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Drüben wohnt ein Neuer
Karla und Sven standen vor dem Nachbarhaus.
Seit drei Tagen wohnte hier eine neue Familie - die Geschwister hatten beobachtet, wie der Umzugswagen kam und große Männer viele Kartons und Möbel in das Haus hineintrugen.
Zwischen den Erwachsenen war auch ein Junge herumgelaufen. Einmal hatte er Karla und Sven angesehen, aber bevor eines der Kinder etwas sagen konnte, wurde der fremde Junge ins Haus gerufen. Offenbar hieß er Martin.
„Warum geht ihr nicht mal hinüber und lernt den neuen Nachbarsjungen kennen?“, hatte die Mutter den Geschwistern an diesem Samstag vorgeschlagen. Kurz darauf standen die beiden also vor dem Hauseingang und stritten, wer klingeln sollte; da öffnete sich plötzlich die Türe.
„So laut wie ihr hier rumschreit, muss keiner von euch klingeln“, sagte Martin mit einem frechen Grinsen.
„Meine Mom hat uns allen Kekse gebacken“, sagte Karla erschrocken und hielt dem Nachbarsjungen eine Blechdose unter die Nase.
„Prima, bestimmt macht mein Vater uns Kakao dazu. Aber kommt doch erst mal rein, ihr steht ja im Regen! Und übrigens: ich heiße Martin.“
„Haben wir schon gehört“, sagte Sven. „Ich bin Sven und das ist meine Schwester Karla.“
„Wir sind Zwillinge“, ergänzte Karla.
Während sie gemeinsam durch den Flur ins Wohnzimmer gingen, stellten die drei fest, dass sie alle im gleichen Alter waren.
Von irgendwo im Haus hörte man das leise, blecherne Dudeln eines Radios und es raschelte und stampfte. „Mein äh… Onkel renoviert grade mit meinem Vater das neue Arbeitszimmer“, erklärte Martin. „Setzt euch doch erst mal, dann frage ich meinen Vater, ob er uns Kakao macht.“
Die Geschwister nahmen auf dem Sofa platz und sahen sich um.
Zwischen den bereits aufgestellten Möbeln standen überall noch Umzugskartons, teilweise ungeöffnet. Bei anderen hatte wohl jemand nur bestimmte Teile herausgenommen und den Rest wieder zurückgestopft oder einfach daneben liegenlassen. Trotzdem wirkte der Raum schon gemütlich.
"Das ist mein Vater", stellte Martin kurz darauf einen sympathisch aussehenden Mann vor, der lauter Farbkleckse auf der Kleidung und im Haar hatte. Die Zwillinge mochten ihn gleich. Nach einer kurzen aber herzlichen Begrüßung verschwand er in die Küche, mit der Ankündigung den Kindern heiße Schokolade zu bringen.
Bis dahin machten sich die drei schon mal über die ersten Kekse her und Martin musste erzählen, wo er herkam und wieso sie umgezogen waren.
"Ich lebe mit meinem Vater und meinem Onkel zusammen, eine Mutter habe ich nicht", erklärte Martin.
Die Geschwister wunderten sich, jeder hatte doch eine Mutter? Aber Martin war offensichtlich nervös und knetete seinen Pulli während er sprach, deshalb fragten die beiden lieber nicht weiter nach.
Martin überging seinerseits die fragenden Blicke und fuhr schnell fort: "Jedenfalls hat mein Vater hier einen neuen Job bekommen und weil mein Onkel sowieso von zu Hause arbeitet, ist er einfach mitgekommen."
Martins Vater unterbrach die drei, als er ein Tablett mit drei großen, vollen Tassen auf den Tisch vor die Kindern stellte. „Ich habe grade eben den Karton mit den Spielen gefunden, vielleicht habt ihr ja Lust?"
Kakao, Kekse und Spiele! Damit war der Plan für den Nachmittag gemacht.
Die drei verbrachten einige fröhliche Stunden, und trafen sich in den folgenden Wochen immer öfter. Martin kam auch auf dieselbe Schule und schnell waren sie dicke Freunde.
Bald teilten sie auch die größten Geheimnisse... mit einer Ausnahme. Martin wich sofort aus, wenn man ihn auf seine Mutter ansprach. Die Geschwister respektierten das und hakten nicht weiter nach. Sie konnten es verstehen, denn ihre Eltern waren seit einigen Jahren geschieden und die Zwillinge hatten selber lange gebraucht um offen damit umzugehen.
„Mama und Papa wollen nicht mehr zusammen wohnen“, hatten die beiden Martin erklärt, „deshalb ist Papa weggezogen und wir sehen ihn meistens nur in den Ferien. Ist ziemlich doof, aber man gewöhnt sich wohl dran.“
„Ja,“ sagte Martin, „man gewöhnt sich dran.“
Eines Abends fragte Karla ihren Bruder, ob er Martins Vater auch so gerne hätte und als Sven ja sagte, erklärte Karla: „Das ist gut, denn ich habe eine Idee!“
Nachdem Karla erzählt hatte, was sie sich ausgedacht hatte, sagte Sven nur: „Da müssen wir aber erst Martin fragen!“
Am nächsten Tag in der Schule verabredeten sich die Freunde für den Nachmittag und Karla tat schon ganz geheimnisvoll. Martin war sehr gespannt, als die drei endlich beisammen saßen und Karla loswerden konnte was sie vorhatte: „Lasst uns deinen Vater und unsere Mom miteinander verkuppeln“, rief sie.
Martin wurde ganz still - damit hatten die Zwillinge nicht gerechnet.
Karla fragte schnell: „Was ist, ich dachte, du magst unsere Mom?“
Martin sagte: „Ja, ich schon.“
Er stockte. „Aber mein Vater nicht.“
Die Geschwister sahen sich erstaunt an. „Aber die beiden unterhalten sich doch immer total lange im Vorgarten!“, sagte Sven.
Martin sah auf den Boden, und krallte seine Finger in den Pullover. Karla glaubte Schweiß auf seiner Stirn zu erkennen. „Also - das ist schwer zu erklären. Natürlich mag mein Vater eure Mutter. Aber eben nicht so…“
Martins stirn legte sich in Falten, während er nach Worten suchte. "Wisst ihr, mein Vater...also mein Onkel...", druckste er herum und schaute unsicher zwischen dem Fußboden und seinen Freunden hin und her.
Karla traf die Erkenntnis wie der Blitz.
„Das ist gar nicht Dein Onkel, oder?“, fragte sie.
„Nein.“
Martin schaute sie an. „Er ist der Lebensgefährte von meinem Vater. Jetzt wisst ihrs.“
„Aber, aber...!“, stotterte Sven. „Ich meine, wie bist du, also woher kommst… also, das geht ja nun auf die Art nicht einfach so. Ich meine, du weißt was ich meine, oder?“
„Das ist doch jetzt gar nicht wichtig“, fuhr Karla dazwischen. „Martin, wieso hast du uns das nicht einfach erzählt? Ist doch nix dabei, kannst du ja nix für. Und dein Vater ist doch echt prima, ist doch egal ob er Frauen mag oder Männer.“
Martin knetete seinen Pulli. „Ja, schon. Aber wie hätte ich euch das sagen sollen? Ich meine, ich kannte euch ja am Anfang gar nicht und sowas muss ja auch nicht jeder wissen. Und als wir dann Freunde waren, hatte ich Angst, dass ihr mich nicht mehr mögt, weil ich euch angelogen habe.“
„Natürlich mögen wir dich noch! Stimmt´s Sven?“, fragte Karla ihren Bruder.
Der war immer noch sprachlos vor Erstaunen, bestätigte aber mit wildem Kopfnicken, dass sich an ihrer Freundschaft nichts geändert hatte.
„Ich glaube, wir können jetzt alle Kakao und Kekse vertragen, was meint ihr?“
Karla sprang auf und ging Richtung Küche.
Die beiden Jungen schauten sich fragend an. Mit einem Schulterzucken erhob sich Sven, reichte seinem Freund die Hand zum Aufstehen und grinste:
„Schauen wir doch mal, was es für Kekse gibt.
Aber wie du…“, er suchte nach den richtigen Worten. „Also wie du dann auf die Welt gekommen bist, musst du mir noch mal erzählen.“