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Du kannst nicht nach Hause gehen

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28.12.2009
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Du kannst nicht nach Hause gehen

Remi ist Neunzehn und darf das Auto seiner Eltern benutzen. Wir treffen uns auf dem Parkplatz der Autobahnraststätte. Meistens fahren wir zu einem Maisfeld oberhalb der Kirche. Von hier aus kann man die Flughafenlichter sehen. Bevor wir es machen, legt er eine Bundeswehrdecke auf die Sitzpolster der Rückbank. Danach nimmt er sich eine von meinen Zigaretten. Er sagt, er raucht nur wenn er mit mir zusammen ist.

Heute lässt er mich eine halbe Stunde warten. Den Wagen erkenne ich an den Frontlichtern, schmal und heller als die der anderen Autos. Er hält mit laufendem Motor neben mir und öffnet die Tür von innen.
„Musste was erledigen“, sagt er und legt eine Hand auf meinen Schenkel. Ich sehe aus dem Seitenfenster. Im Wagen ist es warm. Er dreht die Musik lauter. Seine Hand lässt er auf meinen Schenkel liegen.

Wir fahren die Hauptstraße entlang, an geschlossenen Geschäften vorbei. Ich starre in den Rückspiegel. Auf die bunten Lichter. Die Gegend kenne ich nicht. Lange Einfahrten führen zu Häusern, die hinter dichten Hecken liegen. Hinter den Fenstern kann ich schwaches Licht erkennen. Remi hält am Straßenrand und zeigt auf eines der Häuser.
„Meine Eltern sind am Bodensee für’s Wochenende.“
Ich nicke.
„Warst du schon mal am Bodensee?“
„Nein.“
„Warst du überhaupt schon mal woanders?“
Wir fahren über die Einfahrt bis zum Haus. Er parkt vor der Garage und stellt den Motor ab. Der Kies fühlt sich hart an unter meinen Schuhsohlen. Wir bleiben vor der Tür stehen. Lichter springen automatisch an. Er sucht in seiner Hosentasche nach den Schlüsseln.
„Was machen deine Eltern am Bodensee“
Der Schlüssel rastet ein. Er nimmt meine Hand und zieht mich ins Innere. „Ist doch scheißegal jetzt.“

Die Tür fällt zu. Der Raum dahinter ist dunkel und kühl. Umrisse einer Treppe. Glas. Spiegel. Remi legt die Hände auf meine Hüften und flüstert: „Wir sind hier ganz alleine.“ Seine Hände rutschen weiter nach unten.
„Ich glaub`, ich hab‘ Hunger.“
„Hunger …“
„Ja“, sage ich und höre, wie er ausatmet.
„Kriegste nix zu essen bei dir?“
Er lässt mich los und schaltet das Licht an. Das Licht ist grell, für einen Moment starre ich auf den weiß gekachelten Boden. Er geht in die Küche. Gläser klirren. Schubladen werden geöffnet. Ich folge ihm. Die Küche ist heller, ganz hinten ein langer Tisch aus lackiertem Holz. Auf dem Tisch steht eine Schale mit Obst, daneben ein halbvoller Aschenbecher. Remi reicht mir eine faustgroße, dunkelgrüne Frucht. Ich streiche über das Etikett, drücke mit dem Finger in die weiche Schale und lege sie zurück auf den Tisch. Die Fenster reichen bis zum Boden. Der Rasen im Garten ist kurz geschnitten, die Rosen verblüht. Seine Fingerspitzen auf meinem Nacken, berühren die Haut nur ganz leicht. Dann geht er zum Kühlschrank.

„Mach die Augen zu“, sagt er und holt eine kleine Schale aus dem oberen Fach.
„Was ist das?“
Er hält die Hand über die Schale. „Mach die Augen zu.“
Ich stütze mich mit den Händen auf der Tischplatte ab und schließe die Augen.
„Mach den Mund auf.“
Ich öffne die Lippen, spüre seine Finger, wie sie meinen Mund weiter auseinanderdrücken.
„Hier“, sagt er, dann ist etwas Weiches auf meiner Zunge, es schmeckt salzig, auch sein Finger schmeckt salzig.
Für einen Moment behalte ich es im Mund, drücke es gegen den Gaumen, befühle es mit der Zungenspitze.
Er lacht leise und streichelt mir über den Kopf. „Kannst die Augen aufmachen.“
Ich sehe in die Schale, die er immer noch in der Hand hält.
„Meeresfrüchte“, sagt er langsam. Er stellt die Schale auf den Tisch und nimmt die grüne Frucht in die Hand. „Das ist eine Avocado.“
Ich nicke, aber er schüttelt den Kopf. „Sag es … A-vo-ca-do.“ Er sieht auf meinen Mund. „Ich will, dass du es sagst. Oder soll ich denken, dass du dumm bist?“
Eine Haarsträhne fällt ihm ins Gesicht. Er wischt sie zur Seite und fragt: „Bist du dumm?“
Ich rieche die Meeresfrüchte. Säuerlich, und nach einem Gewürz, das mein Vater oft benutzte.

Alle Gewürze, die er kaufte, füllte er in Streuer um, auf die er selbstgemachte Etiketten aus Papier klebte. Darauf schrieb er fein säuberlich die Namen der Gewürze – Rosmarin, Thymian, Kreuzkümmel. Jedes Mal, wenn er kochte und die Streuer benutzte, fielen einige Etiketten ab. Er befestigte sie mit Tesafilm, den der Wasserdampf aus den Töpfen immer wieder ablöste. Ich kroch auf allen Vieren über den Küchenboden, um die Etiketten zu suchen. Sie landeten an den unmöglichsten Stellen, hinter einem Regal, zwischen dem Pfand. Einmal fand ich eine tote Maus in einer Nische unter dem Herd. Sie lag einfach nur still da mit ihrem weichen Fell und den dunklen Augen.

„Mit wie vielen hast du schon gefickt?“ Remi hat die gleichen Augen. „Wie machen es die Typen auf der Winterberger? Anders als ich? Besser?“ Er umfasst meinen Arm, seine langen, dünnen Finger berühren sich, ich spüre heißen, brennenden Schmerz. Knoblauch. Das Gewürz ist Knoblauch. Mein Vater streute es auf Schweinekoteletts, Eier, Kartoffeln … Remi drückt fester zu, noch fester, ich versuche mich zu befreien, aber er lässt nicht los, er lässt mich einfach nicht los, bis ich: „Weiß ich nicht mehr“, schreie, dann steht er da und sieht mich an mit diesen toten, kalten Augen.

Schließlich lässt er mich doch los. Er legt die grüne Frucht auf den Tisch und sagt: „Ich will dir was zeigen.“
Er spricht leise, ich kann ihn kaum verstehen.
„Warum hast du das getan?“
„Was meinst du?“
Ich blicke auf die roten Striemen an meinem Oberarm.
Er zuckt mit der Schulter. „Gehen wir nach oben.“
„Was ist da?“
Er lächelt. Seine Zähne sind klein und weiß.

Oben sieht alles fremd aus – Bilder, Tische aus Glas, lange Teppiche, und alles glänzt wie Schmuck glänzt. Weiter, sagt er, ich gehe weiter, dann drückt er mich gegen die Wand, nimmt meine Hände, hält sie fest. Ich kann den Puls spüren, seinen, meinen, wie sich die Schläge überlagern, so wie ein Herz, das aus dem Takt geraten ist.

Er küsst mich, meinen Hals, Wangen, Augen, die Stirn, seine Hände auf meinen Brüsten, überall ist Hitze, diese Hitze … er flüstert mir etwas ins Ohr, da lang, da lang, wir schieben uns über den Flur durch eine Tür, dahinter ein Zimmer mit hohen Schränken – Klamotten, Kleider, Röcke, Schuhe, sie liegen auf dem Boden, quellen aus Schubladen.
Er nimmt ein Kleid von einem der Bügel und hält es sich vor den Oberkörper. „Meine Mutter ist zweiundvierzig. Kannst du dir das vorstellen?“
„Ich kenn‘ deine Mutter nicht“, sage ich und fasse den Stoff an. Es ist weicher Stoff, mit glitzernden Steinen besetzt.
„Nein, du kennst sie nicht.“ Dann reicht er mir das Kleid.
„Aber es gehört deiner Mutter …“
„Ich weiß“, sagt er und legt seine Hand auf meine Schulter.

Das Kleid ist schwerer, als ich gedacht habe. Ich halte es gegen das Licht, die Steine glitzern.
„Hier“, sagt er. „Mach es hier.“
Er legt einen Finger auf den Knopf meiner Jeans und schiebt den Daumen in den Bund. Dann zieht er sie mir über die Hüften, bis sie mir in den Kniekehlen hängt und ich heraussteigen kann.
„Das andere auch. Alles.“ Er fasst unter mein Shirt, seine Hand ist kalt, und als er es mir über den Kopf zieht, wird es dunkel und still. Er biegt meinen Oberkörper nach hinten und spitzt die Lippen. Sein Speichel tropft auf mein Schlüsselbein, fließt über den Bauch bis ins Schamhaar.
„Bist du feucht?“, fragt er. „Ja, du bist bestimmt feucht.“

Seine Finger sind rau, ich spüre sie auf meinen Oberschenkeln, wie sie die Innenseiten hinauffahren. Über nackte Haut, Muttermale, Narben, dann in mir, tief in mir, wie Schläge, wie kurze, harte Schläge - aber ich ertrage das, ich ertrage alles, das habe ich schon immer.
Er sagt: „Komm zieh es jetzt an.“

Ich sehe mich selbst in dem großen, runden Spiegel am Ende des Raums. Ich strecke meine Arme aus, gleite in das Kleid, der Stoff liegt eng an.
„Dreh dich um“, flüstert er in mein Ohr. „Ich will dich sehen. Ich will alles sehen.“ Und ich drehe mich um, er soll alles von mir sehen, es ist das Kleid seiner Mutter. Er ist ja da, jetzt, bei mir, und nur das zählt.
„Meine Mutter ist Zweiundvierzig“, sagt er und sieht an mir herunter. „An dir ist echt nichts dran, du siehst aus wie `ne Zwölfjährige.“
„Aber ich bin keine Zwölf mehr …“
Er lächelt. Seine Lippen sind dünn und blass. „Müsstest du nicht längst zu Hause sein?“
„Nein“, antworte ich. „Ist okay.“
Er drückt den Daumen leicht in meinen Hals. „Du kannst jetzt nicht nach Hause gehen.“
Dann zieht er an dem Kleid, zuerst reißt der Träger, ich spüre den Stoff wie einen Schnitt an meiner Schulter, danach lösen sich die Steine ab, fallen auf den Boden, aber sie glitzern noch, sie werden immer glitzern.
„Du kannst nicht nach Hause gehen.“ Er legt die Hand auf meine Hüfte, er ist hinter mir, ganz nah. Ich sehe wieder in den Spiegel. Ganz langsam werde meine Augen zu schwarzen Punkten, die in der Dunkelheit verschwinden.

 

Das kann man auch, mit einem weiten Begriff von Literatur. Dann wäre auch ein Waschzettel Literatur oder ein Telefonbuch. Ja und?
Wer gerne Waschzettel und Telefonbücher zur Literatur zählen will, bitte, ich tue das nicht.

Die Trennung Form/Inhalt ist mir zu statisch, du legst Jimmys Konzeption da Zügel an und erwartest wohl, dass z.B. das Thema Masochismus oder Brutalität oder Geschlechterrollen explizit ausgedeutet wird und ich dann sagen kann, wow, da wird ein Problem besprochen. Aber Jimmy kann sich dem verweigern, natürlich kann er das, und der Text kann trotzdem stark sein.
Nicht für mich. Ich lege jimmy auch keine Zügel an, weil das eine Beschränkung oder eine bestimmte Zielvorgabe wäre. Ich erwarte von ihm lediglich, dass der Inhalt des Textes mir etwas gibt, das hinter seinen schönen Sätzen zu entdecken wäre. Aber da ist nichts. Wenigstens für mich nicht.

 

Dion, deine Sichtweise hast du nun ausführlich dargelegt. Jeder hat verstanden, um was es dir geht.

 

Sicher, bernadette, aber wenn jemand mich hier direkt anspricht, dann gehört es sich, darauf einzugehen. Meine Einlassungen werden auch immer kürzer, weil ohnehin beinahe alles schon gesagt ist. Zumindest von meiner Seite.

 

hallo @jimmysalaryman!
Die Geschichte gefällt mir gut. Obwohl ich mich beim lesen geekelt habe, vor allem vor Remi, bei dem nicht nur die toten Augen an die Maus erinnern. Sie ist packend geschrieben. Eine Stelle hat mich irgendwie gestört: "Sein Speichel tropft auf mein Schlüsselbein, fließt über den Bauch bis ins Schamhaar."
Das ist eine Menge Speichel, vor allem sehr flüssig...
Grüße Charlyn

 

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