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Die Pille oder: Wie bei Stockhausen

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02.06.2006
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Die Pille oder: Wie bei Stockhausen

„Nun nimm schon die Pille!“
Jen, meine einstmals langjährige Freundin blickt mir eindringlich in die Augen. Um uns herum der neonbeschienene Raum im Gebäude des hiesigen Zentralkommandos.
Außer mir und Jen ist nur noch der grimmige Wächter anwesend, der wie ein versteinerter Riese der Szene regungslos beiwohnt, den Elektroschockstab jederzeit griffbereit.
„Nein! Ich sagte es bereits: Ich will nicht!“
Sie hält mir eine kleine grüne Pille vors Gesicht, eingeklemmt zwischen Daumen und Zeigefinger. Sieht eigentlich völlig unscheinbar aus, das Ding. Kaum zu glauben, dass darauf das Fundament für die neue Weltordnung aufgebaut werden soll.
Jen legt das Präparat direkt vor mich auf den Tisch. Sie sieht mich wieder auffordernd an.
„Ich verstehe, warum du dich sträubst. Das habe ich am Anfang auch getan. Aber denk doch mal nach: Anschließend wirst du dich wunderbar fühlen! Das weißt du doch genau!“
Ich schweige. Jetzt bin ich es, der Jen mit seinem Blick durchbohrt, nur dass es bei mir ein hasserfüllter Blick ist.
Zornig erwidere ich: „Das sind aber keine echten Gefühle! Sie sind von der verdammten Droge gemacht! Von der Droge und der Gehirnwäsche, der ihr mich danach unterzieht!“
Ich weiß, dass das Argument nicht das geringste nützen wird, aber was soll ich machen? Man hält m ich hier schließlich fest.
Jen lehnt sich zurück und wirkt auf einmal wieder völlig ruhig und souverän.
Sie verschränkt ihre Arme und sagt: „Echte Gefühle- was soll das denn deiner Meinung nach eigentlich sein?
Du meinst wohl, dass du etwas Schönes auch als schön empfindest, und umgekehrt bei etwas Abstoßendem auch mit Widerwillen reagierst, nicht wahr?“
Ich weiß gerade nicht, was mir meine frühere Freundin damit sagen will.
„Ja- natürlich!“, antworte ich.
„Und du meinst“, fährt sie fort, „wenn du eine Pille nimmst, die deinen Geist soweit öffnet, dass er die gewohnten Barrieren von schön und hässlich, richitg und falsch oder gut und böse überwinden kann, und er neue Definitionen dieser Begriffe akzeptieren kann, dann sind die Gefühle, die er fortan empfindet, nicht mehr echt?“
„Genau das meine ich!“
Jen lehnt sich zurück und verschränkt langsam die Arme.
„So. Schön und richtig sind also feste, unumstößliche Werte, und wer etwas anderes für schön und richtig hält sitzt einem Irrtum auf, ja?“
Allmählich begreife ich, worauf sie hinauswill.
Und mir gefällt das gar nicht.
Was soll ich nur antworten?
„Äh,... ja...“
„Aha!“
Sei schnellt mit dem Oberkörper von der Lehne nach vorne.
„Jetzt pass mal auf, alter Freund! Erinnerst du dich noch, wie du vor vielen Jahren die Musik von Stockhausen verabscheut hast?“
„Ja, aber...“
„Du hast sie auf den Tod nicht ausstehen können. Du hieltest sie für das Unmöglichste, was man nur komponieren kann, richtig?“
Stockhausen? Was in aller Welt will diese Frau jetzt schon wieder?!
„Jen! Was zur...“
„Richtig?“ unterbricht sie mich.
„Ja...“
„Und dann, Jahre später, hast du Stockhausen wieder gehört. Und wie hat er dir von da ab gefallen?“
„Gut. Sehr originell.“
„Und wie kam es zu diesem plötzlichen Sinneswandel?“, verhört sie mich;
„Weil ich früher einen anderen Musikgeschmack hatte.“
„Ja, und dann? Warum hat er sich geändert, dein Geschmack?“
„Verdammt, Jen! Was soll das eigentlich?! Das weißt du doch ganz genau! Darüber haben wir uns doch früher oft genug unterhalten!“
„Ich weiß sehr wohl, warum sich dein Geschmack geändert hat. Aber ich will es jetzt von dir hören!“
Langsam erscheint sie mir immer anmaßender, aber ich kann nichts dagegen machen.
„Mein Geschmack hat sich geändert, weil sich mein Verständnis von Musik geändert hatte, und... und ich mit einer ganz anderen Einstellung an Stockhausen herangegangen bin...“
„Was hättest du früher wohl gesagt, wenn dir jemand erzählt hätte, dass du diese Musik einmal genießen wirst?“
„Ich hätte ihn ausgelacht und gedacht, das kann unmöglich geschehen...“
„...und was denkst du dagegen heute über deinen frühere Meinung?“
„Ich kann sie nicht mehr ganz nachempfinden... Wie das halt so ist, wenn man seinen Geschmack ändert und einem der alte Blickwinkel dann unpassend vorkommt...“
„Unpassend! Aha!“ ruft sie.
„Du hast eben nicht nur selbst zugegeben, dass das Wörtchen ‚schön’ keine Konstante darstellt, sondern auch, dass du deinen Sinneswandel hinterher als Bereicherung wahrgenommen hast, ist es nicht so?!“
„Ja, ja, das habe ich!“
„Und du meintest, dass du etwas schön findest, wenn deine Einstellung dem gegenüber passend ist, richtig? Du hattest auf einmal den Sinn hinter dem Neuen verstanden, deine Betrachtungsweise hatte gepasst, und dann - voilà!- warst du hell begeistert davon, und wolltest nie das alte zurück, habe ich nicht recht?“
Sie grinst mir triumphierend ins Gesicht. Ich muss erst einmal verarbeiten, was für Worte da eben auf mich niedergegangen sind, und mein Kopf fängt davon zu schwirren an, aber das könnten genausogut die Auswirkungen der „Spezialbehandlung“ sein, der ich hier jetzt fast schon seit einer Woche ausgeliefert bin.
Mühsam sammle ich meine Gedanken, ich sage: „Aber Jen, das ist doch kein Vergleich! Ob mir eine Musik gefällt! Bei euch geht es um Tausende von Menschen!“
„Es geht ums Prinzip!“ sagt sie;
„Nein, tut es nicht!“ werfe ich ihr entgegen, doch offengestanden ohne sicher zu sein, ob es tatsächlich wahr ist- sie sagt:
„Jetzt findest du es verdammenswert, weil dein Geist auf einen anderen Schwerpunkt gerichtet ist, der nur die Einzelschicksale der Menschen sieht- doch das ist der falsche Schwerpunkt! Du siehst nicht das Wohl aller Menschen, für das diese Opfer nun mal unerlässlich sind!“
„Nein! Das sehe ich in der Tat nicht!!“
Sie richtet sich auf, beugt sich vor, hält mir die Pille unter die Nase, beschwört mich:
„Wenn du dieses Präparat genommen hast, dann kannst du alles mit neuen Augen sehen! Es ist wie bei Stockhausen! Du wirst nichts bereuen! Du wirst die Wahrheit erkennen! Die richtige Wahrheit!“
„Es gibt nur eine Wahrheit! Und die sehe ich schon!“ bricht es aus mir hervor; „Ihr vergewaltigt die Seelen der Menschen! Ihr lasst Tausende von ihnen in Kerkern wie diesem hier verschwinden und macht sie gefügig!“
„Jetzt beruhige dich!“ versucht sie mich zu beschwichtigen, aber ich will mich nicht beruhigen!
„Unzählige habt ihr ermordet, weil sie zur falschen Schicht oder zum falschen Volk gehörten! Die ganze Welt habt ihr verseucht mit eurer Wahnideologie! Und jetzt wollt ihr auch meinen Geist zersetzen! Ihr Mörder! Ihr Hundesöhne!“ Ich höre, wie der Wächter seinen Elektroschocker bereitmacht, doch aus mir quillt es einfach hervor: „Ich werde mich euch nie ergeben, nie! Hört ihr das?!“ Mein rasender Zorn kennt kein Ende, ich schieße von meinem Stuhl empor, fast reflexartig, doch bevor ich weiß, was ich eigentlich machen will, werde ich von einem eisenharten Männerarm von hinten aus an der Brust umklammert und brutal zu Boden gerissen; ehe ich reagieren kann, befindet sich mein rechter Arm in einem schmerzhaften Polizeigriff, mein Körper liegt seitlich auf dem kalten Beton, der Elektroschocker fest an meinen Hals gepresst.
Jen tritt auf mich zu, beugt sich zu mir herunter; sie hält immer noch die Pille. „Mein alter Freund!“ sagt sie schließlich; „sei doch nicht so töricht.“
Ihre Stimme klingt wieder ganz ruhig. „Es gibt sehr wohl mehrere Wahrheiten. Aus deiner Perspektive ist das Unterdrücken von freien Menschen vielleicht etwas Schreckliches, und es ist für dich genauso wahr wie für uns, dass es ein gerechtfertigtes Mittel zum Erreichen einer besseren Welt ist, und wir beide sind von unseren Sichtweisen aus tiefstem Herzen überzeugt. Denn die Wahrheit bleibt von jedem Blickwinkel aus wahr. Die Frage ist nur: Welcher Blickwinkel ist für die gegebene Situation der bequemste?“
Sie gibt der Wache ein Zeichen, mich wieder aufzurichten und auf den Stuhl zu setzen, doch ich merke, wie der Elektrostab nach wie vor bedrohlich nah hinter mein Genick gehalten wird.
„Und das musst du doch zugeben: Bequem sind deine Ansichten nicht gerade!“
„Ja, für euch vielleicht...“, zische ich; doch sie sieht mich bloß mit einem mitleidigen Blick an und legt diese gottverdammte Pille vor mir auf den Tisch.
„Gut, bleib nur stur! Wir zwingen hier niemanden zu seinem Wohl. Nein, sowas tun wir nicht! Aber du hast meine Worte gehört! Denk darüber nach: Du weißt, dass du hinterher zufrieden sein wirst!“
Ich erwidere nichts; ich schaue ihr nicht mal mehr in die Augen. Das eigentlich Schockierende an dieser Szene ist, dass meine frühere Freundin all diese Worte tatsächlich aus voller Überzeugung zu sagen scheint, ohne die leisesten perfiden Hintergedanken zu haben.
Und plötzlich ertappe ich mich dabei, wie ich selber zu glauben beginne, dass eine einzige Pille die Wirklichkeit ändern kann, doch schnell blocke ich diesen Gedanken wieder ab. Haben sie mich wirklich schon so klein gekriegt?
Jetzt herrscht Stille im Raum; Jen scheint darauf zu warten, dass ich doch noch die kleine grüne Kapsel vom Tisch nehme, in den Mund stecke und runterschlucke.
Aber nein, das werde ich nicht.
Noch nicht...
Ich bin mit meinen Kräften am Ende. Noch ein paar Tage dieser Tortur überstehe ich nicht. Und dann haben sie gewonnen; dann bin ich nur noch ein weiterer versklavter Geist im Räderwerk der neuen Weltordnung, und ich werde es lieben.
Ich will es aber nicht lieben! Es gibt einfach Dinge, die muss man zu hassen versuchen, verdammt nochmal! Man muss es wenigstens versuchen...
„Na gut, du bist immer noch unentschlossen, wie ich sehe!“, meldet sie sich wieder zu Wort.
„Dann fürchte ich, müssen wir dich noch eine Weile hier behalten, so leid es mir tut!“
Auf einen Wink hin ergreift mich wieder der wortlose Riese und schleift mich zur Tür, auf deren anderer Seite ein zweiter Wächter auf uns wartet und sich beide nun zusammen meiner annehmen und mich von Zimmer wegführen.
„Denk' dran:“, ruft mir Jen hinterher,
„Es ist alles wie bei Stockhausen!“

***​

 

Puh, harter Stoff. Du hast viel Philosophie in diesen Text gepackt; ob sie wirklich tiefgehend ist, lasse ich mal dahingestellt. Das Geschehen besteht fast nur aus dem Dialog, der mir etwas gewollt erscheint. Die Figuren vertreten ihre jeweiligen Standpunkte und der Dialog macht den Konflikt deutlich. Mehr steckt nicht drin; dass "schön" keine Konstante ist, sondern a) subjektiv und b) eine Funktion der Zeitist, finde ich jetzt nicht der Rede wert.
Der Komplex über die "erzwungene" Droge bleibt weitestgehend außen vor, somit verlässt die Geschichte nie den Kontext der beiden Personen mit ihrem Disput. Dabei ist Stockhausen übrigens anscheinend eine recht beliebige Wahl; genauso könnte jeder andere Musiker, Autor oder Maler an seine Stelle treten, da es nur um ein "fand ich früher nicht schön" und "finde ich heute schön" geht.
Im Ansatz ist das Thema freilich interessant, aber ich denke, dass eine andere, dramaturgisch anspruchsvollere Aufarbeitung erforderlich wäre, um den Leser wirklich zu fesseln, so dass er nicht mit einem Schulterzucken zur nächsten Geschichte wechselt - wie ich in drei Sekunden.

Fazit: Philosophieren auf mittelniedrigem Niveau ohne Spannung.

Uwe
:cool:

 

Hallo Uwe!
Tja, schade dass die Geschichte so schlecht angekommen ist; hab mich mit dem Philosophieren wohl doch etwas übernommen...
Was den Dialog angeht: Ich hatte ursprünglich vor, den ganzen Text ausschließlich als Diealog zu gestalten, aber das ist mir dann doch nicht so gelungen.
Und nochwas zur Philosophie:

Dabei ist Stockhausen übrigens anscheinend eine recht beliebige Wahl; genauso könnte jeder andere Musiker, Autor oder Maler an seine Stelle treten, da es nur um ein "fand ich früher nicht schön" und "finde ich heute schön" geht.
Ja, stimmt- aber das sollte auch nicht mehr als nur ein x-beliebiges Beispiel sein; ich wollte ja eine Parallele zwischen persönlichem Geschmack und der Sicht auf die "großen" und wichtigen Dinge des Lebens ziehen, da fand ich nicht dass der Musiker an sich eine bedeutende Rolle gespielt hat.

Gruß,
jacksmouth

 

Hi jacksmouth,

Ambitioniert und leider gescheitert.
Der Gedanke ist einfach nicht originell genug, um eine Story (mehr noch, einen als Story verkleideten Vortrag) zu tragen. Passiert mir auch hin und wieder.
Ansonsten: ließ die Storys in der Empfehlungsliste und dann findest Du sicher einen Zugang zu solcherart Storys.
Denn grundsätzlich mag ich Geschichten, die sich mit solcherart Fragen befassen (Schleichwerbung an: mein letzter Beitrag ist genau so einer :Schleichwerbung aus)

Proxi

 

Hallo @jacksmouth ,

so einen Dialog kann man in eine übergeordnete Handlung einweben, und da ist er sicher ganz interessant. Dann sollte aber erst mal eine Handlung vorhanden sein, was bei dir null der Fall ist. Und wenn, dann solltest du den Dialog kürzen. Der Leser hat schon bald kapiert, worauf du hinauswillst, danach wird's schnell redundant.

VG
MG

 

Hallo @MorningDew ,

Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Autor sich deinen Kommentar zu Herzen nimmt, sind Story und Kommentare doch schon 17 Jahre alt und wo der Autor hier zuletzt vor 10 Jahren reingeschaut hat.
Ich würde empfehlen, auf diese Daten zu achten, bevor man sich sicherlich umsonst die Arbeit macht und kommentiert.

Guten Rutsch schon mal.
LG, GoMusic

 

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