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Die Wache
Die Nacht brach herein. Die Hörner erklangen und die Schlachtgeräusche verstummten allmählich. In der Südmauer klaffte ein neues Loch. Doch kaum waren die letzten Krieger teils humpelnd, teils mitgeschleppt von ihren Kameraden, verschwunden, fanden sich die Steinmetze ein, das durch die Belagerer aufgebrochene Gestein auszubessern. Allerdings fiel ihre Arbeit von Nacht zu Nacht schlampiger aus – die vielen durchgearbeiteten Nächte und schlaflosen Tage forderten ihren Tribut.
Quentin hatte für diese Nacht eine vergleichsweise einfache Aufgabe erhalten. Er saß vor einer kleinen Holztür auf der Rückseite der Stadt, wo die Mauer direkt an die steile Küste grenzte. Besucher vermuteten oft, die ganze Stadt sei dem Felsen entwachsen. Die Einheimischen jedoch wussten, dass dem mitnichten so war – hatten doch viele ihrer Vorfahren den Tod beim Bau von Enual gefunden. Und selbst von den Einheimischen wussten nur sehr wenige, dass die plumpe Holztür, vor der Quentin nun seine Nachtwache antrat, zu mehr zu gebrauchen war, als den Abfall der Stadt in den Abgrund zu werfen. Ein schmaler Pfad wand sich entlang der Küste und er endete gut zwei Meter unter besagter Tür. Mit einem Seil konnten Besucher von oben in die Stadt gezogen werden – wenn Sie denn den Pfad bezwangen.
In den letzten zwei Wochen war das niemandem gelungen. Die Belagerer hatten jeden umgebracht, der es hätte versuchen können. Seufzend wandte sich Quentin dem brutzelnden Fleisch über dem Lagerfeuer zu. Zwar hatte er heute Nacht keinen schweren Dienst vor sich, aber ein Besuch in der Taverne und ein paar nette Mädchen wären ihm lieber gewesen. Die glühenden Holzscheite zischten, als etwas von Quentins Abendessen hineinfiel. Missmutig stocherte er mit seinem Schwert in der Glut, bis er den Finger gefunden hatte. Er hatte den Dreh immer noch nicht richtig raus. Auf die Finger, die seine Kameraden als Delikatesse zu schätzen gelernt hatten, musste er stets verzichten. Immer ließ er sie verkohlen, bevor der Rest des Unterarms durchgegart war.
Am Anfang hatte es noch Widerstand gegen den Erlass des Herzogs gegeben. Vor allem die Frauen weigerten sich, das Fleisch der Gefallenen zuzubereiten oder zu essen. Auch wenn nur die Leichen der Besatzer verzehrt werden sollten (wobei Quentin nichts dagegen gehabt hätte, seinen fetten, nichtsnutzigen Schwager zu grillen): Überwindung hatte es sie alle gekostet. Aber irgendwann machte jeder mit und der Geschmack war nicht schlechter als der der Ratten, die sie zuvor gejagt hatten, um den Hunger zu vertreiben.
Und so stellte Quentin erfreut fest, dass die Finger zwar wie immer ungenießbar, der restliche Arm des feindlichen Bogenschützen jedoch zum Verzehr bereit war. Gerade, als Quentin seine Zähne in das heiße, saftige Fleisch graben wollte, erklang eine Stimme von der anderen Seite der Tür.
„Hallo? Ist da jemand? So lasst mich doch ein!“
Etwas missmutig legte Quentin sein ersehntes Abendessen beiseite und entriegelte die Tür. Vorsichtig schielte er über den Rand der Klippe.
„Ah, da ist ja doch jemand. Nun lasst mich schon rauf!“
Die Selbstverständlichkeit, mit der die unscheinbare Person auf dem Felsvorsprung unter ihm Einlass forderte, verblüffte Quentin. Zudem schien die junge Frau nicht ein bisschen erschöpft zu sein – und das, obwohl sie mindestens zwei Tage mühseligste Kletterei hinter sich haben musste.
„Nun mal langsam. Bevor ich Euch hier hoch helfe, müsst Ihr mir schon die ein oder andere Frage gestatten!“
Quentin zupfte nervös an seiner Uniform herum.
„Wie lautet Euer Name?“
„Mein Name?“
Die Frau auf dem Absatz unter ihm klang belustigt.
„Komm schon Bursche, du kennst mich doch. So viele Wochen war ich dir eine treue Begleiterin, bevor euer Herzog mich aus der Stadt warf, dieser gierige Bastard. Sieh mir einmal in die Augen und sag mir dann noch einmal, dass du meinen Namen nicht kennst.“
Verdutzt beugte sich Quentin noch ein wenig weiter über die Kante und starrte hinab in die schwarzen, großen Augen der Fremden. Die Leere in ihnen hatte eine Art grausame Faszination für Quentin. Mit jeder Sekunde, die er in ihre Augen starrend verharrte, spürte er eine Sehnsucht, die sich langsam von seinem Kopf aus im ganzen Körper auszubreiten schien. Gleichzeitig drang ihm intensiv der Geruch seines Abendessens in die Nase und sein Magen begann sich zu verkrampfen und knurrte wie ein ausgehungerter Bär. Trotz diesem Verlangen, dass sich langsam in all seine Gedanken schlich, kam Quentin nicht darauf, was die Fremde meinte. Woher sollte er sie kennen? Erst als sein Magen sich derart verkrampfte, dass er stöhnend auf die Knie sank und die Erinnerung an die Zeit vor dem Erlass des Herzogs vor seine Augen trat, wusste er, mit wem er es zu tun hatte.
In seinen Gedanken sah Quentin alles nur wieder allzu deutlich vor sich: Die dünnen Arme und beine der Kinder, mehr dürre Hölzer als kräftige Gliedmaßen. Die ausgemergelten Gesichter der Alten, die verzweifelten Blicke der Mütter, die keine Milch mehr hatten für ihre Neugeborenen. Und in all diesen Bildern fand sich nun -wieso hatte er das nur früher nie bemerkt - im Hintergrund die Fremde, die hier um Einlass bat.
„Du bist der Hunger!“, keuchte Quentin schließlich außer Atem, nachdem es ihm gelungen war, den Blick zu lösen.
„Ach, wie nett. Der Hunger, schon klar. Die Brüste hab ich heute nur zum Spaß. Es heißt die Hunger, wann lernt ihr ignoranten Menschen das endlich? Die Sehnsucht nach Essen, die Gier nach Fleisch, die Lust auf Süßigkeiten, die Völlerei! Es ist kein Zufall, dass ihr Männer mich zuweilen auch verspürt, wenn ihr die hübschen Mädchen seht. Hunger ist weiblich.“
Sie formte mit ihren Lippen einen Schmollmund und schien tatsächlich beleidigt zu sein.
„Entschuldige bitte“, rief Quentin zu ihr hinunter, „natürlich hast du Br..., ähm, bist du weiblich, bitte verzeih mir.“
Als er sich halbwegs gefangen hatte, fiel ihm jedoch seine eigentliche Aufgabe wieder ein.
„Warum sollte ich ausgerechnet Hunger zurück in die Stadt lassen, kannst du mir das mal erklären? Es tut mir ja leid, aber auf deine Gesellschaft können wir hier sehr gut verzichten! Und überhaupt: Wir haben genug zu essen, was willst du hier?“
„Ach Junge“, seufzte Hunger und ließ sich mit einer eleganten Bewegung in den Schneidersitz nieder. Der kalte Wind, der die Felswand entlangpfiff, schien sie nicht im Geringsten zu stören.
„Ich habe es ja versucht, da draußen, bei den Zelten eurer Belagerer. Aber die leben im Überfluss! Eure Bauern haben genügend Tiere und Feldfrüchte zurückgelassen, da wird für mich auf Wochen nichts zu holen sein. Naja, und ich kann meinem Bruder ja nicht alles durchgehen lassen...“
„Deinem Bruder?“ Quentin war entsetzt. „Und wer soll das bitte sein?“
„Der Wahnsinn natürlich“, sagte Hunger mit einer Gelassenheit, die bei Quentin das Fass zum Überlaufen brachte.
„Weißt du was? Ich rede nicht mehr mit dir. Hunger, dass ich nicht lache. Bestimmt bist du eine Hexe, die der Feind hierher geschickt hat, um mich zu verwirren.“
Er wollte gerade die Tür zuschlagen, als ihre flehende Stimme sein Ohr erreichte: „Besinne dich doch! Denk doch einmal daran, wie ihr seit Tagen euren Hunger stillt. Denkst du wirklich, der gutmütige Herzog hätte jemals ein solches Gesetz erlassen, wenn nicht mein Bruder sein Berater wäre? Und alles nur, um mir eins auszuwischen. Er macht das ständig, weißt du? Andauernd hängt er sich an mich ran. Er nutzt es aus, dass ich eure Gedanken ein klein wenig an meine Struktur anpasse - ich bin für ihn nicht mehr als ein blöder Hintereingang zu eurem Bewusstsein.“
Quentin ließ die Tür einen Spalt offen, aber obwohl Hunger regelmäßig nach ihm rief, brauchte er doch ein wenig Zeit, um nachzudenken. Schließlich öffnete er wortlos die Tür und ließ ein Seil hinab. Sie wog fast nichts, schon nach kurzer Zeit stand er ihr direkt gegenüber, wobei er vermied, ihr in die Augen zu sehen.
„Ich habe dich eingelassen, obwohl du nichts Gutes für uns bedeutest, willst du mir auch einen Gefallen tun?“
Drei Tage später wurde die Belagerung Enuals abgebrochen, nachdem das Söldnerheer vor der Stadt von einer unglaublichen Insekten- und Rattenplage heimgesucht worden war. Gierig hatten sich die Tiere auf alles gestürzt, Lebensmittel waren unbrauchbar geworden durch ihren Kot und die Söldner waren entstellt durch die Stiche tausender Mücken und Wespen. Das Lager wurde förmlich überrannt von hungrigen Tieren aller Art.
Nachdem der Feind abgezogen war, wurden die Tore Enuals geöffnet, um den Bauern die Heimkehr auf die zerstörten Höfe zu ermöglichen. Die ersten, die die Stadt verließen, war ein fröhliches Geschwisterpaar, dass einen Siegesmarsch pfeifend dem Heer hinterherzog, während in der Stadt gefeiert wurde und der Herzog mit Schamesröte im Gesicht den Verzehr von Menschenfleisch verbot.
Quentin saß nachdenklich auf der Stadtmauer und hoffte, dass er so schnell niemanden mehr aus Hungers weitläufiger Verwandtschaft kennenlernen würde.