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- Anmerkungen zum Text
Dieser Text entstand aus einer Schreibaufgabe mit folgenden Vorgaben:
- Max. 6000 Zeichen
- Die Geschichte sollte im Elbsteinsandgebirge spielen
- Es sollten Beschreibungen des Ortes einfließen
Die Reise
Er hatte vor einigen Tagen die etwa 700 Kilometer weite Reise von seiner Heimat Duisburg nach Hrensko angetreten, um ein wenig Zeit für sich zu finden. Er wollte heraus aus dem Hamsterrad des Lebens, in dem er sich gefangen fühlte.
Jeden Tag, nach acht bis zehn Stunden Arbeit, erwartete ihn Zuhause das gleiche Szenario. Es war nicht wie in den schnulzigen Hollywoodstreifen, es öffnete ihm keine gut gelaunte Frau im hübschen Kleid, während ihm schon der Duft eines leckeren Bratens entgegenströmte. Nein, seine Frau lief mit dem Baby auf dem Arm, ihr T-Shirt fleckig von erbrochener Milch, der störrischen 8-jährigen hinterher und beschwor sie fast schon hysterisch, endlich ihr Zimmer aufzuräumen. Sein 12-jähriger saß vor der Playstation und auf die Frage, wie die Schule war, wurde er erst ignoriert und bekam dann die Antwort „Scheiße, wie immer.“
Wenn die Kinder endlich schliefen, war der krönende Abschluss des Abends, mit seiner Frau auf der Couch zu sitzen und eine der semispannenden Krimiserien zu sehen.
„Hrensko“, hatte sein Arbeitskollege gesagt, nachdem er ihm sein Herz ausgeschüttet hatte, „Hrensko ist der beste Ort der Welt, um mal abzuschalten und auf andere Gedanken zu kommen.“
Das kleine tschechische Städtchen war genauso, wie sein Kollege es beschrieben hatte. Entlang der Elbe erstreckten sich bunte, in Pastellfarben gestrichene Fachwerkhäuser. Majestätisch hoben sich die Felsen des Sandsteingebirges von ihnen ab und ließen sie winzig erscheinen.
Am ersten Tag seiner Auszeit wählte er einen der zahlreichen Wanderwege in die prachtvolle Gebirgslandschaft. Gewaltige Bäume ragten in den Himmel, der morastige Boden wurde vom Nebel verschleiert. Es war höchstens zwei bis drei Grad, aber dennoch bahnten sich Sonnenstrahlen ihren Weg zwischen den Bäumen hindurch und glitzerten auf dem Wasser eines Bachs, der von moosbewachsenen Steinen umgeben war. Dieser Ort hatte etwas Zauberhaftes, fast schon Surreales an sich. Mit seiner Familie hätte er so eine Wanderung niemals genießen können. Die Kinder hätten abwechselnd Hunger oder Durst gehabt oder wären einfach nur müde gewesen oder sie hätten sich gelangweilt, weil es hier aus ihrer Sicht nichts spannendes zu erleben gab.
Ohne seine Familie konnte er endlich einmal tun und lassen was er wollte! Und dennoch fühlte sich sein Herz so kalt an, wie die kühle Luft,die ihn umgab.
In den nächsten Tagen wanderte er täglich stundenlang, doch das kalte Gefühl in seinem Inneren wollte einfach nicht abklingen.
Er hatte sich nichts mehr gewünscht, als Einsamkeit und Ruhe, doch nun brachte ihn die Stille im Wald fast um seinen Verstand.
Am vierten Tag hielt er es nicht mehr aus. Er wollte all seine Sorgen einfach hinter sich lassen, er wollte vor ihnen weg laufen und so rannte er schneller und schneller bis ihm das Herz bis zum Hals schlug und er glaubte seine Lunge würde in tausend Stücke zerspringen. Mittlerweile war er wieder in Hrensko angekommen. Völlig außer Atem blieb er vor einer kleinen Gaststätte stehen und beschloss kurzerhand, sich dort erst einmal zu stärken.
Er setze sich an einen kleinen Tisch, direkt unter dem Fenster. Der stämmige, aber sympathisch wirkende Wirt nahm seine Bestellung auf und im Nu stand vor ihm ein dampfender Becher „Heiße Lawine“ - ein in Tschechien beliebter Glühwein mit Becherovka. Das längst abgenutzte Holzinventar verströmte immer noch einen angenehmen Geruch, der sich mit dem Duft des frisch zubereiteten Essens mischte.
Unwillkürlich musste er schmunzeln. Er dachte an das muntere Geplapper seiner Kinder am Abendbrottisch, wie sie ihm aufgeregt von den Ereignissen des Tages berichteten. Was seine Kinder wohl gerade machten?
Er dachte an seine behagliche Wohnung, die seine Frau und er so liebevoll eingerichtet hatten. Wäre er jetzt zuhause, würde er heute Abend seiner kleinen Prinzessin eine spannende Geschichte über Elfen, Feen und Einhörner vorlesen. Dann würde mit seiner Frau gemütlich auf der Couch sitzen. Sie würde sich an ihn kuscheln und sie würden eine, zugegeben nicht so spannende, Serie anschauen. Aber das war egal. Er wäre bei seiner Familie und er würde sich einfach nur glücklich und geborgen fühlen. Ihm wurde bewusst, dass er schreckliche Sehnsucht nach seiner Familie und dem ganz normalen Wahnsinn des Alltags hatte.
Er würde die Reise beenden und morgen in aller Frühe nach Hause fahren. Von diesem Gedanken beflügelt spürte er die wohlige Wärme des Kamins auch in seinem Herzen.
In diesem Augenblick der Erkenntnis vibrierte das Smartphone in seiner Hosentasche. Sein Vater? Der rief doch nie auf dem Handy an. Er nahm das Gespräch entgegen und hörte die aufgeregte Stimme seines Vaters. Er hörte die Worte, doch sie wollten einfach keinen Sinn ergeben. Irgendetwas mit seiner Frau und den Kindern und einem schrecklichen Unfall.
Alle Farbe wich aus seinem Gesicht.
Der Wirt stellte einen dampfenden Teller vor ihm ab. „Dobrou chut'“, sagte er lächelnd.