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Die Schularbeit

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26.01.2002
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Die Schularbeit

Die kahlen Äste der leergefegten Bäume ragten groß und unheimlich in die Dunkelheit, wurden nur schwach vom Mond beschienen, was sie noch riesiger erscheinen liess.
Ein leichter Wind fuhr zwischen den Bäumen hindurch und ließ ein unheimliches Knacken und Knarren entstehen. Die Äste schaukelten im Wind, wippten auf und ab, hin und wieder hörte man einen Vogel in weiter Ferne zwitschern. Ansonsten war alles still.
Der Park war nur schwach beleuchtet, hie und da ein Laternchen, dazwischen Dunkelheit.

Sophie lag inmitten der Dunkelheit, inmitten der knarrenden, schaukelnden Äste, auf einer Bank, eingehüllt in eine Decke, ihren Stoffhasen Harry unter dem Arm. Unter der Bank befand sich eine kleine Tasche mit einem T-shirt, Zahnpasta, Zahnbürste, Haarbürste, einer Cola und einer Packung Chips, ihrem Geldbeuten, in dem sich nur noch einige wenige Münzen befanden, die sie aus ihrem Sparschwein geholt hatte.
Sie hatte Angst, furchtbare Angst und drückte sich fester an Harry, versteckte sich unter der Decke. Wie sollte sie hier bloß schlafen ? Allerdings, wenn sie es schaffte, einzuschlafen, wäre die Dunkelheit schneller vorbei. Wenn es hell ist, ist alles wieder gut, dann gehört man wieder zu den normalen Menschen, kann sich unter die Menge mischen, doch jetzt ? Jetzt war man kein normaler Mensch. Jetzt war man jemand, der nachts auf Parkbänken schlief.

Selbstverständlich könnte sie aufstehen und nach Hause gehen, demütig an der Tür klopfen, sich bei ihren Eltern entschuldigen, weil sie ausgerissen war, vielleicht würden sie sich sogar freuen. Aber wahrscheinlich würden sie schimpfen, das war viel wahrscheinlicher. Also blieb sie liegen, presste die Augen zu, ganz fest und dachte an den letzten Urlaub in Spanien. Da war es so schön warm gewesen, man konnte barfuss umherlaufen und das Gefühl des Sandstrandes unter ihren nackten Füssen war einfach atemberaubend schön.


Mit diesen Gedanken fiel sie in einen tiefen traumlosen Schlaf und erwachte erst wieder, als die ersten Sonnenstrahlen, die durch die Äste fielen, sie blendeten. Es war noch ziemlich früh und ziemlich kalt. Sophie setzte sich auf, rieb sich erst mal die Augen, blickte unter die Decke, ob auch Harry noch da war, ein Blick unter die Bank, ob auch die Tasche noch da war. Alles in Ordnung. Alles lag noch da, wo es sollte.
Jetzt mal nachdenken. Wie sollte es nun weitergehen ?
Sie müsste in die Schule, ihre Sachen befanden sich aber zu Hause. Unmöglich konnte sie ohne Bücher und Hefte im Unterricht erscheinen. Außerdem sollte sie die Schularbeit bis heute unterschrieben abgeben. Die Schularbeit, deretwegen sie hier auf der Bank übernachtet hatte, die Schularbeit, deretwegen sie solche Angst hatte, nach Hause zu gehen, dass sie es vorzog, es bleiben zu lassen. Sie war am Vortag nur kurz nach Hause gegangen, ihre Eltern arbeiteten beide, hatte die Schultasche ins Zimmer geworfen, hastig ihre kleine Tasche gepackt und nur noch auf und davon.

Suchten ihre Eltern sie schon ? Was wäre, wenn sie nun auch nicht in die Schule ginge ? Vielleicht würden sie denken, sie sei entführt worden, verschleppt, ertrunken, angefahren.
Waren sie bereits dabei, alle Krankenhäuser anzurufen ? Oder war es ihnen noch gar nicht aufgefallen, dass sie nicht zu Hause war ? Nein, das mit Sicherheit nicht. Spätestens zum Abendessen hätten sie alle ihre Freundinnen angerufen, um sie nach Hause zu holen.

Sollte sie doch nach Hause gehen und die Schulbücher holen ? Vielleicht würden sich ihre Eltern so sehr freuen, sie zu sehen, dass die Fünf auf die Schularbeit gar nicht mehr so sehr ins Gewicht fiel. Sollte sie ??
Ratlos blickte sie um sich, hier konnte sie nicht bleiben, zu einer ihrer Freundinnen konnte sie auch nicht, zu ihrer Oma erst recht nicht, also, was tun ??
Langsam stand sie auf, faltete die Decke ordentlich zusammen, stopfte sie in ihre Tasche, nahm Harry auf den Arm und machte sich auf den Weg.
Auf welchen, wusste sie selbst noch nicht so genau. Einfach nur mal losgehen, dann konnte man immer noch drüber nachdenken. Einfach mal aus dem Park raus, die nächste Strasse rechts und dann.... dann wäre sie schon fast zu Hause.

Sie ging drei Schritte, blieb stehen, ging weiter, blieb stehen, ging wieder weiter. Da vorne war schon IHRE Strasse. Nur noch eine Ecke.
Schon aus der Ferne sah sie die beiden Autos ihrer Eltern vor dem Haus stehen. Sie waren wohl doch noch nicht zur Arbeit gefahren. Schade.
Ihr Schritt wurde immer langsamer, sie fühlte ihren Herzschlag bis zum Hals hinauf, er wurde lauter und lauter, je näher sie dem Haus kam. Ihre Knie wurden weicher und weicher und ihr Magen zog sich mehr und mehr zusammen.
Mit zitternden Händen steckte sie den Schlüssel ins Schloss, wollte eben die Türschnalle herunterdrücken, als die Tür plötzlich von innen mit einem Ruck aufgerissen wurde und ihr plötzlich sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater gegenüberstanden.
Beide bleich im Gesicht, ihr Vater mit einem zornigen Ausdruck in den Augen, ihre Mutter, kühl und verschlossen, mit versteinerter Miene.
Sie fühlte den Schmerz noch bevor sie den Schlag in ihr Gesicht wahrnahm, fühlte, wie sie am Arm ins Haus gezerrt wurde und da stand sie nun, stumm, mit den Tränen kämpfend.
Sie hörte, dass ihr Vater etwas zu ihr sagte, aber sie verstand den Sinn der Worte nicht. Sie flossen an ihr vorbei, durch sie hindurch, sie war ganz damit beschäftigt, ihre Tränen zurückzuhalten, die mehr und mehr versuchten, hervorzuquellen.
Ihre Mutter sagte gar nichts, stand nur da, einen stummen Blick auf ihre Tochter und ihren Mann werfend, versteinert.
Endlich hörte Sophie, wie ihr Vater sagte, sie solle nun ihre Schulsachen holen und in die Schule verschwinden.
Sie dachte an die Schularbeit in ihrem Zimmer, daran dass sie sie jetzt noch unterschreiben lassen musste, bevor sie ging. Aber schlimmer konnte es ohnehin nicht mehr werden.
Also schlich sie die Treppe hoch in ihr Zimmer, packte ihre Bücher in die Tasche, ihre Hefte, nahm den Schularbeitsbogen, stieg langsam die Treppe wieder hinunter.
Neben dem Telefon stand ein Glas mit Kugelschreibern. Sie nahm einen davon heraus, schlich zu ihrem Vater, der sich mittlerweile in der Küche hinter seiner Morgenzeitung verschanzt hatte.
Ohne ein Wort legte sie die Schularbeit und den Kugelschreiber vor ihm hin und wartete.
Er blickte auf, blickte sie an, folgte ihrem Blick, der immer noch auf den Bogen vor ihm auf dem Tisch gerichtet war.
Er blickte den Bogen genauer an, nahm den Kugelschreiber, setzte seine Unterschrift darunter und Sophie wollte schon erleichtert aufatmen. „Eine Woche Hausarrest und Fernsehverbot, nur damit Du es weißt. Und lass Dir ja nicht noch mal so einen Blödsinn einfallen“, hörte sie ihn da aber auch schon, drehte sich um und verließ die Küche, nahm ihre Tasche, verließ das Haus, ging mit schwerem Schritt und hängenden Schultern in die Schule.
Dort angekommen, fühlte sie immer noch, wie die Tränen wieder und wieder hochstiegen, ihre Augen schwammen, doch sie wollte sie zurückhalten. Schnell lief sie zur nächsten Toilette, schloss sich in einer der Kabinen ein und endlich, endlich brauchte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie flossen und flossen und flossen, Sophie hatte das Gefühl, sie könnte nun nie mehr aufhören zu weinen, sie würde ihr ganzes Leben lang nur noch weinen.
Aber nach 15 Minuten etwa, war der Spuk wieder vorbei und sie fühlte sich etwas besser, nicht viel, aber ein bisschen, nahm ihre Tasche und ging in die Klasse, setzte sich leise an ihren Platz.
Mit gesenktem Kopf gab sie der Lehrerin die unterschriebene Schularbeit, schon wieder wollten Tränen kommen. Die Lehrerin blickte sie prüfend an, legte ihr die Hand auf die Schulter, fragte : „Alles in Ordnung mit Dir, Sophie ? Wirst sehen, die nächste Schularbeit schaffst Du dann mit Links. Das hier war bloß ein Ausrutscher, das kann doch jedem mal passieren.“ Sophie nickte mechanisch und kämpfte immer noch gegen die Tränen.
„Ja“, sagte sie leise, „beim nächsten Mal werde ich es bestimmt besser machen.“, schluckt und setzt ein Lächeln auf, von dem sie hoffte, dass es auch so aussieht.
Ein dumpfer Schmerz pocht in ihrer Brust, doch sie konzentrierte sich auf den Unterricht und der Schmerz verschwand nach einer Weile wieder. Sie kannte das bereits. Der Schmerz kam und ging, kam und ging, doch sie konnte es niemandem erzählen. Sie wusste nicht, woher er kam, also schwieg sie.
Schwieg solange, bis sie eines Tages im Hause ihrer Eltern ein Messer zur Hand nahm, sich die Pulsadern aufschnitt, zusah, wie das Blut hervorspritzte, den Spiegel, das Waschbecken, die weißen Kacheln sich rot verfärbten, dann schwarz.

Auf ihrem Grabstein konnte man später lesen,
„Hier ruht unsere innigst geliebte Tochter Sophie, die im Alter von 12 Jahren aus unserem Leben schied. Wir werden niemals wissen, warum, doch wir werden sie immer in unserem Herzen bewahren.“

[Beitrag editiert von: Brigitte24 am 26.01.2002 um 22:29]

 

Kompliment! :thumbsup:
Du hast sehr gut die Gefühle von Sophie beschrieben. Ich konnte mich richtig hineinversetzen.
Ich bin ja selber noch Schüler, aber so extrem habe ich das noch nie erfahren. Es gibt ja immer wieder Menschen, die sich von einer Klippe stürzen, "nur" weil sie eine 5 oder eine 6 hatten. :(

Ich spring gelegentlich mal von meinem Bett. ;)

Das Ende hat mich ehrlich gesagt, überrascht. Ich habe mir während dem lesen auch gar keine Gedanken über das Ende gemacht.

Am Anfang hast du geschrieben:

was sie noch riesiger erscheinen liess.

dann

Ein leichter Wind fuhr zwischen den Bäumen hindurch und ließ

Soweit ich weiß, wird "ließ" mit "ß" geschrieben. Das spricht man ja lang.

Bis denn

 

Ganz gute Geschichte! Vor allem der Absatz über den Spanien-Urlaub hat mir gefallen!
Aber gegen Ende hin wirst du viel zu hektisch: Das eigentlich treibende Element der Story, die Hoffnungslosigkeit, die Angst des Mädchens wird darin aufgelöst, dass sie sich umbringt.
Das sind ein paar Worte, die du diesem Ende vergönnst - viel zu wenig!

Meiner Meinung nach würde es der Geschichte gut tun, wenn du dem letzten Absatz etwas mehr Raum verschaffen würdest.

Und, äh ... Muss es denn immer gleich Selbstmord sein??? :(

 

Lieben Dank für Eure offene Meinungen. Zugegeben, das waren meine ersten Schreibversuche und hoffentlich nicht die letzten.
Bin offen für alle Ratschläge, freu mich drüber, wenn ich weiß, was ich noch besser machen kann.

Zu Rainer: Da hast Du offen gestanden recht, das Ende war wohl doch etwas zu aprupt und zu wenig ausgebaut, warum und weshalb.

Die Geschichten waren ursprünglich nur für mich gedacht als "Bewältigungsinstrument" oder wie man das so nennt. Man vergißt dabei dann leicht, daß andere für bestimmte HIntergründe mehr Worte benötigen, um sie erfassen zu können.

Zu Gérard: Lieben Dank auch Dir !
Würde mich freuen, öfter Ratschläge von Dir zu bekommen. Hab gestern noch einige Geschichten von Dir gelesen und festgestellt, daß wir anscheinend auf der selben Welle schwimmen. Jedenfalls haben mich Deine Texte sehr angesprochen und berührt.
Liebe Grüsse
Brigitte

 

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