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Die Prüfung
Nahezu lautlos bewegt Sina sich fort und das gibt ihr ein gutes Gefühl. Weiß schimmern die neuen Turnschuhe, heben sich im fahlen Licht der Straßenlaternen beinahe strahlend gegen den dunklen Asphalt ab. Es riecht nach Bier und irgendwo schlägt ein Hund an, eine barsche Männerstimme folgt, eine Tür schlägt zu und das Gewinsel ähnelt nun Blättertreiben im Wind, entfernt und leise. Um die Ecke, im Hinterhof, gesellt sich zum Bierdunst noch der Geruch ungeleerter Mülltonnen. Sina geht langsamer, farblos erscheinen ihr die Wände, nur in der Pfütze schimmert Benzin. Die Tür des kleinen Schuppens neben dem Mietshaus ist nur angelehnt. Ihr hohes Quietschen ruft den Hund wieder auf den Plan. „Mensch mach doch nicht so einen Lärm! Muss ja mein Alter nicht hören, dass wir hier sind.“ Mit einer steilen Zornfalte im Gesicht stapft Ronny über Scherben und schließt behutsam die Tür. „Tschuldigung.“
Etwas unschlüssig steht Sina im Raum und versucht durch das Halbdunkel und den Rauch Gesichter auszumachen. Ronny steht direkt neben ihr, dreht sich eine Zigarette und wirft in seiner typischen Pose die Haare über die Schultern. Gut sieht er aus. Sehr gut sogar. Er bemerkt ihren Blick und Sina sieht schnell auf ihre Füße.
Als er sie heute morgen gefragt hatte, ob sie abends auch „in die Absteige“, kommen wolle, war sie erst mal sprachlos gewesen und vor lauter Angst etwas debiles, dämliches zu sagen hatte sie nur peinlich rumgestottert und schließlich Ronnys knatternder Schwalbe (ein Mofa) hinterhergerufen, dass sie sehr gerne kommen wolle.
In der Absteige treffen sich die Leute, zu denen sie immer gehören wollte.
Erst jetzt bemerkt Sina die Musik, die im Hintergrund läuft: Jimmy Hendrix.
In der Ecke hinter dem Plattenspieler steht Atze und wippt mit dem Fuß Antje zu, die ihren Jeanshintern zwischen den in alle Himmelsrichtungen abstehenden Sprungfedern platziert hat und Sina unwillig mustert. Auch der kleine dicke Thorsten ist da, es sieht aus, als wolle er sein Bier im Takt schlucken.
Ronny hat den Glimmstängel mittlerweile zwischen den Lippen: „Willst du‘n Bier?“ Bevor Sina sich eine Antwort zurechtgelegt hat, knackt er den Kronkorken mithilfe seines Eckzahnes und weist auf die Sprungfedern: „Setz dich doch.“
Eine Weile herrscht Schweigen, nur Jimmy liebkost seine Gitarre.
„Gehen wir heute noch raus?“, fragt Atze und nickt abfällig mit dem Kopf in Sinas Richtung, als sei sie ein besonders alter Plattenspieler.
„Ja“, sagt Antje „wenn sie schon unbedingt dazugehören will, muss sie die Prüfung ablegen.“
Ronny zieht an der Zigarette als würde er ertrinken, wirft wieder sein Haar über die Schultern und meint lässig: „Immer mit der Ruhe, der Abend ist ja noch jung, was seid ihr den so hektisch?“
Keiner antwortet, Ronny ist der Boss. Sina zieht die Schultern hoch. Sie ist sich nicht sicher, auf was sie sich da eingelassen hat. Die Prüfung, schon oft hat sie andere darüber tuscheln hören, aber um was es sich wirklich handelt, weiß keiner so genau. Genau scheinen ohnehin nur Ronny und seine Leute von der Absteige davon zu wissen.
Jetzt ist Sina froh, dass sie eine Bierflasche in der Hand hat, so kann niemand sehen, wie sehr ihre Hände zittern. Nicht nur wegen der Prüfung, sondern auch weil Ronny nun auf der Sofakante neben ihr sitzt und seinen Arm um sie gelegt hat. Langsam streicht seine Hand über ihre Schultern.
Irgendwann gehen sie los, Sina hat das Gefühl für Zeit und Bier verloren. Bis zur Straßenecke trotten sie schweigend, ab dann ist sich Ronny sicher, dass sein Alter sie nicht mehr hören kann. „Und der Hund verpfeift mich nicht“, grinst er.
Sie kicken Dosen, einmal schimpft ein Anwohner, dem Atze mit blankem Hintern antwortet. Thorsten tritt eine Laterne aus. Am Kanal werden sie langsamer, das Wasser gurgelt und Antje schafft es gleichzeitig, Sina misstrauisch zu beäugen und Ronny anzulächeln.
Ein Auto biegt um die Ecke, kurz stehen sie alle wie überraschte Bühnenarbeiter eines Theaters im Scheinwerferlicht, wenden blinzelnd die Köpfe ab. Das Röhren des Motors wird leiser, biegt in eine Seitenstraße, verklingt.
„Fangen wir an“, sagt Ronny, als wollten sie für eine Mathematikarbeit lernen. Sina sieht ihn unsicher an. Ihr ist kalt und der schadenfrohe Blick Antjes macht sie nervös.
„Also es ist ziemlich einfach, keine Ahnung, warum die Leute immer so ein Gedöns um unsere Prüfung machen. Alles was du tun musst, ist von einer Seite des Kanals zur anderen zu springen.“
Sina misst die Entfernung. So weit ist sie im Sportunterricht noch nie gesprungen, das steht auf alle Fälle fest. Unten glitzert schwarz das brackige Wasser.
Es kann ja nichts passieren, oder? Das Wasser sieht recht tief aus, wenn ich reinfalle, ist das nichts anderes, als ob man im Schwimmbad vom Dreier springt.
Und wenn ich mich doch verletze? Die Kanten sind aus grobem, unebenem Stein und wer weiß, wie lange ich schwimmen muss, bis ein Aufgang kommt. Aber Ronny würde mich doch sicher rausziehen…
Sina zögert. Kneift die Augen zusammen. Das schaffst du, das schaffst du, hämmert es in ihrem Kopf. Sie spürt den Blick der anderen, vor allem den Ronnys.
Sekunden kribbeln in ihren Fingerspitzen, als sie zurückgeht, um mehr Abstand zu gewinnen. Sina rennt. Denkt nicht. Sieht verschwommen durch das matte Licht der Straßenlaterne den Abgrund auftauchen. Springt ab.
Fliegt.
Zu kurz. Die Hände, emporgereckt, verfehlen im letzten Moment die graue, nasse Steinkante. Turnschuhe kratzen hilflos an Algen vorbei. Sina fühlt die Kälte bevor sie ins Wasser trifft, tausend kleine, bohrende Nadeln. Die schwarze Nässe ist nicht so tief, wie es von oben scheint, sie geht ihr nur bis zur Brust. Durch den verschwommenen Tränenschleier, oder ist es nur Wasser, kann sie vier Gestalten sich abwenden sehen. Von weither dringen Stimmen an ihr Ohr, verzerrt, wie ein zu oft überspieltes Tonband. „Siehst du Ronny, ich hab doch von Anfang an gesagt, dass die es nicht bringt. Die passt nicht zu uns.“ Antjes Stimme überschlägt sich fast.
„Wahrscheinlich hattest du mal wieder Recht Antje. Bei nächsten…“
Hat sie wirklich geglaubt, die Clique würde ihr helfen? Ronny würde ihr helfen? Sina schließt die Augen und lässt sich gegen den grauen nassen Stein sinken.