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Die neun Tode des Raffaele Bonatti [6]
Der sechste Tod
Bonatti blickt auf seine Armbanduhr. Es ist vier Uhr in der Nacht, auf die Minute genau. Am Karsamstag. Er steht vor der Eingangstür der Sakristei von St. Heinrich und Kunigund am Schillplatz, sieht sich nach allen Seiten um, aber niemand ist unterwegs. Vorsichtig presst er die Finger ineinander, um den Sitz der Handschuhe zu überprüfen, dann drückt er die Klinke nach unten und stellt erstaunt fest, dass die Tür tatsächlich nicht verschlossen ist. Genau so, wie ihm das von seinem Kumpel Rudi beschrieben wurde. Der Pfarrer ist alt, sagte Rudi, der vergisst grundsätzlich abzuschließen. Nun, denkt Bonatti, dann ist er selbst schuld und tritt in den Vorraum der Sakristei. Er nimmt die kleine Taschenlampe aus der Jackentasche, legt sie in seine Faust, um den Lichtkegel klein zu halten, und schaltet sie an. Im Büro sei die Kasse der Kollekte, erklärte ihm Rudi. Ich wurde hier getauft und war fünf Jahre Ministrant in dieser Gemeinde, erwiderte Bonatti, die Kasse finde ich im Schlaf.
Und so ist es. Er entdeckt die Kassette hinter dem Vorhang, der die Abendmahl-Utensilien verdeckt. Da gestern Karfreitag war, ist sie besonders voll. Bonatti macht sich nicht die Mühe, die Stahlkassette aufzubrechen. Er steckt sie in eine Stofftasche und verlässt den kleinen Raum. Vor der alten Holztür, die zum Altar führt, bleibt er stehen, schaut erneut auf die Uhr. Gerade mal fünf Minuten hat er benötigt. Bonatti entschließt sich, ein „Vater unser“ zu sprechen. Das kann schließlich nie schaden, sagt er halblaut.
Vor dem Altar bekreuzigt er sich und nimmt in der zweiten Reihe Platz. Er legt die Unterarme auf der Rückenlehne der vorderen Bank ab, faltet seine Hände und betrachtet die Maria auf dem Altar. Die Stille dringt tief in Bonattis Ohren. Er sieht kaum etwas im fahlen Licht der Straßenlampen, das durch die wenigen Buntglasfenster in die kleine Kirche fällt. Dann hört er plötzlich ein Räuspern hinter sich. Eine eisige Kralle greift nach Bonattis Herz. Nur langsam dreht er sich um, der Angst entgegen. Im schwachen Licht ist drei Reihen weiter ein alter Mann zu erkennen. Seine Augen sind auf Bonatti gerichtet. Nichts von dem wenigen Licht findet sich in ihnen. Sie sind Endlosigkeit und Finsternis in einem.
»Morgens um viertel nach vier in einer unbedeutenden Kirche …«, hört Bonatti ihn mit leiser Stimme sprechen, »… und du klaust die Kollekte?«
Sähe Bonatti in diesem Augenblick sein Spiegelbild, bekäme er einen weiteren tiefen Schreck. Aber niemand sieht sein aschfahles Gesicht. Es sind die Augen aus meinen Träumen, denkt er, sie sind Wirklichkeit geworden. Dann bricht es aus ihm heraus.
»Vater unser, der du bist im Himmel …«
»Oh nein! Bonatti! Verschon mich damit«, ruft der alte Mann. »Du kennst mich doch jetzt zur Genüge und müsstest wissen, auf was ich gerne verzichte.«
Seine Worte hallen nach zwischen den hohen Wänden. Bonatti hofft, dass es niemand hört.
»Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind«, sagt er. Seine Stimme zittert.
»Doch. Hast du. Fünf Tode wirst du in Bälde gestorben sein. In einer Zeit, die noch kommt oder schon war. Ist es nicht so?«
Bonattis Kehle ist zugeschnürt wie ein Sack Frühkartoffeln.
»Ist es nicht so?«, wiederholt der Alte seine Frage.
Ein Krächzen, Räuspern. Dann ein Husten.
»Ja … ja, Sie haben recht. In meinen Träumen …«
Bonatti sieht den Alten aufstehen, aus der Bank kommen, dann zeichnet er das Kreuz und setzt sich neben ihn.
»Das mit dem Kreuz hab ich nur gemacht, weil man es hier eben so macht. Ist das okay für dich?«
»Äh … ja, sicher.«
Der Alte mustert ihn ausgiebig, beugt sich nach vorne, hebt seine Hand an Bonattis Kopf, dreht ihn hin und her. Er lässt los und rutscht einige Zentimeter ab.
»Hast du jemals geglaubt, Raffaele?«, kommt die Frage, und Bonatti meint, dass sich die Stimme verändert hat. Tiefer geworden ist.
»Ich weiß nicht. Wirklich nicht …«, er überlegt kurz. »Nein, ich denke nicht.«
Der Alte nickt.
»Doch. Natürlich. Hast du. Und zwar an das da …«, er deutet auf die Stofftasche. »Geld, Bonatti. Du glaubst an Geld. Egal in welcher Form. Das Geld soll dir aus den Ohren kommen.«
Er greift nach der Stofftasche und nimmt sie an sich, ohne dass Bonatti Widerstand leisten kann, obwohl er doch nichts lieber täte, als jetzt zuzugreifen, den Kopf des Alten gegen das Eichenholz zu schlagen, um abhauen zu können. Er kann nicht.
»Traurig«, stellt der Alte fest. »Nichts ist übrig von dem, was deine Mama dir beibrachte. Glaube an den Menschen, sagte sie. Glaube an die Liebe, sagte sie. Gib Liebe, predigte sie dir. Und jetzt?«
Bonatti zuckt mit den Schultern. Mehr ein Reflex als eine wirkliche Antwort. So ist er eben. Und genau so trifft ihn der Schmerz. Wie ein Reflex. Etwas in ihm reißt auf, ein Geräusch wie ein platzender Luftballon, gefüllt mit Wasser. In seinem Inneren breitet sich wohlige Wärme aus, dann kehrt der Schmerz zurück und Bonatti schreit in die leere Kirche hinein. Wie ein Tier vor der Schlachtung.
»Man nennt es Aneurysma«, sagte der Alte. »Deine Aorta ist geplatzt. Du läufst quasi leer. Nicht der schönste Tod.«
Bonatti kippt auf die Seite, dem Alten auf den Schoß. Sein Bauch bläht auf.
»Ich bin dein sechster Tod. Jetzt weißt du es genau. Denk an deine Träume.«
Der Alte hört ein Gurgeln, ein leichtes Plätschern. Wie eine Quelle im Frühlingswald, die allen Wanderern Freude bereitet und dem Waldmeister einen prächtigen Start ins Leben ermöglicht. Bonattis Gedanken tauchen ein in elfenbeinfarbenes Weiß.
»Du bist ein Ketzer, Bonatti. Ein Ketzer an allem, was den Menschen zu einem göttlichen Wesen macht.«
Bonatti kann nur noch hören. Die Kälte kommt herauf, von seinen Beinen, das Herz pumpt wie im Wahn und drückt das kostbare Blut doch in die Leere. Zwischen Bonattis Gedärme, hinein in seine Lungen. Er röchelt Blut. Das Weiß kommt schnell, ist sein letzter Gedanke. Dann stirbt er.
Um sieben Uhr schaltet sich die Glocken-Automatik ein und der Pfarrer wundert sich über die offene Tür zum Kirchenschiff. Er findet Bonatti in einem Meer von Blut. Eine Stofftasche in den Händen. Das Kreuz auf Brust und Stirn zeichnend, zieht er sich vorsichtig zurück und kniet vor dem Altar nieder.