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Die Nacht
Ich drehe mich. Immer schneller, immer schneller. Das Gesicht zum Himmel gerichtet. Schwarz. Die einzelnen Sterne sind mit steigender Geschwindigkeit kaum noch zu erkennen. Der kalte Nachtwind streift mein Gesicht. Meine Füße bewegen sich wie von alleine; kleine Schritte immer um die eigene Achse und doch kommt es mir so vor, als würde sich die Welt um mich drehen und nicht andersherum. Ich kichere bei dem Gedanken. Ein leises, heiseres Kichern, kaum zu hören.
Michael lacht nicht. Ich weiß es. Er steht an die Mauer gelehnt und beobachtet mich, verständnislos. Doch mir ist es egal. Alles ist mir heute egal. Ich habe die Welt und sie hat mich, das reicht für den Moment.
Ich drehe mich weiter.
Langsam senke ich meinen Kopf etwas. Es ist schwer dabei das Gleichgewicht zu halten. Undeutlich nehme ich seine helle Jacke wahr, doch verschwimmt auch diese, wie der Rest meiner Umgebung immer weiter zu einem einzigen, schwarzen Bild.
Ich wünschte meine ganzen Probleme würden sich so einfach zu einem Ganzen zusammenfügen, würde so nahtlos ineinander übergehen, sich in der Masse auflösen. Langsam beginne ich zu straucheln, ich stolpere ein wenig und falle schließlich ins nasse, kalte Gras zu meinen Füßen. Ein Schauer durchläuft meinen Rücken, ich merke, wie die Feuchtigkeit langsam meine Jeans durchdringt, meine Haare benetzt, und doch bleibe ich liegen, spüre meinen Atem, höre mein Herz schlagen. Schon lange habe ich mich nicht mehr so gut, so klar und ganz gespürt.
Wann hatte das alles eigentlich begonnen? Diese Unruhe, diese innere Zerrissenheit, dieses Unzufriedene an mir, das mich so quält? An manchen Tagen hasse ich mich regelrecht und nicht nur mich, sondern auch alle anderen. Am unerträglichsten sind für mich in diesen Momenten genau die, die scheinbar alles richtig machen. Michael zum Beispiel.
Wir sind nicht zusammen und doch weiß ich, dass er mich mag. Eigentlich könnte ich mir keinen besseren Freund vorstellen, er ist nett, einfühlsam, zuverlässig, zielstrebig und doch ist es gerade diese Vielzahl an „guten“ Eigenschaften, die mich manchmal fast wahnsinnig zu machen scheint.
Ich hasse es, dass er immer die Hausaufgaben macht, immer rechtzeitig zu lernen anfängt, immer gute Noten schreibt und sich trotzdem nie in den Vordergrund drängt. Ich hasse es, wenn er versucht mir zu helfen, hasse diese Gutmütigkeit, hasse einfach, dass er mir nie böse ist, alles verzeiht und dabei auch noch so gelassen wirkt, als stünde er über allen Dingen.
In gewisser weise bin ich eifersüchtig auf seine Ausgeglichenheit, weil mir dadurch meine eigenen Schwächen nur umso deutlicher bewusst werden und je mehr die Wut auf mich selbst steigt, desto gemeiner werde ich gleichzeitig zu ihm. Ich weiß, dass ich unfair bin, dass ich ihm unrecht tue und doch kann ich nicht anders.
So gerne würde ich ihn einmal wütend erleben, ein einziges Mal den Hass in seinen Augen aufblitzen sehen. Und beinahe hätte ich es geschafft. Als ich nämlich sein liebstes Modellflugzeug umgeworfen hatte. Ich bin mir nicht sicher, ob er bemerkte, dass ich mit voller Absicht, mit dem klaren Ziel den kleinen Kampfbomber zu zerstören, gegen den Tisch gerannt bin, oder nicht. Er war jedenfalls sauer, das konnte man ihm ansehen, doch anstatt seiner Wut freien Lauf zu lassen, wie ich es getan hätte, anstatt zu schreien, zu weinen, vielleicht auch um sich zu schlagen, hatte er nur ganz ruhig die einzelnen Teile des Fliegers vom Boden aufgesammelt und mehrfach gemurmelt: „Ist ok, vielleicht kann man das kleben. Oder ich bau ein neues. Ist ok…“
Verärgert war ich aus dem Raum gelaufen, ließ ihn allein. Wie schon gesagt, ich tue ihm unrecht.
Ich öffne langsam die Augen. Das Bild ist wieder klar, dreht sich nicht mehr. Der schwarze Himmel sieht mit den vielen, hellen Sternen wie ein leuchtender Teppich aus, irgendwie unecht. Meine Gedanken sind, so scheint es mir, ganz weit weg, soweit, dass ich sie nicht mehr fassen kann. Es ist ruhig.
Noch kurz bleibe ich liegen, dann hebe ich meine Jacke auf, von dem nassen Gras schwer geworden, schaue noch ein letztes Mal nach oben, erinnere mich an den einzigartigen Moment, schließlich sind Erinnerungen am Ende des Tages alles was bleibt, und laufe los, nach Hause.