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Die Seiltänzerin

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21.09.2001
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Die Seiltänzerin

Sie hatte sich nie Gedanken über den Beruf der Seiltänzerin gemacht. Ihr ganzes Leben lang hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, diesen Beruf zu ergreifen. Nun stand sie hoch oben auf dem Drahtseil, mit beiden Beinen, recht wackelig. Was war es für ein Gefühl? Ein recht zwiespältiges. Auf der einen Seite kribbelte es in ihrem Körper, ein schönes Gefühl, aufregend; sie wollte, dass dieses Gefühl blieb; auf der anderen Seite Unsicherheit, Angst. Unsicherheit in dem Wissen, dass sie abstürzen könne.

Sie lebte doch so gut mit ihrem Mann, in Sicherheit, in Geborgenheit, in einer langjährigen Liebe? Stand es ihr zu, dieses Kribbeln?

Wie kam sie auf dieses Drahtseil? Es geschah unbewusst zunächst, ungewollt, oder vielleicht doch gewollt? Sie klammerte sich an dieses Seil, wollte, dass das Kribbeln bleibt, wollte ein anderes Leben. Dieses neue war so aufregend, wenngleich es kein reales Leben war. Es spielte sich nur in ihrem Kopf ab.

Ein Lächeln, ein freundliches "Hallo" hatte sie dort hinaufbefördert, einfach so. In dem Moment, als ihr Gegenüber ihr auf ihren lockeren Gruß antwortete, offen, freundlich, war ihr Herz offen, offen für diesen Mann. Zu dem Zeitpunkt wußte er noch nichts von ihrem Glück, nahm sie an.

Einige Monate waren vergangen, sie balancierte immer noch in schwindelnder Höhe; es gefiel ihr gut. Ob dieser Mann wusste, wie sie dort oben tänzelte, wackelte, abzustürzen drohte? Er wohnte weit weg, es bestand kein Kontakt.
Irgendwann würde sie wieder hinabsteigen und hoffte, dass ihr das gelänge; aber im Moment mochte sie diese kribbeligen Augenblicke nicht missen.

:( :rolleyes: :rolleyes:

 

Hallo Heidi,

bei diesem Kurzen Text erhebt sich die Frage, ob es überhaupt eine Geschichte ist. Ich glaube, Ja, und ich will es auch begründen.

Man muss hier drei Zeitebenen unterscheiden, zunächst die Gegenwart: auf dem Drahtseil, dann die Vergangenheit: das freundliche Lächeln und die Reaktion des unbekannten Mannes, und schließlich die Zukunft: einige Monate sind vergangen und doch will die Hauptperson auf dem Seil bleiben.

Was ist geschehen? Eine junge Frau hat in langjähriger Ehe an der Seite ihres Mannes in Geborgenheit und Sicherheit gelebt. Durch irgendeine Begegnung erlebt sie ein "Kribbeln", das Gefühl des Abenteuerlichen. Sie begibt sich auf das Drahtseil und erlebt die Unsicherheit und die Angst, (sozial) abzustürzen. Aber sie erlebt auch ein neues Lebensgefühl, das ihr Freude und Erregung verursacht, hier beschrieben mit dem Wort "Kribbeln". Der Mann, der dieses neue Lebensgefühl ausgelöst hat, ist längst aus ihrem Leben entschwunden. Es hat sich auch nichts Konkretes daraus ergeben, aber in der jungen Frau ist ein Stachel der Erwartung zurückgeblieben. Sie kann das "Kribbeln" nicht mehr vergessen. Seither spielt sie mit dem Gedanken, aus ihrem Leben auszubrechen, selbst wenn sie dabei Gefahr läuft, abzustürzen. Dennoch hat sie die Erwartung, oder die Hoffnung, wieder einmal vom Seil in ihr bisheriges Leben "hinabzusteigen", aber im Moment noch nicht. Wann wird es sein? Wenn sie sich älter fühlt und für sie Sicherheit und Geborgenheit wichtiger geworden sind als heute? Diese Frage bleibt offen.

Dieses neue Leben spielt sich "nur im Kopf" der jungen Frau ab. Man sieht es ihr nicht an. Aber sie klammert sich an das Seil.

Ein erregender Text. Wieviel kann man doch mit wenigen Worten sagen! Oder hab ich zuviel hineininterpretiert?

Viele Grüße

Hans Werner

 

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