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Ein Lächeln
Philipp Erler beobachtet die Leute. Er sitzt auf einer Bank im Park und blickt ihnen hinterher, wenn sie auf dem kleinen Trampelpfad vorbei gehen. Er schaut zuerst auf ihre Füße, dann die Beine entlang nach oben, bis er an ihrem Gesicht haften bleibt. Alle Menschen haben ihre Geschichte und Erler versucht, sie zu lesen, ihre Kindheit und Jugend, das erste Verliebtsein, die erste schwere Enttäuschung, der plötzliche Tod der Mutter - alles, was den Charakter und das Handeln einer Person bestimmt. Ob die Vorstellung dabei mit der Wirklichkeit einhergeht, spielt keine Rolle, wichtig ist nur, dass Erler jede Geschichte jederzeit in seinem Kopfkino betrachten kann. Einmal mit der Kamera seiner Phantasie aufgenommen, bleibt ein Mensch für immer gespeichert, unveränderlich. Die alte Frau, die sich durch den Park quält, ihren gebrochenen Körper auf ihre Gehhilfe gestützt, bleibt auch dann noch die alte Frau, wenn sie tot ist. Und das verliebte Paar bleibt immer zusammen, auch wenn er bald mit einer anderen anbandelt. Das Glück auf ihren Gesichtern vergeht nicht. In seinem Kalender malt Philipp Erler eine kleine Sonne auf das Blatt dieses noch kühlen Vorfrühlingstags. Ihre Strahlen scheinen über die Notizen, die er über die Menschen anfertigt.
Sie sind warm und treffen mitten in Erlers Herz und sind doch auf wunderbare Weise geheimnisvoll. Langsam folgen seine Augen den Strahlen; indem er den Kopf Stück um Stück anhebt, erkennt er immer mehr von ihrem Gesicht. Zuerst die Spitze ihres Kinns, dann den Mund, der mehr als nur freundlich lächelt. Was fasziniert ihn so? Er lächelt zurück und spürt, dass nicht nur ihre Lippen strahlen. Mitteinrein blickt er ins blendende Licht ihrer Augen und wendet sich ruckartig ab. Er fühlt jedes Poltern, jede Unebenheit der Schienen, die den Waggon zu ihm nach Hause tragen. Eine Geschichte! Wie jeder Mensch braucht auch die Unbekannte eine Geschichte, ihre Geschichte! Sie muss warm sein wie ihr Blick, intelligent wie ihr kleiner, zierlicher Kopf und lang wie die welligen braunen Haare, die ihr über die Schulter hängen. Sie sind verschwitzt, aber auf eine seltsam angenehme Weise. Zarte Spuren von Fett zeugen von einem harten Tag und dennoch schimmern sie. Es ist kein ungepflegtes Schimmern. Beinahe glaubt Erler, sie trüge es absichtlich, weil sie ein Mensch ist. Ein menschlicher Mensch, der denken und fühlen kann.
Erler würde über diese albernen Gedanken lachen, wenn er die Geschichte der Frau bereits in sich trüge. Doch sie ist ein Rätsel, das seine Phantasie ihm aufgibt. Ihr Blick bohrt noch immer. Einen kurzen Moment dreht sie sich zur Seite, dann blitzschnell stechen ihre Augen erneut zu. Und als spiele sie mit ihm, wiederholt sie dies immer dann, wenn er Mut fasst, sie anzuschauen. Aber Philipp Erler das Spielzeug eines anderen Menschen? Er spielt doch mit ihnen, wenn er sich ihre Geschichte überlegt. Aber dass mit ihm gespielt würde, ist unvorstellbar. Dennoch genießt er den Gedanken.
Lange betrachtet er die Frau. Nicht nur ihr Kopf ist zierlich, und doch ist sie auf eine gewisse Weise weiblich rund. Ihren langen schwarzen Mantel hat sie oben aufgeknöpft. Ein rosa Seidenschal versteckt ihren Hals. Erler überlegt, die Frau anzusprechen. Doch pumpt sein Herz wie ein tiefer Brunnen, der dem Durstigen Wasser spendet und mit jedem Plätschern steigt die Angst in ihm, sie könne es wahrnehmen. Aber vielleicht hat sie es schon lange bemerkt. Wer weiß schon, was für ein Porträt die anderen zeichnen? Das Leben scheint ein Versteckspiel der Gedanken: Ein Mensch sucht nach den Vorstellungen des anderen, der andere aber lässt nicht zu, dass sie gefunden werden. Sonst würde alles berechenbar und das kostete die Idee der Phantasie. Welchen Sinn ergäben unsere Spinnereien, wüssten wir von vornherein, dass sie Spinnereien sind?
Erler weiß, dass es eine Formel gibt, die der Unbekannten gebietet, ihre Mundwinkel auf solch geheimnisvolle Weise nach oben zu ziehen. Es ist die gleiche Formel, die seinen Brunnen schöpfen lässt. Alles basiert auf ihr und niemand wird sie je berechnen, sonst würde jedes Lächeln bekannt, bevor man es lächelt, und die Lippen der Frau verlören wie alles Dasein ihren Sinn.
Ein letztes Mal lächelt sie zu ihm herüber. Der Zug nähert sich dem Bahnsteig und an der Station wird sie aussteigen. Er spricht sie nicht an, schaut ihr bloß hinterher, als sie aus dem Abteil schreitet. Es ist ein stiller Abschied. Das letzte, was Erler von ihr sieht, sind die braunen Locken, die lässig über ihren schwarzen Mantel hängen. Dann schließt sich die Tür und er wagt nicht, sich nach ihr aus dem Fenster zu recken, bis die Lok aus dem Bahnhof rollt.
Ein Buch. Ein kleines schwarzes Buch. Sie hat es vergessen, Erler sieht es auf dem Bezug ihm gegenüber liegen. Er nimmt es in die Hand und liest, was handgeschrieben auf dem Einband steht: Meine Geschichte. Dann schlägt er es auf. Weiße Seiten, blankes Papier mit feinen eingedruckten Linien. Kein Name. Nichts. Er gibt der Geschichte ihren Titel, noch bevor er sich den ersten Atemzug vorstellt. Dann liest er die leeren Seiten.