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Ein Abend bei den Goldbergs
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Hannah hat mich vorgewarnt. Es wird das erste Mal sein, dass sie jemanden mit nach Hause bringt und ihrer Familie vorstellt. Aber auch für mich ist es ein erstes Mal. Obwohl ich schon seit einiger Zeit in den Staaten wohne, war ich noch nie zuvor bei einer jüdischen Familie zu Gast.
Das Haus der Goldbergs steht in einem Vorort, umgeben von einem großen Garten mit vielen Bäumen. Ich öffne das Gartentor und betrete den Kiesweg, der zur Haustür führt. Ein Kinderfahrrad liegt neben blühenden Rosenbüschen auf dem Rasen.
Irah, Hannahs sechzehnjähriger Bruder, öffnet mir die Tür. Ich überreiche Mrs Goldberg Blumen und eine Flasche Wein. Sie bedankt sich. Während wir ins Wohnzimmer gehen, lerne ich die restliche Familie kennen. Neben Hannah und Irah gibt es noch Ruth, die Siebenjährige. Auch Hannahs Vater und Großvater setzen sich zu Tisch.
Hannah und Mrs Goldberg servieren auf großen, weißen Tellern. Es gibt Putenfleisch mit Nudeln und Salat. Ich fülle mein Glas mit Wasser und schenke auch Ruth ein, die neben mir sitzt. Bevor wir anfangen, spricht Mr Goldberg ein Tischgebet.
Unser Gespräch beginnt harmlos. Ich bin nervös, da ich nicht genau weiß, was ich zu erwarten habe. Fragen, Anekdoten, Vorwürfe vielleicht. Unbewusst richte ich mich auch darauf ein, obwohl ich es nicht will. Während ich mir überlege, was ich wohl am besten sage und welche Themen ich zu vermeiden habe, bemerke ich meinen Akzent. Er stellt sich nur noch ein, wenn ich sehr nervös oder aufgeregt bin. Dabei kann ich ihn gerade jetzt nicht gebrauchen.
Hannah lächelt mir zu während ich ausgefragt werde. Ich bemerke die Verlegenheit ihrer Eltern, den angespannten Unterton in den Fragen ihres Bruders. Die Goldbergs sind unruhig. Sie wissen auch nicht, was sie zu erwarten haben. Sie sind genauso unsicher wie ich.
„Und wie lange sind Sie schon hier?“
Diese Frage habe ich bestimmt schon einmal beantwortet. Ich reiße mich zusammen und tue es erneut.
„Im September sind es vier Jahre.“
Die Goldbergs nicken leicht, die selbe Antwort, es muss wohl wahr sein. Ich versuche, mich zu beherrschen und sie nicht darauf hinzuweisen. Ein flüchtiger Blick in Hannahs Augen rettet mich.
„Was, sagten Sie gleich, studieren Sie?“
„Englisch und Theaterwissenschaften.“
Irah mustert mich schon wieder vom Kopf bis zur Tischkante. Vielleicht sucht er nach einem Hakenkreuz auf meinem Oberarm. Ich schüttle diesen Gedanken ab, aber meine Handflächen beginnen zu schwitzen.
„Und wo lebt ihre Familie in – Deutschland?“
Na bitte, sie haben das Wort ausgesprochen. Hat sie vermutlich einiges an Überwindung gekostet. Ich gebe eine kurze Zusammenfassung über meine Heimat.
„Meine Eltern waren auch Deutsche.“ Hannahs Großvater schaut mich prüfend an. „Sie sind in Auschwitz ermordet worden.“
Schweigen stellt sich ein. Auf einmal ruhen alle Blicke auf mir. Ich habe keine Ahnung, was sie von mir erwarten. Was kann man darauf denn schon sagen? Ich nehme einen Schluck Wasser, was Hannahs Großvater anzuspornen scheint, den Gedanken weiter auszuführen.
„Ich kam mit meiner Tante hierher. Da war ich gerade mal zehn.“
Er erwartet noch immer eine Antwort. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Entschuldigen kann ich mich ja schlecht. Immerhin war es ja nicht ich, der seine Eltern umgebracht hat. Krampfhaft suche ich nach Worten.
„Sind Sie dann direkt nach Boston gezogen?“
Es funktioniert. Das Gespräch wendet sich der hiesigen Umgebung zu. Hannahs Mutter macht sogar einen Witz, und ich nehme die Gelegenheit dankbar wahr, zu lachen, um ein bisschen Spannung abzubauen. Dann bringt sie mit Hannah zusammen die kleine Ruth ins Bett. Ich bleibe mit Mr Goldberg, seinem Vater und Irah am Tisch sitzen. Verlegenes Schweigen stellt sich ein.
„Gibt es noch viele Juden in Deutschland?“ Irah unterbricht die Stille.
„In den großen Städten gibt es schon noch einige Gemeinden.“
„Kennst du einen deutschen Juden?“
Ich schüttle kurz den Kopf. „Nein. Ich habe in einer relativ kleinen Stadt gewohnt. Dort gibt es keine Juden mehr.“
Er sieht mich an, als ob das meine Schuld wäre.
„Bist du froh darüber?“
Die Frage kann er nicht zurückhalten. Sein Vater weist ihn zwar schnell zurecht, möchte aber trotzdem meine Antwort hören. Ich wische mir verstohlen die Hände an der Hose ab.
„Natürlich bin ich nicht froh darüber. Ich hätte nichts dagegen, neben jüdischen Menschen zu wohnen. Und der Großteil der Bevölkerung hat auch nicht die Einstellung, jemanden als Nachbarn oder Freund abzulehnen, bloß weil er Jude ist. Aber... es leben nur noch wenige Juden in Deutschland, und davon nun mal keiner in meiner Nachbarschaft. Und ich kann nichts daran ändern.“
Ich schaue ihnen nicht in die Augen. Ich fühle mich schuldig und ärgere mich gleichzeitig darüber.
Mr Goldberg erhebt sich schweigend und verlässt das Zimmer. Ich beschäftige mich eingehend mit meiner Serviette; ich komme mir sehr verlassen vor. Gottseidank sind Hannah und ihre Mutter bald wieder da, und dann steht auch Mr Goldberg plötzlich mit zwei Flaschen Wein lächelnd im Zimmer.
Ich atme unhörbar auf.
Der Rest des Abends verläuft lockerer. Wir trinken den Wein, Hannah und ihre Mutter spielen ein Duett auf Klavier und Geige. Mrs Goldberg ist entzückt, als sie feststellt, dass auch ich etwas Geige spielen kann. Sie lässt es sich nicht nehmen, mir das Instrument in die Hand zu drücken. Ich spiele eine kurze Polka und reiche die Geige zurück.
Mr Goldberg taut im Laufe des Abends immer mehr auf und erzählt lustige Anekdoten von seiner Arbeit. Sein Vater thront in seinem Sessel und unterhält sich mit mir sogar über Deutschland. Ich erfahre, wo er zur Schule ging und wo er mit seiner Familie im Sommer immer Urlaub gemacht hat. Irah sitzt in Gedanken versunken auf dem Sofa und schweigt die meiste Zeit über, aber vielleicht ist er auch einfach nur müde.
Um kurz nach elf verabschiede ich mich dann. Mrs Goldberg lädt mich zum Abendessen in zwei Wochen ein.
Hannah geht noch mit vor die Tür. Wir setzen uns auf die blaue Hollywoodschaukel vor dem Haus, die im Wind leicht hin und her schwingt.
Hannah legt ihre Hand auf mein Knie.
„Danke, dass du da warst“, sagt sie leise. „Das hat mir viel bedeutet.“
Ich lege meinen Arm um sie.
„Du hast eine nette Familie. Deine kleine Schwester sieht so aus wie du.“
Wir sitzen noch eine Weile nebeneinander, bis ich mich schließlich verabschiede. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange und blicke ihr nach, bis die Türe hinter ihr zufällt.
Als ich mich umdrehe und zu meinem Auto schlendere, bemerke ich Irah, der am Gartentor unter einem Baum auf mich wartet. Wahrscheinlich stand er schon die ganze Zeit da. Ich bin in dem Moment froh, dass ich Hannah nicht auf dem Mund geküsst habe.
Irah reicht mir seine Hand. „Weißt du, für einen Deutschen bist du eigentlich ganz in Ordnung“, sagt er. „Ich nehm’s dir nicht übel.“
Er lächelt kurz, lässt meine Hand gehen und verschwindet im Haus. Perplex schaue ich ihm nach. Erst nach einer Weile dämmert mir, dass er wohl ein Dankeschön erwartet hat.