fing das kleine Wesen vor dem Fenster auf einmal an zu schimpfen. Es flog an den Zwillingen vorbei ins Zimmer und stellte sich breitbeinig auf den Schreibtisch. „Was gafft ihr mich so an? Habt ihr noch nie eine Weihnachtselfe gesehen, oder was?“
Endlich hatte Andi sich wieder gefasst. „Du... du bist wirklich eine Elfe?“ fragte er atemlos. Auch Anja war völlig verblüfft.
„Ja, ach nee! Und außerdem muß ich hier warten. Wenn ich den Chef nicht bald finde, geht das Fest für alle Kinder in Hessen baden.“
Anja rieb sich verunsichert die Augen, und als sie endlich glaubte, was sie da sah, fragte sie: „Wieso? Und wie heißt du eigentlich?“
Die kleine Elfe setzte sich jetzt im Schneidersitz auf den Tisch, holte tief Luft und erklärte: „Also, ich heiße Janila und bin die Vertreterin der Vertreterin der Oberorganisatorin der Weihnachtselfen. Und ich muß ganz dringend den Chef finden, den Weihnachtsmann, weil er heute früh ohne seine Liste für Hessen los geflogen ist. Die braucht er nämlich, um zu wissen, welche Kinder seine Geschenke brauchen. Und ich weiß, dass er hier vorbeikommt, denn ihr beide steht immer ganz oben auf seiner Liste, und euch würde er auch ohne die nicht vergessen.“
Als die Zwillinge sie verständnislos ansahen, erklärte sie noch einmal, ganz langsam. „Also, der Weihnachtsmann kommt natürlich nicht zu allen Kindern. Die Kinder, deren Eltern genug Geld haben, brauchen die Geschenke des Weihnachtsmannes nicht, weil sie schon genug von ihren Eltern bekommen. Aber die Kinder, die, wie ihr, nicht so reiche Eltern haben und zum Beispiel in Sozialwohnungen leben müssen, bekommen jedes Jahr noch eine Art Zuschuss vom Weihnachtsmann, ein oder zwei Bücher vielleicht, Kartenspiele, Kleider, all solche Sachen eben. Versteht ihr?“
Die Zwillinge nickten. Die Karten, mit denen sie vorhin gespielt hatten, hatten vergangenes Jahr in rotes Geschenkpapier eingehüllt unter dem Plastikweihnachtsbaum gelegen. Anja runzelte nachdenklich die Stirn, und Andi kaute auf seiner Unterlippe herum. Dann fragte Anja: „Was machst du, wenn er nicht hierher kommt?“
Janila seufzte.
„Dann werde ich ihn wohl noch weiter suchen müssen, um zumindest für ein paar Kinder in Hessen das Fest zu retten. Wie viel Uhr ist es?“
„Zehn vor acht“, antwortete Andi nach einem Blick auf seine Armbanduhr.
„Dann müsste er gleich eure Wohnung verlassen“, murmelte die Elfe. Sie sah aus dem Fenster. Unvermittelt sprang sie auf und rief den Zwillingen zu:„Tschüß ihr zwei, macht’s gut!“. Sie flog hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Die Zwillinge stürzten ans Fenster und sahen gerade noch einen kleinen, lila Punkt auf einen Schlitten zufliegen, der auf dem gegenüberliegenden Dach parkte. Dann flog der Schlitten davon, und die Zwillinge blickten ihm ungläubig hinterher. Sechs Rentiere waren im Lichtschein der Stadt gut am Himmel zu erkennen. Sie waren sich einige Minuten später nicht sicher, ob sie das nicht alles nur geträumt hatten.
Als die Mutter das silberne Glöckchen läutete und die beiden ins Wohnzimmer kamen, war alles wie jedes Jahr. Nein, nicht ganz: Die Zwillinge wussten das Weihnachtsfest nun noch viel mehr zu schätzen als sonst.