Die Seiltänzerin
Sie hatte sich nie Gedanken über den Beruf der Seiltänzerin gemacht. Ihr ganzes Leben lang hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, diesen Beruf zu ergreifen. Nun stand sie hoch oben auf dem Drahtseil, mit beiden Beinen, recht wackelig. Was war es für ein Gefühl? Ein recht zwiespältiges. Auf der einen Seite kribbelte es in ihrem Körper, ein schönes Gefühl, aufregend; sie wollte, dass dieses Gefühl blieb; auf der anderen Seite Unsicherheit, Angst. Unsicherheit in dem Wissen, dass sie abstürzen könne.
Sie lebte doch so gut mit ihrem Mann, in Sicherheit, in Geborgenheit, in einer langjährigen Liebe? Stand es ihr zu, dieses Kribbeln?
Wie kam sie auf dieses Drahtseil? Es geschah unbewusst zunächst, ungewollt, oder vielleicht doch gewollt? Sie klammerte sich an dieses Seil, wollte, dass das Kribbeln bleibt, wollte ein anderes Leben. Dieses neue war so aufregend, wenngleich es kein reales Leben war. Es spielte sich nur in ihrem Kopf ab.
Ein Lächeln, ein freundliches "Hallo" hatte sie dort hinaufbefördert, einfach so. In dem Moment, als ihr Gegenüber ihr auf ihren lockeren Gruß antwortete, offen, freundlich, war ihr Herz offen, offen für diesen Mann. Zu dem Zeitpunkt wußte er noch nichts von ihrem Glück, nahm sie an.
Einige Monate waren vergangen, sie balancierte immer noch in schwindelnder Höhe; es gefiel ihr gut. Ob dieser Mann wusste, wie sie dort oben tänzelte, wackelte, abzustürzen drohte? Er wohnte weit weg, es bestand kein Kontakt.
Irgendwann würde sie wieder hinabsteigen und hoffte, dass ihr das gelänge; aber im Moment mochte sie diese kribbeligen Augenblicke nicht missen.