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Die Sitze sind blau
Landschaften ziehen vorbei. Silhouetten von Gestalten rasen und verblassen hinter den Scheiben. Das Rot einer Abendsonne schießt zwischen einem Paar Regenwolken hervor und ich lege den Kopf in Nacken, weil das beruhigt, und die Hände zittern nicht mehr so sehr und mein Herz trommelt jetzt ganz sanft.
Wohin wir fahren? Ich weiß nicht. Nach Hause.
Im Gang knallt ein Fahrrad. Ein Inder wirbelt herum, fast fällt ihm die Brille von der Nase, das finde ich lustig. Ich winke ihm, doch er zieht nur die Augenbrauen zusammen, faltet die Hände und blickt auf seine Schenkel.
Der nächste Halt. Noch mehr Menschen. Doch ich will nicht nicht atmen, der Wind peitscht Regentropfen ans Glas, ich schließe die Augen und dann ist das wie Applaus, und als ich sie wieder auftue, ist da nur noch mein Spiegelbild und ich nicke mir selbst zu und frage: Alles klar, Kumpel?
Ich lese die Überschriften der Zeitung meines Sitznachbarn. Flüchtlinge, TERROR, ganz klein: rechter Mob … Reflexartig wendet er sich ein wenig von mir ab. Bitte. Er riecht nach Tod.
Still hier. Jedes heimliche Rascheln in den Taschen ist zu hören, jedes Räuspern und Schnauben, Adern an der Stirn – bereit zur Flucht, wie Schafe, nur dass sich hier niemand gegenseitig wärmt. Vielleicht werde ich heute weinen können, zu Hause. Einfach, weil ich einsam bin.
Eine blonde Frau im Gang. Ich möchte ihr zu nicken, was sagen, was in der Art: Hallo. Bist du einsam? Ich auch. Aber ich weiß nicht mehr wie das funktioniert. Ich forme meine Lippen zu einem Lächeln. Sie zwängt ihr Haar hinter die Ohren, richtet sich stramm auf, drückt die Wirbelsäule durch, reißt einen Arm in die Höhe und schreit: HEIL HITLER.
Das ist seltsam. Ich weiß.
Meine Hosentasche vibriert.
Komm doch später noch ins Schiller, hab dich lieb.
Elena hat mir geschrieben.
Ich krame meine Kopfhörer heraus und schaue eine wacklige Videoaufnahme: Meine Schwester, Elena, sitzt auf einem Barhocker. Eine Akustikgitarre auf dem Schoß. Sie singt ein Lied. Dann mein Gesicht, das lachend immer näher kommt im Film, bis alles verschwimmt. Auf Elenas Shirt steht: Two damaged people trying to heal each other is love. Sie singt von der Wildheit in den Augen, von ertrinkenden Menschen, vom Liebhaben und Wegrennen, das eigentlich nur Entgegenkommen ist. Sie neigt den Kopf und liebkost das Gitter des Mikrofons, als wäre dahinter etwas gefangen, das sie lieb hat. Dann Klatschen und Pfeifen. Elena presst ihre Lippen aufeinander. Ich gehe einen Schritt auf sie zu, filme ihr Gesicht. Sie lacht, wendet den Kopf ab und schlägt auf die Linse.
Augen, die mich anstarren. Ich zucke zusammen. Eine Frau mit Locken, ein paar Sitzreihen vor mir. Angst, die in die Schwärze der Pupillen zurückkriecht. Sie führt ihren Zeigefinger an die Lippen: Shht.
Der Zug leert sich. Ich schiele auf die Liniennetzkarte. Es blinkt rot … vier, fünf Punkte vor der letzten Station.
Ich schließe die Augen und döse, weil alles dreht sich weiter, ich will Stopp schreien, aber es hört nicht auf, nur Flüstern im Wirbel von Laub und Dings und ich erschrecke, atme schwer, weil eigentlich, Scheiß drauf, ich greife über mich und ziehe die Notbremse.
Ich weiß …
Der Zug vom wilden Galopp - stellt sich auf. Ich knalle gegen die Rückenlehne. Lippen quetschen, Wange drückt gegen Stoff, quietscht und zerrt, rüttelt und schnauft, Reibung und Hitze und Qualm und All und Universum und Tunnel und jetzt ganz gerne der Tod sein, weil das bedeutet nicht mehr zu sterben, grelles Licht am Ende, ich setze eine Sonnenbrille auf, Hände in die Hosentaschen und sage: Bin soweit. Aber ich bin ganz alleine im Abteil. Plastikflaschen rollen im Gang. Sie schlagen an die Türe zur Fahrerkabine. Die Bahn wird langsamer, ein Geräusch wie ein Spatz, der gegen ein Fenster knallt.
Die Zeit rast, der Geist kommt nicht hinterher. Augen zu, weil die Lider wiegen so, so schwer. Meine Stirn an der Scheibe. Ich erkenne die Dunkelheit dahinter. Ich muss hier raus. Ich drücke den Knopf. Die Türen schwingen auf, ich taumle und unter mir Asphalt. Ein Bahnhof und Nacht und kalt. Eine Lampe hängt an der Leitung - meine Beine bewegen sich nicht. Haare wehen mir ins Gesicht. Ich drehe den Kopf. Schräg unten: Blut.
Ein paar Meter weiter eine Frau, verdreht auf dem Schotterbett. Ich springe auf die Schienen und schlage mir das Knie auf. Der Lokführer, Kerl mit Schnurrbart, sitzt aufrecht hinterm Fahrerfenster und lächelt.
Ich knie mich hin. Wohin mit den Händen?
Ich stammle etwas und gehe ganz nah mit dem Ohr an ihr Gesicht – nichts.
Ich fahre mir durchs Haar. Verdammte Scheiße.
Ich nehme ihre Hand und finde darin ein Briefumschlag, ich stecke ihn in die Manteltasche. Ihr linker Schuh fehlt, ein rotes Ding mit Absatz liegt unter der Bahn. Ich ziehe ihr den rechten Schuh aus – ich weiß nicht, wieso.
Stimmen. Echos. Schreie. Ich falle einem großen Mann in die Arme. Ich spüre die Polizei-Stickerei an der Nasenspitze. Ich hole meine Fahrkarte heraus und zeige sie ihm. Er führt mich weg, weil er die eigentlich gar nicht sehen braucht. Blaulicht. Nachthimmel. Bumbum, Bumbum … ich reiße mich los, krieche unter die Bahn und hole ihren Schuh. Eine Katze springt von der Mauer. Sie schnurrt und reibt sich an meinen Waden. Ich streichle sie hinter den Ohren.
»Sie können die Katze ruhig halten, wenn sie das beruhigt. Wir müssen ihnen nur ein paar Fragen stellen.« Der Polizist guckt zu mir runter. Er reicht mir eine Hand, ich packe sie und er zieht mich rauf.
Ein Spritzer Senf auf dem blauen Hemd. Ich erzähle, was ich weiß. Sie wollen meine Schuhe haben. Ich sage, macht damit, was ihr wollt …
Wie die Schwingen einer Krähe, die Drehtüre. Stimmen im Ohr. Ich setze mich an die Bar, gleite über das Holz und finde erst Halt, als ich die Kante des Tresens umschließe.
Elena zapft mir ein Bier. Sie redet, doch ich kann es nicht verstehen. In einer Höhle, die Haare wirr, die Seele auch. Alles dumpf, ein Nebel, ein Schleier im Raum, der alles umhüllt und niemand mehr seine Stimme erheben lässt.
»Hugo? Hugo? Der wollte noch kommen.« Mehr Wind als Stimme. Elena rüttelt an einer Schulter.
Ein Klingeln im Raum. Schrill und klirr und Schall und Bäh. Viel zu laut! Ich halte mir die Ohren zu. Elena nimmt den Hörer ab. Elena hört zu. Elena zuckt zusammen. Elena reißt die Augen auf. Elena hat Panik. Ich fahre an dem Papier entlang und nippe am Bier. Vielleicht ein Unfall, vielleicht nur gestolpert, ausgerutscht und aus Versehen auf die Gleise gefallen. Laune des Universums.
Manteltasche! Mein Nacken ist steif. Nein, ich … Ich greife hinter die Bar. Das Streichholz zischt wie ein Kobra mit aufgeblähtem Hals … ich zünde den Brief an. Dann ein Licht. Direkt über mir. Der Umschlag brennt, glüht und zieht sich zusammen. Ich werfe ihn in den Aschenbecher, das Papier windet sich. Wieder das Licht. Tut an den Augäpfeln weh. Ich blinzle. Ein Mann im weißen Mantel über mir, runzelt die Stirn, dann ist er wütend. Wieso bist du wütend, Mann im weißen Mantel? Er deutet auf meine Hand. Die ist voll Blut. Wie gerne wäre ich jetzt eine Frau … Kleines Missgeschick, Herr Doktor, ich himmle ihn an, klimpere mit den Wimpern und lächle und stupse ihm in die Seite. Ach, die hat sich vor den Zug geworfen? Schlimme Sache, schlimme Sache, ich schlage ihm auf den Arm, als wäre meine Hand ein Lappen, den man ausklopfen muss. Schlimme. Sache. Das! Nur die Schuhe retten können? Ein schönes Paar, also, elegant, nicht zu aufdringlich, oh ja, das gibt schön Blasen, was ich mich schon freue, wenn ich barfuß, Größe sechsunddreißig, ja, die würden passen, ja, wenn es ihnen nichts ausmacht … Was? Oh, okay, natürlich. Ich warte.