Die Zugreise
Es war kalt. Der eisige Wind pfiff über den Bahnsteig und ließ den Atem der Wartenden in Form von kleinen Nebelschwaden sichtbar werden. Um sich gegenseitig zu wärmen, war die Menge eng aneinander gerückt, um so wie eine Herde Moschusochsen der klirrenden Kälte zu trotzen.
Auch Benjamin befand sich inmitten des Knäuels von Menschen und die Körperwärme der ihn Umgebenden sorgte dafür, dass er nicht zu sehr fror.
Außerdem war er viel zu aufgeregt, um zu frieren. Er freute sich vielmehr auf die bevorstehende Bahnreise. Noch nie in seinem bisher neun Jahre andauernden Leben war er mit der Eisenbahn gefahren. Als ihm seine Mutter vor ein paar Tagen erzählt hatte, dass sie bald eine lange Bahnreise antreten würden, war er ganz außer sich vor Freude und konnte die kommenden Nächte vor Aufregung kaum schlafen. Er konnte den Zeitpunkt der Abreise kaum noch erwarten und jeden Morgen, wenn er aufwachte, fragte er seine Mutter, wann sie denn nun endlich losfahren würden.
Nun war es also soweit. Sie standen auf dem Bahnsteig und warteten auf den Zug. Mit ihnen warteten noch viele andere Menschen, die alle mitfahren wollten. Benjamin dachte sich, dass es ein sehr großer Zug sein musste, wenn er so viele Menschen befördern konnte.
Noch nie in seinem Leben hatte Benjamin eine so große Anzahl von Menschen auf einem Haufen gesehen. Es war eine so gewaltige Anzahl, dass er sie gar nicht hätte zählen können, wenn er überhaupt schon so weit hätte zählen können. In dem kleinen Dorf, in dem er mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester lebte, wohnten nie mehr als achtzig Leute, von denen er alle mit Namen kannte.
Hier jedoch kannte er so gut wie niemandem und die vielen unbekannten Gesichter machten ihm Angst, so dass er sich fest an dem Rockzipfel seiner Mutter festhielt. Hätte ihn sein Freund David so gesehen, hätte er ihn bestimmt als Muttersöhnchen beschimpft.
Doch David war nicht bei ihnen. Gestern war ein Onkel von ihm im Dorf erschienen und hatte ihn mit sich genommen. David, der immerhin zwei Jahre älter als Benjamin war und auch noch nie mit einem Zug gefahren war, wollte erst nicht mit seinem Onkel mitgehen. Zu sehr hatte er sich ebenso wie sein Freund Benjamin auf die Fahrt mit der Eisenbahn gefreut. All sein Bitten und Betteln hatte jedoch nichts geholfen. Der Onkel von David lebte im Wald, er war Jäger oder so etwas, wie David es Benjamin beim Abschied erzählt hatte und brauchte die Hilfe seines Neffen.
Schweren Herzens war David also mit ihm gegangen, hatte sich von seinem Freund und von seiner Mutter verabschiedet. Benjamin wunderte sich nur darüber, dass Davids Mutter trotzdem die Bahnreise angetreten hatte. Er hatte sie vorhin kurz auf dem Bahnsteig gesehen und nahm sich vor, nach seiner Rückkehr David alles von der aufregenden Fahrt mit der Eisenbahn zu erzählen. Darauf freute sich Benjamin ganz besonders, denn David würde bestimmt sehr neidisch auf ihn sein und hoffen, auch einmal mit der Eisenbahn fahren zu können.
Benjamin wurde aus seinen Gedanken gerissen. Mit lautem Getöse und schnaubend wie ein Pferd fuhr die Dampflok in den Bahnhof ein. In ihrem Gefolge befand sich eine schier nicht endende Schlange von Waggons, die ratternd vor der Menschenmenge zum stehen kam. Dann öffneten sich die Türen der Waggons und große Männer in Uniformen entstiegen den Wagen.
Benjamin hatte sich die Uniformen von Zugschaffnern immer ganz anders vorgestellt, viel bunter. Die Schaffner dieses Zuges trugen alle graue Uniformen und hatten auch keine Pfeife dabei. Wo er doch insgeheim gehofft hatte, einmal in die Trillerpfeife eines richtigen Eisenbahnschaffners pfeifen zu dürfen.
Langsam setzte sich die Menschenmenge in Bewegung und einer nach dem anderen bestieg mit Hilfe der Schaffners den Zug. Auch Benjamin und seine Mutter gelangten so in den Zug und setzten sich auf ihre Plätze. Die Aufregung von Benjamin legte sich langsam und wurde von der Freude verdrängt, endlich mit einer richtigen Eisenbahn fahren zu dürfen.
Die Türen wurden geschlossen und mit einem lauten Zischen setzte sich der Zug in Bewegung. Erst ganz langsam und dann immer schneller werden, bahnte er sich seinen Weg auf den stählernen Schienen durch die Nacht. Am Zugfenster huschte die Landschaft nur so vorbei, so dass Benjamin fast schlecht wurde, als er hinaus schaute. Seine Mutter sagte ihm, er solle sich doch hinlegen und etwas schlafen, denn die Fahrt würde ja noch sehr lange dauern. Doch Benjamin wollte nicht einen Augenblick der Reise verpassen, um David alles ganz genau berichten zu können. Er schaute aus dem Fenster und ließ sich den Fahrtwind um die Nase wehen.
Nach einer Weile rief ihn seine Mutter zu sich und forderte ihn auf, endlich etwas zu schlafen. Er setzte sich neben sie und lehnte sich gegen ihre Schulter. Benjamin wusste nicht, wohin die Reise gehen sollte. Seine Mutter, die ihm nun leise ein Schlaflied vorsang, hatte es ihm nicht erzählt. Sie wusste es bestimmt, denn seine Mutter war ja eine Erwachsene und Erwachsene wissen immer alles. Das Ziel der Reise war ihm eigentlich auch nicht so wichtig, Hauptsache sie fuhren.
So fuhr der Zug noch eine ganze Weile durch die dunkle Nacht, vorbei an schneebedeckten Hügeln und Wäldern, die im faden Licht des inzwischen aufgegangenen Mondes gespenstisch schimmerten. Außer dem Schnauben der Lokomotive und dem Rattern der Eisenbahnwaggons waren kaum Geräusche zu hören. Die ganze Welt, durch die sie fuhren, schien wie ausgestorben zu sein. Alle Lebewesen schienen zu schlafen. Auch im Zug schliefen viele Leute, was unverkennbar an ihrem lauten Schnarchen zu erkennen war. Schließlich schlief auch Benjamin im Schoß seiner Mutter ein.
Als er aufwachte, waren viele Stunden vergangen und der Zug wurde langsamer, bis er letztendlich ganz zum Stehen kam. Die Türen wurden geöffnet und die Schaffner in den grauen Uniformen halfen den Fahrgästen aus dem Zug. Auf dem Bahnsteig versammelten sich alle Mitreisende und nach kurzer Zeit setzte sich die Kolonne der vielen Menschen, die mit dem Zug gekommen waren, zu Fuß in Bewegung, vorbei an einem großen Bahnhofsgebäude in Richtig einer Art Stadt.
Als sie durch das große Tor am Anfang der Stadt gingen, blickte sich Benjamin kurz um und betrachtete die Inschrift, die am Tor angebracht war. Am fernen Horizont war inzwischen die Sonne aufgegangen und ließ das Tor in feurigem Rot erstrahlen. Die Buchstaben der Inschrift waren aus glänzendem Stahl und reflektierten das leuchtende Rot der Sonne so stark, dass Benjamin sie fast nicht lesen konnte. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die blendende Sonne und er konnte die Schrift entziffern, die im Halbbogen über dem Tor angebracht war.
Sie lautete: ARBEIT MACHT FREI…