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Copywrite Ein Nachmittag aus dem Leben eines Chamäleons

Monster-WG
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04.03.2018
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Ein Nachmittag aus dem Leben eines Chamäleons

»Was in Bangladesch passiert, bekommt auch keiner mehr mit«, sagt Nick.
»Wahrscheinlich nicht, ist kein Thema mehr«, antworte ich.
»Hauptsache, wir können uns immer neue Klamotten kaufen. Woher die kommen und wie giftig das alles ist … Scheiß drauf, ist ja nicht bei uns, oder?« Wir sitzen auf dem Rasen. Nick schaut Richtung Sonne und blinzelt. Neben ihm liegt der Teller mit den Schlieren der BBQ-Sauce und dem halb verkohlten Curry-Griller. Zum Essen hat er die Sonnenbrille auf die Stirn geschoben.
»Nee, da fragt keiner nach.« Ich antworte mechanisch, Taste drücken, nicken.
Es hat seit Tagen nicht geregnet, dennoch ist der Boden unter meinen Oberschenkeln angenehm kühl. Anfang April, das Gras fängt an zu sprießen. Ich fühle das dunkle Grün.
»Weißt du, dieses ganze Corona-Gedöns, das lenkt nur ab, als gäb's nur noch das. Auch vom Klimawandel, schon mal aufgefallen?« Seine sonore Stimme ist angenehm, so lange er ruhig bleibt, war sie immer schon.
»Ja, ist wohl so.« Die Sonne brennt auf meiner Haut, zu heiß für die Jahreszeit.
»Okay Google. Wer ist Greta Thunberg …?« Nick nimmt einen Schluck von seinem König Alkoholfrei. Hinter seiner Halbglatze flimmert die Luft über dem Grill. Dahinter fliegt ein einsames Flugzeug zwischen den Strommasten hindurch wie an einer Schnur gezogen.
Als Kind hatte ich Styropor-Flieger, die geradeausflogen, wenn das Gummi in der Lücke im Rumpf aufgedreht war. Wir versuchten, an den Flügeln zu schnitzen, damit sie etwas anderes taten, als geradeaus zu fliegen, aber dann blieben sie nicht in der Luft.
»Und wenn sich in den Lagern einer mit dem Virus ansteckt, dann ist das nicht mehr aufzuhalten, … oder in Afrika – aber ist ja zum Glück weit weg. Zum Glück, nicht wahr, Che?«
Er zieht am Mundstück und lässt eine Dampfwolke aufsteigen. Die Ray Ban hat er wieder vor die Augen geschoben. Ich sehe mich im dunklen Glas, ein Auge schaut nach vorne, das andere zurück. Hinter mir der weiße Vorstadt-Bungalow, oben neben dem Kamin die rostige Antenne, an der Schäfchenwolken hängen.
Zwei Schritte vor, einen zurück, vor vor, zurück, und die Zunge schnellen lassen. Auf dem Weg in meinen Mund wird er Vaporizer und Flasche verlieren, und die Brille wird ihm von der Nase rutschen, weil die Zunge sich aufrollt, während sie ihn zerdrückt.
»Okay Nick, ich muss los. Danke für das Bier.«

Auf der Rückfahrt steige ich 'Neue Mitte' aus. Das stählerne Gebilde der Station wirkt wie das hingespuckte Raumschiff-Gewölle eines kosmischen Raptoren. Alles liegt verlassen in der Sonne, auch der 'Platz der guten Hoffnung'. Der Gasometer dahinter wirkt deplatziert, Zeuge einer anderen Zeit, dennoch lässt er mich Heimat fühlen. Auf seiner Seite prangt ein riesiges giftgrünes Banner, unten steht 'Der schöne Schein'. In Gedanken füge ich ein trügt hinzu. Es flattert in der Luft neben dem Turm, bevor es verblasst. Vor vor, zurück. Seltsam unwirklich in dieser menschenleeren Steinwüste.
Meine Kehle ist trocken, sehne mich nach einem richtigen Bier. Eins, dem Gehirnfrost folgt. Alles hat geschlossen, kurz denke ich, nur ich bin noch übrig, der letzte Mensch auf Erden. Mein Job? Aufräumen, wie Wall-E.
Dort wo ich stehe, war früher Alt Oberhausen und anstelle der postmodernen Klötze stand dort die GHH. Mein Vater sagte nie 'Gutehoffnungshütte', sondern immer 'Gehört Hauptsächlich Haniel'. Das änderte sich erst, als der Betrieb schloss und er mit seiner Arbeit auch den Spott verlor.

Versteckt hinter Palmenkübeln entdecke ich einen Terrassenausschank mit halboffener Jalousie. Wenig später rinnt mir eiskaltes Pils aus einem Plastikbecher den Hals herunter, diffundiert wie Flüssiggold in meine Magensäfte.
Das zweite Flugzeug des Nachmittags kratzt am Wolkenbauch des Himmels. Ich schaue zu, wie es dorthin fliegt, wo auch das erste hinflog. Noch bevor der Lärm verklungen ist, hole ich mir ein zweites Bier und wende mich Richtung Aquapark. In der Marina gegenüber dümpeln zwei Dutzend Sportboote, die Persenninge ausgeblichen, es riecht nach Brackwasser.
Auch am Kanal nur vereinzelte Menschenseelen. Der Virus hat es geschafft, die gesamte Innenstadt lahmzulegen. Ich frage mich, wie lange das noch so weitergehen kann und weiß doch, es gibt keine Antwort, noch weniger eine Lösung.
Ich beschließe, zu Fuß nach Hause zu gehen und nehme beim Gehölzgarten Riphorst die Brücke über Kanal und Emscher. Von hier oben ist niemand größer als mein Daumen.

Aus einem Fensterspalt am Anfang der Straße dringt ein Fetzen nasser Backstein und Rauch. 'Dirty old Town'. Pure versoffene Magie. Ich bleibe stehen, schnippe mit den Fingern und blecke die Zähne, ich kann nicht anders, Fußspitzen zucken, Knie biegen sich rhythmisch. Der Song erwischt mich unvorbereitet, meine Deckung ist unten. Wie von selbst steigen die Worte an die Oberfläche, platzen auf der Zunge und lassen mich mitsingen, von den Mauern der Gasfabrik und dem glänzenden Stahl, gehärtet im Feuer. Ich hatte vergessen, wie gut Mundharmonika und Geigen sich durch die Gehörgänge winden, sich den Weg suchen durch die Innereien, bis ich sie tief in mir höre, mit meinen Bauchohren und mich im Kreis drehe. Langsam zwirbelt sich etwas auf in meiner Körpermitte. Es wird mir helfen, eine Weile geradeaus zu gehen, statt vor vor, zurück.

Ich bin wieder siebzehn, das Bier schmeckt schal, die Kippe kratzt im Hals, aber das ist egal. Damals. Ein großes Wort mit reichlich Gepäck. Erster Rausch, erste Liebe. Erster Liebesrausch. Dazu unser Lied. Ein warmer Hauch Vergangenheit streift mein Hirn, ein Erinnerungsfetzen an eine Illusion, die Jahre schon beerdigt schien. Der Plan einer gemeinsamen Zukunft. Ein Traum, wie Teenager ihn träumen. Groß, naiv und flüchtig.
Es ist wieder da, das Versprechen, gegeben in grauer Urzeit.
'Egal, was passiert und wohin es uns verschlägt, in genau zwanzig Jahren sehen wir uns hier wieder.'
Wir hatten es geschworen, damals an unserer Lieblingsstelle am Kaisergarten. Hatten es mit Blutstropfen besiegelt und uns gegenseitig die Tränen aus den Augenwinkeln gewischt. Wie konnte ich glauben, auf meinem Weg würden mir noch viele wie sie begegnen?
Eine Bank steht auch heute noch dort am Kanal, etwas zurück in zweiter Reihe. Glatte Betonseiten mit Sitzfläche aus Terrassenholz. Zu hart, um Namen in die Rückenlehne zu ritzen. Wenn es mich dorthin verschlägt, werfe ich von Ferne einen Blick darauf, gehe einen weiten Bogen und denke jedes Mal, dass die Zeit alles und jeden frisst – auch Monumente aus Beton.

Auf der anderen Straßenseite sitzt ein alter Mann auf einer Bank in der Sonne. Vor ihm steht ein Glas Tee auf einem Plastiktisch. Durch den blauen Mundschutz höre ich nicht, was er ruft. Er winkt. Deshalb quere ich die Straße, nähere mich, bis er mit der Hand genug signalisiert. Faltige, wache Augen. Als er spricht, wippt die Papiermaske auf und ab. Die Bänder hängen an riesigen, verkrumpelten Ohrmuscheln.
»Junger Mann, ich wollte dir nur sagen, tanze solange du kannst, das ist wichtig, oft gibt's sogar nichts Wichtigeres als Tanz und Spektakel.« Aus der offenen Doppeltür hinter ihm dringt Kantinendunst.
»Geb mir Mühe«, knurre ich launig, »bin aber ein lausiger Tänzer, der etwas versucht, was er nicht kann.«
Der Alte lacht auf. »Mühe geben ist aller Dinge Anfang ...«, sagt er, »aber reichen wird's nicht. Carpe diem, mein Lieber, nur das zählt. Glaub mir, egal wie du's anstellst, alles ist zu schnell gegessen und ausgeschissen.«
»Wohl wahr«, sage ich und denke an Pläne aus Beton. Ich versuche eine halbherzige Abschiedsgeste und komm doch nicht weg, weil ich ich bin und das auch immer Zögern mit sich bringt, vor vor, zurück.

»Am Anfang siehst du nur den Ozean«, sagt er weiter, »aber wenn du mit den Füßen nur noch in'ner flachen Pfütze stehst, dann pfeift's aus dem Orkus, dann spürst du den kalten Sog …«
»'… auf dass selbst der steilste Weinhang der Welt mitsamt der Resteifel darin ersöffe und nimmer herausfände' hat mal jemand geschrieben«, sage ich, weil mir das passend erscheint und ich es nicht vergessen habe. Der Alte schaut mich an und nickt. Zwischen den Fingern dreht er einen Zigarillo, mit dem er auf mich zeigt.
»Besonders, mein Junge«, sagt er und meint meine Chamäleonhaut, »das ist besonders.«
Pastellfarbenes Glitzern im Gegenlicht wie kleine senffarbene Sandkörner. Ich streiche über meinen Arm.
»Die Frage ist, wer willst du sein, Junge? Kannst du dir'n Gewissen leisten oder willst du'n Jemand sein? Einer, der's geschafft hat, dem die Gier aus'm Mundwinkel trieft, mit Liegeplatz in Puerto de Andratx, Prachtweib und noch prächtigerem Nachwuchs, der das Geld verkackt, das du den Ahnungslosen in deinem Büro aus'n Rippen leierst?«
»Nein, der Herr, meine Welt ist das Blätterdach der Baumkronen, wo ein steter Wind weht«, sage ich leise und nehme einen Schluck von seinem Tee, den er mit einem Kopfschütteln rübergeschoben hat. »Gibt nur Pfefferminz.« Er hatte ihn nicht angerührt.
»Mein Junge, lass dir gesagt sein, es läuft immer auf das eine hinaus«, sagt er und wird ernst. »Wer wirst du gewesen sein, am Ende deiner Tage? Fragst du dich das nie?« Damit steht er auf, nimmt seinen Stock und geht zurück in die Einrichtung.
Wenn ich nicht daran denke, sondern mit dem Kopf woanders bin, klappt es gut mit dem Laufen, ganz ohne Gezackel, selbst den Tackenberg rauf.

Als ich aufblicke, steht sie vor mir. Ohne es zu bemerken, bin ich in sie hineingelaufen, wobei ich sonst die Straßenseite wechsele, sobald Begegnung droht. Zwei Schritt vor und einen zurück.
Ihr Fahrrad ist blau, mit einer rosa lackierten Ziegenglocke als Schelle. Ich hab eine Hand auf ihrer Hand, die wiederum den Sattel hält. Aus der offenen Haustür riecht es nach kühlem Sommerkeller. Der Boden ist schwarzweiß gewürfelt, die Wände hoch wächst alter Stucco lustro. Es gibt keine Farbe, die mich tarnen könnte. Ich ziehe die Hand weg, als hätte ich auf den heißen Herd gefasst.
»Hallo, Che«, sagt sie und erschrickt nicht weniger als ich. Ihre Stimme unverändert.
»Hier wohnst du?«, frage ich mich und merke an ihrer Antwort, ich habe laut gedacht.
»Na, wonach sieht's denn aus?«, sagt sie. »Was machst du hier?«
»Wohn um die Ecke.«
»Aha, dann werden wir uns jetzt vielleicht öfter …«, sagt sie und lächelt, »du weißt schon, über den Weg ...«
»Soll das eine Drohung sein?«, sage ich und griene. Vor vor, zurück.
»Wäre das schlimm?«, fragt sie.
»Weiß nicht«, sag ich, weil ich es wirklich nicht weiß und weil ich nicht sicher bin, ob ich riskieren will, zu wissen, was das heißt.
»Zwei Straßen weiter hat einer 'Dirty old Town' laufen, Fenster offen und so.«
Sie hält das blaue Fahrrad ganz ruhig zwischen uns, schaut mich nur an, sieht mich, dann kommt der Moment, der kommen muss, wenn man sich so lange so gut kannte wie wir. Grünblau versinkt in dunkelbraun, wir schlagen der Zeit einen Haken. Zwanzig Jahre pulverisiert.
»Willst du auf'n Kaffee mit reinkommen?«
Ich nicke langsam und schaue mit einem Auge nach hinten.
»Sag mal, bist du dagewesen?« Ich muss das fragen, vorher, weil es mich plagt und vor allem, weil ich nicht da war.
Sie wippt mit dem Kinn. »Unsere Bank ist weg, samt dem Herz in der Rückenlehne. Da steht jetzt ein Ungetüm aus Beton und rotem Holz.«
»Was ist mit ihm?«, frage ich, obwohl ich was gehört habe. Sie schüttelt den Kopf. – »Und sie?« Ich zucke mit den Schultern.
So könnte er gewesen sein, der Nachmittag aus dem Leben eines Chamäleons, wenn ich in zwei mal zwanzig Jahren zurückblicke – und sollte er so gewesen sein, werde auch ich an einem Plastiktisch sitzen, mit aufgerollter Zunge einen Zigarillo rauchen und junge Männer aufmuntern, sofern sie einen Tanz wagen.

 
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Ich bin wieder siebzehn, das Bier schmeckt schal, die Kippe kratzt im Hals, aber das ist egal.

Hoppela, dat is jut, sach ich ma,

bester und einziger linktofink weit und breit,
bis aufe Zichten, die ollen Herrschaften schmokten wie die Schlote, Nebelalarm bei der Familienfahrt im Wageninneren.

Und dann gleich den Stadtplan der Wiege der Ruhrindustrie zu studieren (das „Tackengebirge“ ist eine eiszeitliche Endmoräne, die sich bis in die nördlichen „Wälder hinaufzieht“ – 78 m ist ja nicht so dolle hoch - bis weit ins Münsterland). Und den „Lehrling“ (für alle Spätgeborenen: so hießen in grauer Vorzeit „Azubis“) mehr als ein halbes Jahrhundert in die Zukunft versetzt. Ja, 67 (früher ging auch gar nicht, wenn ich es richtig im Kopf hab) tauchten auch schon die Dubliners in meinem Leben auf und die Liebe zu Guinness und ersatzweise Kilkenny und der ganzen Bitternisse des Lebens. Insofern ist Deine neuere Geschichte gar nicht mal unrealistisch. Fantasie ist dagegen der Anfang mit den Klamotten. Macht abe nix, denn wer weiß denn schon, was wäre, wäre ich ein Spät(er)geborener.

Übrigens hab ich am ersten Lehrlingsstreik mitgearbeitet und auch das heimische Rathaus im Rahmen der Fahrpreiserhöhungen im OPNV mitbesetzt, von dem natürlich auch mein „Lehrherr“ erfuhr, dessen Leiter „kfm. Ausbildung“ seinem Chef das „geflügelte“ Wort eingestand „wenn ich gewusst hätte, was das für einer ist, er hätte keinen Lehrvertrag bekommen!“
Der Übergang 67/68 war übrigens die Zeit, wo ich die Vereinsmeierei (Pfadfinder, Turnverein) aufgab und über die ersten Hummeln in der Hose werd ich selber noch an anderer Stelle erzählen. Auf dem Gelände des „Kadingirra“ (das biblisch Babylon) ein Tempel des Konsumismus, stand übrigens bis 1996 mein erster „Lehrherr“, an dem Thyssen zuvor das Modell für die spätere Treuhand praktizierte: Konkurrenten möglichst preiswert aufkaufen und stilllegen.

Aber wer ist Che?

Nee, kurz und gut: gelungen!

Ein winziger Schnitzer

Aber auch das wird sich die Zeit sich holen.

Gern gelesen vom

Dante Friedchen,
dat noch n schönet Restostern wünscht!

 
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Hallo @linktofink ,

ich wollte mir die Geschichte nur eben durchlesen, ohne böse Absichten meine ich, aber da ich jetzt schon mal drin bin, hier ein paar wirklich kleine Dinge:

Bier ist eine Methode, die dabei hilft dabei.
Ich spüre es unter mir, fühle das grün.
das Grün? Da es hier als Synonym für "Natur" verwendet wird, groß
einen zurück, vor vor zurück, und die Zunge schnellen lassen.
dieses "vor vor zurück" kommt sehr häufiger vor, da Du mal so, mal so Komma gesetzt hast, gehe ich davon aus, dass Du Dir auch nicht so ganz sicher warst.
Es wird mir helfen, eine Weile geradeaus zu gehen, vor vor, zurück.
Ich halte es für eine Aufzählung, würde also "vor, vor, zurück" kommatieren, aber ich bin kein orthografisches Wunder.
Auf dem Weg in meinen Mund wird er Vaporizer und KöPi alkfrei verlieren, und die Brille wird ihm von der Nase rutschen, weil die Zunge sich aufrollt, während sie ihn zerdrückt.
:confused: :susp:
Ich wende mich Richtung Aquapark[,] und als ich davorstehe,
Ich behaupte das jetzt einfach mal.
Erster Rausch, erste Liebe. Erster Liebesrausch.
Hehe
Ein warmer Hauch Vergangenheit streicht wie ein Küstenwind über mein Hirn,
Also ein warmer Hauch Vergangenheit streicht über sein Hirn wie ein Küstenwind über ...
Aber der Küstenwind streicht nicht über sein Hirn oder? Außer es zieht bei ihm ...
Das ist das einzige Bild, das ich überzogen finde, die anderen sind schön.

Edit: Habs gerade noch mal mit mehr Abstand betrachtet und muss meine anfänglichen Zweifel revidieren. Also wenn ich ganz genau darüber nachdenke, wird mir klar, was Du damit meinst, was hier der Widerspruch zwischen "warmer Hauch" und (ja vornehmlich kalter) Küstenwind bedeutet.
Es bleibt aber ein Stück weit der Eindruck, dass hier ein Küstenwind über ein Hirn streicht.
Zumal der Effekt durch das sanfte Wörtchen "streichen" abgeflacht wird. Da der Hauch die Kraft eines Küstenwindes hat, streicht er denn dann?


Da sind einige schöne Bilder dabei, die den Text modern und locker machen, alles in allem bringst Du diese melancholische Nostalgie gut rüber, das Happy End war unerwartet, aber nicht etwa unpassend. Ein wenig Klischee sickert schon durch muss ich sagen: der traurige Junge in der Großstadt, die verflossene Liebe, das Gespräch mit dem Alten, das wundersame Wiedersehen. Kennt man. Deine Sprache lockert das Ganze auf und gibt ihm einen interessanten Touch.

Habs gerne gelesen, hast mich abgeholt und mitgenommen.

MfG Putrid Palace

 

Lieber @Friedrichard,

danke für deine schnelle Antwort auf mein erstes CW.

Ich bin wieder siebzehn, das Bier schmeckt schal, die Kippe kratzt im Hals, aber das ist egal.
Hoppela, dat is jut, sach ich ma ...
Da widerspreche ich natürlich nicht ...

bis aufe Zichten ...
oppla, das sagt ihr auch im Nordpott? Kenn ich nur aus der Wuppertaler Gegend. Hier in Köln heißen se Ziaretten.

Und dann gleich den Stadtplan der Wiege der Ruhrindustrie zu studieren
Maps hilft da ungemein, also das digitale Karten- und Satellitenfutter.

das „Tackengebirge“ ist eine eiszeitliche Endmoräne
Habe es aber als Tackenberg bei Wiki auch so gefunden: "Der Ortsteil erhielt seinen Namen von dem 72 m hohen Tackenberg, dessen Kuppe früher genau auf der Grenze zwischen dem Rheinland (Sterkrade) und Westphalen (Osterfeld) lag."

tauchten auch schon die Dubliners in meinem Leben auf
deren Version gegen die der Pogues ein Fliegenschiss ist, mM.

und die Liebe zu Guinness und ersatzweise Kilkenny und der ganzen Bitternisse des Lebens.
entweder man kotzt schon beim Gedanken dran, oder man liebt es.

Insofern ist Deine neuere Geschichte gar nicht mal unrealistisch. Fantasie ist dagegen der Anfang mit den Klamotten. Macht abe nix, denn wer weiß denn schon, was wäre, wäre ich ein Spät(er)geborener.
Sach mir mal, was du mit Klamotten meinst?

Aber wer ist Che?
Na, der da (Zitat aus ...ela):

Da war der Ullifurz noch ein dürrer Verschnitt aus Che-Lennon-JohnnyBeGoode-Guevara

Nee, kurz und gut: gelungen!
Danke, freut mich, dass Du damit leben kannst. :D

Peace, ltf.

 

»Hauptsache, wir können uns immer neue Klamotten kaufen.
darauf bezog sich meine Anmerkung bzgl. der Klamotten - dabei hatte ich wohl ausgeblendet, dass sie sich auf die Produktions- und Arbeitsbedingungen bezog. An sich bin ich ein völlig unmodischer Mensch, der die Klamotten trägt, bis sie an ihm abfallen - mit Ausnahme geiler t-shirts hinsichtlichder Aufdrucke und da wird einem sogar - wie bekloppt sind die Leute heute - ein vielfaches von dem Angeboten, was das Original gekostet hat. Etwa ein Aufdruck wie "Keine Macht den Doofen", 5 DM am Bahnhof Solingen, in der Cafeteria meiner Arbeitsstelle 50 DM angeboten bekommen. Ich trags immer noch, insonderheit in Wahllokalen gut sichtbar,

lieber linktofink.

Bis bald

Friedel

 

Hallo Putrid Palace,
schön, dass du dich zu mir verirrt und gleich einen Komm. dagelassen hast. Vielen Dank dafür.
Ich hab zwischenzeitlich (wegen Nichtgefallen meinerseits) stark überarbeitet, weshalb einige deiner Anmerkungen jetzt ins Leere laufen, was noch im Text ist, hab ich geändert.

das Grün? Da es hier als Synonym für "Natur" verwendet wird, groß
Hab ich gemacht, obwohl es ursprünglich als chamäleonesker Farbwechsel gedacht war, hab das mit der Chamäleonhaut aber insgesamt rtuntergefahren.

dieses "vor vor zurück" kommt sehr häufiger vor, da Du mal so, mal so Komma gesetzt hast, gehe ich davon aus, dass Du Dir auch nicht so ganz sicher warst.
Doch, doch, das sollte diese typische Gangart ins menschliche Übertragen auch in dem Rhythmus vor vor, zurück, wie "zwei Schritte vor und einen zurück". Hab es jetzt überall einheitlich.

Auf dem Weg in meinen Mund wird er Vaporizer und KöPi alkfrei verlieren, und die Brille wird ihm von der Nase rutschen, weil die Zunge sich aufrollt, während sie ihn zerdrückt.
:confused: :susp:
Keine Angst, tut der Prota nur in seiner Vorstellung, weil er es könnte (hüstel).

Erster Rausch, erste Liebe. Erster Liebesrausch.
Hehe
:D freut mich

Also ein warmer Hauch Vergangenheit streicht über sein Hirn wie ein Küstenwind über ...
Aber der Küstenwind streicht nicht über sein Hirn oder? Außer es zieht bei ihm ...

Habe das geändert, trotz deines Edits, weil das Nachdenken über den vermeintlichen Hintersinn schon den Lesefluss verhindert.

Da sind einige schöne Bilder dabei, die den Text modern und locker machen, alles in allem bringst Du diese melancholische Nostalgie gut rüber, das Happy End war unerwartet, aber nicht etwa unpassend. Ein wenig Klischee sickert schon durch muss ich sagen: der traurige Junge in der Großstadt, die verflossene Liebe, das Gespräch mit dem Alten, das wundersame Wiedersehen. Kennt man. Deine Sprache lockert das Ganze auf und gibt ihm einen interessanten Touch.
Ja, ist nicht mehr ganz mein Thema, dieses "verlorener Junge in der Großstadt", immerhin ist die Melancholie eingängig genug und die Sprache scheint auch zu funktionieren. Werde aber weiter begradigen und werkeln.

Habs gerne gelesen, hast mich abgeholt und mitgenommen.
Schön zu lesen, Putrid Palace, und Danke nochmals, Peace, linktofink

 
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Lieber @linktofink,
das ist gar nicht so einfach, einen Kommentar zu deiner Geschichte zu schreiben, weil es ja schon, zumindest für mich, nicht gerade leicht ist, sich in der komplexen Vorlage vom Friedel zurechtzufinden. Ich denke, du hast für dein Copy einen guten Weg eingeschlagen, indem du die Begegnung der beiden ehemals Verliebten aufgegriffen und ganz viel Lokalkolorit einfließen lassen hast. Ansonsten lässt du deinen ehemaligen Weltverbesser „Che“ schön unentschlossen und frei von der Vorlage durch seine dirty old Town treiben, die sich in Coranazeiten besonders trostlos anfühlen mag. Es gibt drei Begegnungen: einen Freund aus Jugendtagen, der seine alten Ideale propagiert, sie aber vermutlich selbst nicht lebt, einen alten Mann, der versucht, ihm rückblickend seine Lebensweisheiten nahezubringen, und eine verflossene Liebe, die ihm, wie es mir scheint, seiner Gegenwart wieder einen Kick gibt.

Es hat seit Tagen nicht geregnet, dennoch fühlen sich meine Oberschenkel angenehm kühl an.
Würde vielleicht „der Boden unter meinen Oberschenkeln“ schreiben (bei meinen Oberschenkeln ist es jedenfalls so, dass die Regenhäufigkeit keinen Einfluss auf deren Temperaturempfinden hat. ;))
»Weißt du, dieses ganze Corona-Gedöns, das lenkt nur ab, als gäb's nur noch das. Auch vom Klimawandel, schon mal aufgefallen?« Seine sonore Stimme ist angenehm, so lange er ruhig bleibt, war sie immer schon.
Nick kann man vermutlich nicht sehr lange ertragen … Er legt die Finger in sämtliche wunden Punkte der Gesellschaft, regt sich beifallheischend über alles auf, schiebt sich seine Ray Ban wieder ins Gesicht und tut vermutlich selbst nicht viel, um irgendwas zu ändern.
Hinter seiner Halbglatze flimmert die Luft über dem Grill.
Durch die Halbglatze war ich erst von älteren Männern ausgegangen (die sind ja erst 37) . Natürlich kann man eine Halbglatze auch in jüngeren Jahren haben, und "Nick" ist jetzt auch kein Name, der in der von mir angenommenen Altersgruppe besonders üblich wäre - aber so war eben mein Eindruck und dadurch war ich später mal kurz desorientiert.
Dahinter fliegt ein einsames Flugzeug eine unsichtbare Linie entlang, zwischen den Strommasten hindurch wie an einer Schnur gezogen.
Der Satz liest sich sehr anstrengend. Irgendeinen Teil würde ich da reduzieren, vllt. nur das hier nehemen: Ein einsames Flugzeug fliegt zwischen den Strommasten hindurch, wie an einer Schnur gezogen.
Ich sehe mich im dunklen Glas, ein Auge schaut nach vorne, das andere zurück.
Das charakterisiert deinen melancholischen Prot sehr schön.
Der Gasometer dahinter wirkt deplatziert, Zeuge einer anderen Zeit, dennoch lässt er mich Heimat fühlen.
Dirty old town ...
Versteckt hinter Palmenkübeln entdecke ich einen Terrassenausschank mit halboffener Jalousie.
Ha! Eine Flüsterkneipe im Jahre 2020!
Das zweite Flugzeug des Nachmittags kratzt am Bauch des Himmels. Ich schaue zu, wie es dorthin fliegt, wo auch das erste hinflog.
Schön!
hole ich mir ein zweites Bier und wende mich Richtung Aquapark. Als ich dort bin, riecht es aus der Marina gegenüber nach Brackwasser.
“Als ich dort bin“ klingt nicht so toll. Vielleicht machst du nach „Aquapark“ einfach einen Zeilenumbruch, und in der nächsten Zeile ist er dann einfach schon da und du schreibst „ Aus der Marina gegenüber riecht es ...“
Aus einem Fensterspalt am Anfang der Straße dringt ein Fetzen nasser Backstein und Rauch. 'Dirty old Town'
Jetzt hast du tatsächlich den direkten Verweis auf die Pogues gekillt! Aber ich weiß ja inzwischen, dass es diese Version ist (als altgedientem Pogues-Fan ist mir das sehr wichtig!) Das Bild mit „Fetzen nasser Backstein und Rauch“ passt natürlich schon gut - so wie es dasteht, würde ich es aber nicht sofort mit der Musik in Verbindung bringen. Vielleicht kannst du da noch etwas dran rumfeilen.
blecke grinsend die Zähne.
finde ich eins zuviel :D
Der Song hat mich kalt erwischt. Wie von selbst steigen die Worte an die Oberfläche, platzen auf der Zunge und lassen mich singen, von den Mauern der Gasfabrik und dem glänzenden Stahl, gehärtet im Feuer.
Ja, schön, erwischt mich auch! :herz: (In meiner Jugend haben wir mal eine Super-8-Film von unserer dreckigen Heimatstadt gedreht – da gehörte genau dieser Song zum mit Kassette hinterlegten Soundtrack, und My Hometown vom Boss)
Es wird mir helfen, eine Weile geradeaus zu gehen, vor vor, zurück.
Schön!
Eine Bank steht noch heute dort in zweiter Reihe am Kanal, aus armiertem Beton und haltbarem Terrassenholz.
Ich weiß gar nicht, was armierter Beton ist … Und mit der zweiten Reihe finde ich das etwas unübersichtlich.
Ich versuche eine halbherzige Abschiedsgeste und komm doch nicht weg, weil ich ich bin und das auch immer Zögern mit sich bringt, vor vor, zurück.
Gefällt mir richtig gut.
»Nein, der Herr, meine Welt ist das Blätterdach der Baumkronen, wo ein steter Wind weht«, sage ich leise und nehme einen Schluck von seinem Tee, den er mit einem Kopfschütteln rüberschiebt.
Na aber! Aus der selben Tasse auch noch??? :eek:
Hab gehört, junge Israelis lassen sich die KZ-Nummern ihrer Großeltern stechen, gegen das Vergessen seinen unersättlichen Hunger.
Fehlt da etwas zwischen Vergessen und seinen?
Es gibt keine Farbe, die mich tarnen könnte.
Auch schön, die Enttarnung!
Inzwischen bist du beim Original angelangt. Schön, wie du den Teil eingebaut hast:
»Hier wohnst du?«, frage ich mich und merke an ihrer Antwort, ich habe laut gedacht.
»Na, wonach sieht's denn aus?«, sagt sie. »Was machst du hier?«
»Wohn um die Ecke.«
»Weiß nicht«, sag ich, weil ich es wirklich nicht weiß und weil ich nicht sicher bin, ob ich riskieren will, zu wissen, was das heißt.
Ich mag diesen umständlichen Satz, der deinen Prot so schön charakterisiert.
Grünblau versinkt in dunkelbraun, wir schlagen der Zeit einen Haken. Zwanzig Jahre pulverisiert.
Schön!
So könnte er gewesen sein, der Nachmittag aus dem Leben eines Chamäleons, wenn ich in weiteren zwanzig Jahren zurückblicke – und sollte er so gewesen sein, werde auch ich an einem Plastiktisch sitzen, mit aufgerollter Zunge einen Zigarillo rauchen und junge Männer aufmuntern, wenn sie einen Tanz wagen.
An sich ein schöner letzter Satz, obwohl ich nicht weiß, ob es die aufgerollte Zunge wirklich braucht, Chamäleon hin, Chamäleon her? Und: In weiteren zwanzig Jahren ist der Prot erst 57, wäre das nicht noch zu jung um vor so einem Wohnheim (Altenheim meinst du doch sicher damit) zu sitzen?
Viele Grüße von Raindog

 
Zuletzt bearbeitet:

@Friedrichard

und da wird einem sogar - wie bekloppt sind die Leute heute - ein vielfaches von dem Angeboten, was das Original gekostet hat. Etwa ein Aufdruck wie "Keine Macht den Doofen", 5 DM am Bahnhof Solingen, in der Cafeteria meiner Arbeitsstelle 50 DM angeboten bekommen. Ich trags immer noch, insonderheit in Wahllokalen gut sichtbar
Mein aktueller Lieblingsspruch (aufgeschnappt bei meinem vorerst letzten Besuch im Kabarett): lieber faul als immer müde. Schaffe ich nicht so ganz ..., ich arbeite dran. :rotfl:
Peace, ltf.

 
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Gude @linktofink,
beim Original hatte ich zuweilen das Gefühl, dass es sich mir bewusst entziehen will, was ich ein wenig anstrengend fand. Hier komme ich besser rein, sind die Situationen etwas klarer.
Was beide Texte aber vor allem eint, ist das Spielen mit Sprache und das Kreieren ungewöhnlicher und neuer Bilder. Insofern erscheint es mir sehr passend, dass dir Friedrichard zugelost wurde - du kannst das nämlich sehr gut, wie ich finde.
Das erste Bild ist ja schon der Titel und den finde ich sehr passend. Ein gesellschaftliches Chamäleon: "Ich antworte mechanisch, Taste drücken, nicken."

Das zweite Flugzeug des Nachmittags kratzt am Bauch des Himmels.
Das finde ich hingegen etwas zu dick aufgetragen. Ein "Himmelsbauch" macht aus dem Himmel für mich nicht mehr als einen Himmel. Für mich würde "kratzt am Himmel" reichen, das Kratzen an sich ist ja schon Metapher.

Wenig später rinnt mir eiskaltes Pils aus einem Plastikbecher den Hals herunter. Flüchtiger Trost.
Den nachgeschobenen "flüchtige[n] Trost" empfinde ich auch als übererklärend. Ich bin doch voll in der Situation, da brauche ich diese Phrase doch nicht :)

Erster Rausch, erste Liebe. Erster Liebesrausch. Dazu unser Lied.
Ähnlich sehe ich hier das Zusammenziehen von Rausch und Liebe. Das ist für mich dann zu überbetont, macht mir als Leser die Wortspielerei zu bewusst.

Ein warmer Hauch Vergangenheit streift mein Hirn, ein Erinnerungsfetzen an eine Illusion, die schon lang beerdigt ist. Der Plan einer gemeinsamen Zukunft. Ein Traum, wie Teenager ihn träumen. Groß, naiv und flüchtig.
Der Teil wäre mir auch zu lang bzw. die einzelnen Teile wiederholen sich meiner Ansicht nach.
Aus der Erzählung heraus habe ich ohnehin nicht den Eindruck, dass der Protagonist seinen Plan verwirklicht hat, also könnte der letzte Satz raus als Übererklärung raus.
Eigentlich wird mit dem "Hauch der Vergangenheit" deutlich, dass es früher, also vielleicht seine Teenager-Jahre waren. Damit könnte der Satz auch raus.
Und die "beerdigten Erinnerungsfetzen" sind eigentlich auch nur ein beerdigter Plan einer Zukunft. Damit könnte der Satz "Der Plan einer gemeinsamen Zukunft" doch eigentlich auch ... :sealed: :lol:

Aber um diesen Teil nicht mit Meckern zu beenden:

bis ich sie tief in mir höre, mit meinen Bauchohren
"Bauchohren" :shy:
Tolles Bild.

Beim Verfolgen der Handlung bin ich leider etwas ins Stocken gekommen, als ich versucht habe, den Zeitstrahl nachzuvollziehen. In der Eingangsszene sehe ich noch junge Leute vor mir, würde sagen so 15-30.
Dann kommt:

Mein Vater sagte nie 'Gutehoffnungshütte', sondern immer 'Gehört Hauptsächlich Haniel'. Das änderte sich, als der Betrieb schloss und er mit seiner Arbeit auch den Spott verlor.
Der Erzähler hat also die Zeit vor Ende der DDR (klingt zumindest stark für mich so) einigermaßen bewusst miterlebt, jetzt ist Corona. Also ist er wahrscheinlich eher so 35-40. Das "Wir sehen uns 20 Jahre später Ding" unterstreicht das ja auch.
Das geht mit dem anfänglichen Bild eigentlich auch zusammen, aber im Nachhinein muss ich einen Sprung machen - die Anfangsszene sieht für mich zunächst anders aus, als sie ist. Da würde ich mir einen dezenten Hinweis aufs Alter wünschen. Aber vielleicht bin's auch nur ich :Pfeif:

Kleinere Sachen:

auf dem Weg in meinen Mund wird er Vaporizer und das König verlieren, und die Brille wird ihm von der Nase rutschen, weil die Zunge sich aufrollt, während sie ihn zerdrückt.
Den Satz hab ich beim Lesen erstmal gar nicht gecheckt. Dann hab ich in einem früheren Zitat "KöPi" statt König gesehen und verstanden, dass er Vaporizer und sein Bier verlieren wird.
Aber aus: "Auf dem Weg in meinem Mund ... weil die Zunge sich aufrollt ..." werde ich nicht schlau. Wer läuft wohin und was hat der Typ eigentlich in seinem Mund verloren? :confused:
Ich glaube, das liegt auch daran, dass ich vorher vielleicht noch nicht ganz abgeholt bin, was gemeint ist: "Zwei Schritte vor, einen zurück, vor vor, zurück, und die Zunge schnellen lassen."

wächst alter Stucco lustro
Hm, Friedel hatte ja auch einmal eine lateinische Bezeichnung für irgendein Gewächs eingebaut. Insofern verbuche ich das hier als Easteregg, auch wenn ich es sonst vielleicht bekritteln würde ;)
Aber ist das nicht Stuckmarmor (lt. Prof. Dr. bess.wiss. Google)? Der wächst doch gar nicht ...

»Soll das eine Drohung sein?«, sage ich. Vor vor, zurück.
Ich finde es etwas seltsam, dass er das sagt.

Und zum Schluss:

»Ulli?« Sie schüttelt den Kopf. – »Und Ela?« Ich zucke mit den Schultern.
Ich würde behaupten, dass ich bei Friedel auch nicht so ganz durchgeblickt habe, wer diese Menschen alle sind und warum nur die Enden ihrer Namen gesagt werden :lol:
Hier kommen sie aber schließlich nur einmal vor, sodass ich - diese Geschichte alleinstehend betrachtend - mich wundere, wer das sein soll.

So könnte er gewesen sein, der Nachmittag aus dem Leben eines Chamäleons, wenn ich in zwei mal zwanzig Jahren zurückblicke
Wäre hier nicht vielleicht "wenn ich in noch einmal zwanzig Jahren zurückblicke" treffender? Oder warum will er plötzlich vierzig Jahre warten?
Natürlich ein starkes Stück, am Ende die komplette Handlung in den Konjunktiv zu setzen, wenn ich das so richtig verstehe. Ich meine, es könnte im Original auch so gewesen sein, aber wie ich eingangs schrieb: Ich kam da nicht so gut rein.

Also: Insgesamt gern gelesen, auch wenn ich ein Fan von mehr Aktion/Handlung bleiben werde. Eine schöne Reise durch einen der vielen, verlorenen Nachmittage mit einem eigentlich zu frühen Bier (falls es das gibt ;) ) und man denkt, was früher war oder werden könnte. Solche gibt es zu Zeiten von Corona vermehrt, denke ich, insofern ist die Wahl dieses Zeitraums auch sinnvoll und gut gelungen.

Liebe Grüße
Vulkangestein

 
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Hey @linktofink,

ich habe immer gesagt, wenn mich das friedrichardsche Los beim CW mal treffen sollte, nehm ich die ...ela. Dann hat es mich letztes Jahr getroffen und ich habe mich umentschieden. Umso mehr gespannt war ich, als ich gesehen habe, welche Geschichte Du Dir ausgesucht hast :).

Ich finde, als Copy ist Dir hier gut was gelungen, als eigenständige Geschichte, weiß nicht. Da führt ja keine Szene konsequent zur nächsten, das sind halt so Szenen, und ich finde, in diesem Punkt hättest Du Dich ruhig weiter vom Original entfernen und dem ganzen mal einen Spannungsbogen unterschmuggeln dürfen. Sei es drum. Gelesen habe ich das trotzdem gern. In seiner Langsamkeit und mit den aktuellen Bezügen. In Zusammenarbeit mit dem Original fand ich das schon schick.

»Was in Bangladesh passiert, bekommt auch keiner mehr mit«, sagt Nick.
Außer, dass ich glaube, dass Nicks persönliches Engagement im Schwatzen und liken gipfelt, weiß ich gar nicht so recht, was mir die Szene sagen soll.

Der Gasometer dahinter wirkt deplatziert, Zeuge einer anderen Zeit, dennoch lässt er mich Heimat fühlen.
Schön. Kommt bei mir an.

Seltsam unwirklich in dieser menschenleeren Steinwüste.
Ja. Zur Zeit fühlt sich vielen seltsam an.

Meine Kehle ist trocken, sehne mich nach einem richtigen Bier, alles hat geschlossen, ...
Ich weiß nicht, ob mir das sprachlich gefällt. Bin unentschlossen, heißt wiederum, überzeugen tut es mich nicht.

Versteckt hinter Palmenkübeln entdecke ich einen Terrassenausschank mit halboffener Jalousie. Wenig später rinnt mir eiskaltes Pils aus einem Plastikbecher den Hals herunter. Flüchtiger Trost.
:) Diese Halbsätze - ach ...

Ich beschließe, zu Fuß nach Hause zu gehen und nehme beim Gehölzgarten Riphorst die Brücke über Kanal und Emscher.
Spätestens ab hier hab ich mich gefragt, wo die Geschichte mit mir hinlaufen will.

Wie von selbst steigen die Worte an die Oberfläche, platzen auf der Zunge und lassen mich singen, von den Mauern der Gasfabrik und dem glänzenden Stahl, gehärtet im Feuer.
Schön!

Damals. Ein großes Wort mit reichlich Gepäck. Erster Rausch, erste Liebe. Erster Liebesrausch.
Hier funktioniert das für mich super.

Es ist wieder da, das Versprechen, gegeben von zwei Verliebten in einem lang vergessenen Leben.
Vorsicht Kitschfalle.

Wir hatten es geschworen, damals an unserer Lieblingsstelle am Kaisergarten. Mit heiligem Ernst und einem Lächeln im Blick.
Wirkt immer komisch, wenn Leute so ironisch über sich selbst reden. Und wenn er das nicht ironisch meint, dann weiß ich auch nicht.

Glatter Beton und darauf haltbares Terrassenholz. Wenn es mich dorthin verschlägt, werfe ich von Ferne einen Blick darauf und schlage einen Bogen.

Ich versuche eine halbherzige Abschiedsgeste und komm doch nicht weg, weil ich ich bin und das auch immer Zögern mit sich bringt, vor vor, zurück.
Das mochte ich auch. Also, deinen Prot.kriege ich schon zu fassen, Figurenzeichnung kommt also bei mir an, aber der Rest drum rum, der gibt mir Rätsel auf.

»'… auf dass selbst der steilste Weinhang der Welt mitsamt der Resteifel darin ersöffe und nimmer herausfände' hat mal jemand geschrieben«, sage ich, weil mir das passend erscheint und ich es nicht vergessen habe.
Hehe. Ich stelle mir das gerade ganz wunderbar vor, wenn wir WKler allerorts den Friedrichard rezitieren. Verdient hätte er es ja.

Der Alte schaut mich an und nickt.
Der verstehts. Wenn der jetzt nicht Tee, sondern nen Bock trinken würd, dann säh ich den Friedl da sitzen. Ach, das wäre doch schön gewesen, wenn dein Copy-Prot. auf den Original-Prot. trifft und beide schön Tee miteinander tränken. Oder tut er es gar und ich blick es nur nicht?

Zwischen den Fingern dreht er einen Zigarillo, mit dem er auf mich zeigt. Aus seinem Hemdärmel ragt eine Zahlenfolge.
Kleiner Ausflug in eine weitere Friedlgeschichte?

»Wer wirst du gewesen sein, am Ende deiner Tage? Frag dich das und dann mach was draus.«
ein bisheriges Verständnis sagt mir: zwei vor, einen zurück.

Grünblau versinkt in dunkelbraun, wir schlagen der Zeit einen Haken. Zwanzig Jahre pulverisiert.
»Willst du auf'n Kaffee mit reinkommen?«
Ich nicke langsam und schaue mit einem Auge nach hinten.
Oh, da staune ich jetzt aber. Okay, Copy darf anders.

»Und Ela?« Ich zucke mit den Schultern.
Okay. Anderer Verlauf der Ereignisse. Na, dann können die beiden sich ja nun wiederfinden. Kein kurzer Orkan der alles durcheinanderwirbelt und dann übers Meer abzieht, als hät es ihn nie gegeben, wären da nicht all die zurückgebliebenen Schäden.

Und trotzdem wirkt das Ding auf mich. Wahrscheinlich, weil ich tatsächlich so was wie Mitleid mit deinem Prot. fühle.

Beste Grüße, Fliege

 
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Freut mich sehr, dich unter meinem Text zu lesen, liebe @Raindog, bin noch ganz durstig von deinem CW.

Ich denke, du hast für dein Copy einen guten Weg eingeschlagen, indem du die Begegnung der beiden ehemals Verliebten aufgegriffen und ganz viel Lokalkolorit einfließen lassen hast.
Ja, ich war etwas planlos, wie ich aus der sprachgewaltigen Vorlage den Plot für ein CW generieren soll und hab mir so beholfen.

Ansonsten lässt du deinen ehemaligen Weltverbesser „Che“ schön unentschlossen und frei von der Vorlage durch seine dirty old Town treiben, die sich in Coranazeiten besonders trostlos anfühlen mag.
Hab versucht, diesen melancholischen Sound als Teppich drunterzulegen.

Nick kann man vermutlich nicht sehr lange ertragen … Er legt die Finger in sämtliche wunden Punkte der Gesellschaft, regt sich beifallheischend über alles auf, schiebt sich seine Ray Ban wieder ins Gesicht und tut vermutlich selbst nicht viel, um irgendwas zu ändern.
Genauso eine Begegnung der dritten Art (nein, Nick heißt er nicht) hatte ich die Tage und das war der Startknopf für diesen Text.

Die Oberschenkel hab ich geändert, über die desorientierende Halbglatze denke ich noch nach. ;)

Der Satz liest sich sehr anstrengend. Irgendeinen Teil würde ich da reduzieren, vllt. nur das hier nehemen: Ein einsames Flugzeug fliegt zwischen den Strommasten hindurch, wie an einer Schnur gezogen.
Bei deinen Anmerkungen ist das so, dass ich kurz nachdenke und dir dann recht gebe, so auch hier.

Ich sehe mich im dunklen Glas, ein Auge schaut nach vorne, das andere zurück.
Das charakterisiert deinen melancholischen Prot sehr schön.
Danke, dieses Chamäleondings war nicht so einfach umzusetzen, viele Stellen habe ich gestrichen, wo es um die Farben seiner Haut ging.

Versteckt hinter Palmenkübeln entdecke ich einen Terrassenausschank mit halboffener Jalousie.
Ha! Eine Flüsterkneipe im Jahre 2020!
Soll´s geben :D.

“Als ich dort bin“ klingt nicht so toll. Vielleicht machst du nach „Aquapark“ einfach einen Zeilenumbruch, und in der nächsten Zeile ist er dann einfach schon da und du schreibst „ Aus der Marina gegenüber riecht es ...“
Werde noch was an der Route schnitzen, die der Prota nimmt, danke für den Hinweis.

Jetzt hast du tatsächlich den direkten Verweis auf die Pogues gekillt! Aber ich weiß ja inzwischen, dass es diese Version ist (als altgedientem Pogues-Fan ist mir das sehr wichtig!) Das Bild mit „Fetzen nasser Backstein und Rauch“ passt natürlich schon gut - so wie es dasteht, würde ich es aber nicht sofort mit der Musik in Verbindung bringen. Vielleicht kannst du da noch etwas dran rumfeilen.
Yep, kam jetzt nochmal, der Hinweis, kann ja auch ein Geruch sein, da muss ich nochmal ran und verdeutlichen ...

blecke grinsend die Zähne.
finde ich eins zuviel :D
Yep, der bleckt jetzt ohne zu grinsen.

Ja, schön, erwischt mich auch! :herz: (In meiner Jugend haben wir mal eine Super-8-Film von unserer dreckigen Heimatstadt gedreht – da gehörte genau dieser Song zum mit Kassette hinterlegten Soundtrack, und My Hometown vom Boss
Rum, Sodomy & the Lash und If I Should Fall From Grace ... hab ich damals rauf und runtergenudelt. Erst litten meine armen Eltern, dann meine armen Nachbarn.

Ich weiß gar nicht, was armierter Beton ist … Und mit der zweiten Reihe finde ich das etwas unübersichtlich.
Jetzt ist der Beton glatt, armiert ist er zwar auch, aber das sieht ja keiner. :lol:

Na aber! Aus der selben Tasse auch noch??? :eek:
Hast ja recht, da fehlte noch was.

Hab gehört, junge Israelis lassen sich die KZ-Nummern ihrer Großeltern stechen, gegen das Vergessen seinen unersättlichen Hunger.
Fehlt da etwas zwischen Vergessen und seinen?
Na klar, ist wie das Jott runtergeplumpst, hab´s wieder aufgehoben.

Es gibt keine Farbe, die mich tarnen könnte.
Auch schön, die Enttarnung!
So war´s gedacht, freut mich sehr, dass manches funktioniert, hast aber auch eine gute Antenne.

»Weiß nicht«, sag ich, weil ich es wirklich nicht weiß und weil ich nicht sicher bin, ob ich riskieren will, zu wissen, was das heißt.
Ich mag diesen umständlichen Satz, der deinen Prot so schön charakterisiert.
Ich mag den auch, weil der Prota auch son bisschen sehr verpeilt ist und das einfach passt.

An sich ein schöner letzter Satz, obwohl ich nicht weiß, ob es die aufgerollte Zunge wirklich braucht, Chamäleon hin, Chamäleon her? Und: In weiteren zwanzig Jahren ist der Prot erst 57, wäre das nicht noch zu jung um vor so einem Wohnheim (Altenheim meinst du doch sicher damit) zu sitzen?
Mit der Zunge und der Klammer zum Anfang bin ich unsicher, das muss noch wachsen.
Das Alter hab ich geändert, das passte nicht so wirklich. Mein Schwiegervater ist tatsächlich genau mit 57 bei Bayer in den Vorruhestand mit Lohnausgleich gegangen, für uns absolut undenkbar.

Vielen Dank für deine Gedanke und auch für alle Stellen, bei denen du schön angemerkt hast, die ich hier nicht nochmal aufgeführt habe. Das CW war ein ziemlicher Kampf und ich habe es scheint´s halbwegs hinbekommen.
Peace, bis bald, Linktofink

 
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Hola, Meister @linktofink!

Einschließlich CW hast Du jetzt alle Sparten durch – und hast immer gut bis sehr gut geliefert. Ich finde das äußerst respektabel.

Auch hier, bei vermutlich schwieriger Vorlage, ein gutgemachter Text. Beim Lesen spürt man, dass sich der Autor Gedanken gemacht hat, damit der Text glänzt. Wie auch immer – der Aufwand hat gelohnt.

Was ich sonst noch zu sagen hätte, steht hier:

Ich fühle das dunkle Grün.
Kann man Farbe fühlen?

Die Sonne brennt heiß auf meiner Haut, zu heiß für die Jahreszeit.

»Nee, da fragt keiner nach.« Ich antworte mechanisch, Taste drücken, nicken.
Der Prota reflektiert.
Schriebst Du: ‚»Nee, da fragt keiner nach«, war meine Antwort’, dann würde ich ihn als hohl einordnen.

Dahinter fliegt ein einsames Flugzeug zwischen den Strommasten hindurch wie an einer Schnur gezogen.
War ein guter Tipp von Raindog:). Den zweiten Flieger brauchte es mMn nicht – weder inhaltlich noch der suboptimalen Formulierung wegen:
Das zweite Flugzeug des Nachmittags kratzt am Bauch des Himmels.
Als Lasso für
Als Kind hatte ich Styropor-Flieger
würde das erste Flugzeug genügen. Das zweite wirkt wie angepappt.

Das stählerne Gebilde der Station wirkt wie das hingespuckte Raumschiff-Gewölle eines kosmischen Raptoren.
Schöpferische Schreibe. Das Gewölle - einfach klasse.

... kurz denke ich, ich bin der letzte Mensch auf Erden.
... obwohl er sich in Nicks Sonnenbrille betrachten konnte?

Das änderte sich, als der Betrieb schloss und er mit seiner Arbeit auch den Spott verlor.
Sauber!

... dringt ein Fetzen nasser Backstein und Rauch.
Gefällt sehr. Steigt direkt in die Nase.

'Dirty old Town'. Pure versoffene Magie.
Suff veredelt Trostlosigkeit in Magie:hmm:.

Wie von selbst steigen die Worte an die Oberfläche, platzen auf der Zunge und lassen mich singen, ...
Astrein, lieber Autor ... und die Bauchohren!

... eine Illusion, die schon lang beerdigt ist.
Es ist wieder da, das Versprechen, ...
Da Du nichts übersiehst und auch nichts vergisst, ist es gewollt?

Wie konnte ich glauben, auf meinem Weg würden mir noch viele wie sie begegnen?
Des Lobes wert, absolut.

Eine Bank steht noch heute dort am Kanal, etwas zurück in zweiter Reihe. Glatter Beton und darauf haltbares Terrassenholz.
Der zweite Satz ist ein linktofink-Satz wegen des Meisterblicks aufs Material.
Aber dass seine Liebe den gleichen Blick hat?:
Sie wippt mit dem Kinn. »Unsere Bank ist weg, samt dem Herz in der Rückenlehne. Da steht jetzt ein Ungetüm aus Beton und Terrassenholz

Wenn es mich dorthin verschlägt, werfe ich von Ferne einen Blick darauf und schlage einen Bogen.

Pläne aus Beton
Ist das nicht ein bisschen mächtig?

»Wohl wahr«, sage ich ...
Erst Nick und jetzt der Alte mit seinen Weisheiten ... Laberköppe.

... komm doch nicht weg, weil ich ich bin und das auch immer Zögern mit sich bringt, vor vor, zurück.
Dafür ist die Zunge umso schneller.

... dann pfeift's aus dem Orkus, dann spürst du den kalten Sog …«
Der ist nicht zufällig Professor? Ich kenne Alte, die nicht so sprechen:shy:.

... mitsamt der Resteifel darin ersöffe und nimmer herausfände' hat mal jemand geschrieben«
Sag dem Jemand: Die Ersoffenen müssen nicht mehr herausfinden.

Aus seinem Hemdärmel ragt eine Zahlenfolge.
Du wagst Dir was ...
Hab gehört, junge Israelis lassen sich die KZ-Nummern ihrer Großeltern stechen, gegen das Vergessen und seinen unersättlichen Hunger.

Die bisherigen Kommentatoren sind elegant darüber hinweggegangen, ich jedoch frage Dich, was Du mit diesen äußerst heiklen Einschüben bezweckst.*)

Kannst du dir'n Gewissen leisten ...
Toll!
mit Liegeplatz in Puerto de Andratx,
Daran würde ich Dich beim Maskenball erkennen. Wegen meiner könnte der Alte was vonner Jacht auf Mallorca faseln, aber den Namen kriegt der nicht hin..

... wächst alter Stucco lustro ...
Jau, den verkoofen wir auch noch. Den lässt der Stuckateur wachsen. Ist er hingegen grün, handelt es sich um einen Gummibaum.

Aus der offenen Haustür riecht es nach kühlem Sommerkeller. Der Boden ist schwarzweiß gewürfelt, ...
Ein gelungenes Bild, linktofink.

»Weiß nicht«, sag ich, weil ich es wirklich nicht weiß und weil ich nicht sicher bin, ob ich riskieren will, zu wissen, was das heißt.
Bei Dir glaube ich zu wissen, dass Du das so und nicht anders wolltest.

mit aufgerollter Zunge einen Zigarillo rauchen
Ohne Novak in den Rücken fallen zu wollen, freut es mich, dass Du es so belassen hast.


So, mein Herr linktofink – ich bin durch. Schreiben kannste wie ein Weltmeister, muss ich neidlos sagen. Dass ich bei dieser Vorlage gescheitert wäre, ist gar keine Frage. Ich finde auch, Kurzgeschichten-Kriterien anzuwenden bei Copywrite ist lässlich, denn mMn kann ein lebendiger Text nur durch eigene Emotionen entstehen. Ein dickes Kompliment von mir
und viele Grüße!
José

*) Dass die zwei KZ-Einschübe niemanden zu einem Statement fordern, irritiert mich sehr.
Ich hoffe, dass die nicht nur zum Pushen des Textes eingebaut wurden. Ich finde sie sehr unglücklich.

 

Hallo @linktofink!

So, bevor Dein Copywrite nach und nach nach hinten rückt, ein paar subjektive Eindrücke von deinem schönen Text. Ich steige ein:

Auf der Rückfahrt steige ich 'Neue Mitte' aus. Das stählerne Gebilde der Station wirkt wie das hingespuckte Raumschiff-Gewölle eines kosmischen Raptoren.

Ja, da ist der @linktofink! Deswegen mag ich deine Texte. Die Sprachlust sucht sich ihre Wege, an der S-Bahn-Station Neue Mitte Oberhausen beispielsweise. Natürlich horcht man an solchen Stellen auf, rasant ist der Vorwurf allgemeiner Eitelkeit da, oder man spricht von Künstlichkeit, oder beides, aber mir gefällt dieses Sprachbild außerordentlich. "Gewölle", das sind unverdauliche Nahrungsreste und diese unverdaulichen Nahrungsreste hat bestimmt ein stolzer Oberbürgermeister dem Verkehr übergeben (goldene Schere, roter Teppich an Gleis eins, Direktor des VRR, solche Geschichten).

Ich finde, dass dieses Gewölle-Bild mehr "Kritik" oder besser "Sinnlosigkeit von materiellem Prestige " beschreibt als der erste Teil der Geschichte. Im ersten Teil ertappte ich mich, eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Ich-Erzähler und Nick zu sehen - obwohl, glaube ich, der Ich-Erzähler ein gegenteiliges Weltbild (in dunklem Sonnenbrillenglas^^) spiegelt. Von Satz zu Satz bestätigte Nick Klischees: Natürlich ist der Klimawandel eine Gefahr, natürlich trage auch ich Ray Bean Sonnenbrille, natürlich sorge ich mich um die Flüchtlingslager in Schwarzafrika (die kontinuierlich von Provisorien zu Städten definiert werden), natürliche drücke ich meine Lässigkeit zur Welt mit dem Googlen einer allseits bekannten Persönlichkeit aus. Mir fehlte noch ein Satz wie: "Ich bin nicht priviligiert, denn meine Eltern haben sich mit sechs Jahren getrennt" oder "Im Studium war ich auch arm, ich weiß, was Armut bedeutet" oder sogar "Ich gehöre zur unteren Mittelschicht" oder sarkastischer: "War schon hart, meine Zahnspange, war echt hart".

Eine kleine Auffälligkeit sehe ich in der Erinnerung des Ich-Erzählers ...

Als Kind hatte ich Styropor-Flieger, die geradeausflogen, wenn das Gummi in der Lücke im Rumpf aufgedreht war. Wir versuchten, an den Flügeln zu schnitzen, damit sie etwas anderes taten, als geradeaus zu fliegen, aber dann blieben sie nicht mehr in der Luft.

... die sich ja interessanterweise an etwas "materiellem" orientiert. Damit hast du einen guten Übergang vom Flugzeug in die Erinnerung, aber andererseits lese ich Nick als den materiellen, oberflächlichen Typen. Vielleicht hilft es ja, einen anderen Sinn durch die Erinnerung anzusprechen, Geruch oder ein Gefühl, eine Emotion, das könnte den Kontrast zu Nick schärfen, denn Oberflächigkeit folgt meist von der visuellen Wahrnehmung.

Sehr schön und sehr sinnbildlich für das Verhältnis der beiden finde ich:

Ich sehe mich im dunklen Glas, ein Auge schaut nach vorne, das andere zurück. Hinter mir der weiße Vorstadt-Bungalow, oben neben dem Kamin die rostige Antenne, an der heitere Schäfchenwolken hängen.

Klar, Sonnenbrille, ich sehe dich und du siehst mich nicht - danke, Absatz, nächste Szene:

Dort wo ich stehe, war früher Alt Oberhausen und anstelle der postmodernen Klötze stand dort die GHH. Mein Vater sagte nie 'Gutehoffnungshütte', sondern immer 'Gehört Hauptsächlich Haniel'. Das änderte sich, als der Betrieb schloss und er mit seiner Arbeit auch den Spott verlor.

Der letzte Satz ist super. Auch den Spott verlor, welchen Spott? Doch kein Arbeiterstolz? Also doch kein so großer, starker Arbeiter? In solchen Sätzen können sich ganze Lebensläufe wiederspiegeln. Ab der zweiten Szene gefiel mir dein CW besser. Vielleicht, weil endlich der blöde Nick verschwunden ist. Vielleicht braucht der Text auch gar keinen Nick. Aber das ist subjektiv.

Versteckt hinter Palmenkübeln entdecke ich einen Terrassenausschank mit halboffener Jalousie. Wenig später rinnt mir eiskaltes Pils aus einem Plastikbecher den Hals herunter. Flüssiges Gold, das meinen Magen auskleidet.

Hm, hm, das flüssige Gold, das den Magen auskleidet ... "auskleiden", ich assoziiere das eher in Richtung Handwerk, zitiere aus DWDS:

https://www.dwds.de/wb/auskleiden

das Innere eines Hohlraumes mit einer Schicht, Schutzschicht versehen

Beispiele:
einen Raum mit Fahnentuch auskleiden
auf dem Transport sind die Kartoffeln durch Auskleiden der Wagenwände gegen Frost zu schützen
ein Eisenrohr wird innen mit feuerfestem Material ausgekleidet
das Rippenfell kleidet den ganzen Brustraum aus


Zum Auskleiden werden flüssige Stoffe eher nicht verwendet (obwohl, Spritzbeton Tunnelwand?). Vielleicht pult, kratzt, zieht er an einem goldenen Flaschenetikett? Oder kratzt das Goldene vom Etikett ab?

Der Virus hat es geschafft, die gesamte Innenstadt lahmzulegen. Ich frage mich, wie lange das noch so weitergehen kann und weiß doch, es gibt keine Antwort, noch weniger eine Lösung.
Ich beschließe, zu Fuß nach Hause zu gehen und nehme beim Gehölzgarten Riphorst die Brücke über Kanal und Emscher.

Was macht eigentlich die Emscher, wird die immer noch renaturiert? ... Egal. Das mit dem Virus verstehe ich nicht ganz, was bedeutet das? Oder du ziehst eine Linie von der Schließung der GHH zum Corona-Virus: "Das/der Virus legte den letzten Rest lahm, den die GHH übrig ließ.", das könnte den Corona-Satz mehr in den Text einbauen: "Eine Lösung gab es nicht wirklich."

Aus einem Fensterspalt am Anfang der Straße dringt ein Fetzen nasser Backstein und Rauch.

Erstschön!

Pure versoffene Magie.

Zweitschön!

Ich bleibe stehen, schnippe mit den Fingern und blecke die Zähne. Der Song hat mich kalt erwischt. Wie von selbst steigen die Worte an die Oberfläche, platzen auf der Zunge und lassen mich singen, von den Mauern der Gasfabrik und dem glänzenden Stahl, gehärtet im Feuer. Ich hatte vergessen, wie gut Mundharmonika und Geigen sich durch die Gehörgänge winden, sich den Weg suchen durch die Innereien, bis ich sie tief in mir höre, mit meinen Bauchohren und mich im Kreis drehe. Langsam zwirbelt sich etwas auf in meiner Körpermitte. Es wird mir helfen, eine Weile geradeaus zu gehen, vor vor, zurück.

Sehr sinnlich geschrieben, vor allem durch die Verwendung von animalischen "Innereien". Hier hast du die Balance gut getroffen, und das "vor vor zurück" gibt einen Takt vor. Auch ein Beispiel, wie schnell ein solches vorsichtiges Gebilde zusammenbricht, ein "vor" weniger und schon wirkt der Abschnitt weniger sinnlich, weniger musikalisch und taktvoll.

Dein CW nimmt weiter an Fahrt auf, da du hier eine gute Mischung aus proletarischem Zeugs (Ruhrlatein?^^) und den großen Weisheiten des Lebens gefunden hast. Ich mag den Dialog; nicht nur wegen der satten Bilder, auch, weil sich beide verstehen:

»Am Anfang siehst du nur den Ozean«, sagt er weiter, »aber wenn du mit den Füßen nur noch in'ner flachen Pfütze stehst, dann pfeift's aus dem Orkus, dann spürst du den kalten Sog …«
»'… auf dass selbst der steilste Weinhang der Welt mitsamt der Resteifel darin ersöffe und nimmer herausfände' hat mal jemand geschrieben«, sage ich, weil mir das passend erscheint und ich es nicht vergessen habe. Der Alte schaut mich an und nickt.

Okay, bei Resteifel musste ich drei Mal lesen, las erst "Reitstiefel". Falls du es Nicht-Rhein/Ruhr-Menschen vereinfachen magst, schreibst du einfach "Eifelrest".

Einer, der's geschafft hat, dem die Gier aus'm Mundwinkel trieft, mit Liegeplatz in Puerto de Andratx, Prachtweib und noch prächtigerem Nachwuchs, der das Geld verkackt, das du den Ahnungslosen in deinem Büro aus'n Rippen leierst?«
»Nein, der Herr, meine Welt ist das Blätterdach der Baumkronen, wo ein steter Wind weht«, sage ich leise und nehme einen Schluck von seinem Tee, den er mit einem Kopfschütteln rüberschiebt. »Gibt nur Pfefferminz.« Er hatte ihn nicht angerührt.

Für mich die stärkste Textstelle im CW; denn meist folgt einem "Nein, der Herr" ein höfliche Ansprache, hier aber ein phantasievolles Zitat, aber der Ausflug in phantastische Baumkronen endet abrupt mit der Lebenswirklichkeit alter Menschen: Gibt nur Pfefferminz. Ich glaube, dass dieser "rote Faden" die Stärke deines Schreibstils beschreibt. Aus solchen bildlichen Details leben deine Texte. Gibt nur Pfefferminz, na klar, was denn sonst, und die Realität in der Alten(pflege) ist die zwischen Pfefferminz und Kamille (bei Erkältung). Ein Bild, alles gesagt.

Hab gehört, junge Israelis lassen sich die Nummern ihrer Großeltern stechen, gegen das Vergessen und seinen unersättlichen Hunger.

Schwierig, da du hier ein sehr sensibles Thema anpackst und schwierig, weil ein Satz aus dem Themenkomplex Holocaust, Genozid alles andere in einer Geschichte überdeckt. Offensichtlich ist der alte Mann ein KZ-Überlebender -

Aus seinem Hemdärmel ragt eine Zahlenfolge.

Ein Problem sehe ich in der Reaktion des Ich-Erzählers. Wenn er diese Zahlenfolge sieht - warum reagiert er nicht? Oder so normal? Also, warum fokussiert seine Aufmerksamkeit nicht auf diese Ziffern?

Zwischen dem abgeklärten "Hab gehört"-Satz und Nick sehe ich eine schwache Verbindung; wäre Nick ein junger Israeli, ich würde ihm eine solche Tätowierung zutrauen. Oder nicht nur das, wahrscheinlich erzählt er noch "Mein Uropa saß im Ghetto Litzmannstadt und kam ins Ausbesserungslager" und trinkt palästinensisches Bier. Andererseits, es wird kurz persönlich, ich habe eine Bekannte aus Israel, die ich mal besucht habe: Die Gruppe meinte zu mir, sie hätte die KZ-Geschichten ihrer Großeltern und Urgroßeltern einfach satt. Im Grunde geht es um den Einbau dieser Erfahrungen in den normalen Alltag der Gegenwart, das irritiert. Vielleicht wolltest du das zum Ausdruck bringen. Trotzdem empfehle ich dir, diesen Einschub nicht zu verwenden. Die Monströsität des Themas sprengt dein CW. Aber das musst du entscheiden!

So, weiter gehts:

Ihr Fahrrad ist blau, mit einer rosa lackierten Ziegenglocke als Schelle. Ich hab eine Hand auf ihrer Hand, die wiederum den Sattel hält. Aus der offenen Haustür riecht es nach kühlem Sommerkeller.

Das ist ein linktofink!

Es gibt keine Farbe, die mich tarnen könnte. Ich ziehe die Hand weg, als hätte ich auf den heißen Herd gefasst.

Auch das, richtig schön.

»Wohn['] um die Ecke.«

Mir gefällt auch das offene Ende der Geschichte, die alte Liebe, der Liebsrausch, die kleinen Details von Ziegenglocke, aber plötzlich lauert da noch eine Falle:

So könnte er gewesen sein, der Nachmittag aus dem Leben eines Chamäleons, wenn ich in zwei mal zwanzig Jahren zurückblicke – und sollte er so gewesen sein, werde auch ich an einem Plastiktisch sitzen, mit aufgerollter Zunge einen Zigarillo rauchen und junge Männer aufmuntern, wenn sie einen Tanz wagen.

Hm, hm, blickt er jetzt zurück? Ist das alles in Gedanken? Allerdings suchte ich nach einem Anfang dieser Erinnerung, einen gefunden habe ich nicht (als er der alte Mann in die Einrichtung ging?). Oder, oder, wird es hier einfach ein bisschen märchenhaft, ich fühlte mich ganz leicht an Flämmchen und Branko erinnert, ein ganz ähnliches Gefühl, ein bisschen phantastisch-phantasievolles im Dialog und zack, taucht die alte Liebe von damals aus, Ecke Bottroper Landstraße/Prosper-Haniel-Ring (falls es so etwas gibt, aber die Lokalität ist klar), blau das Rad, rosa die Klingel und - und was? - ach ja, muss jetzt einsteigen, Straßenbahn.

***

So! Das waren ein paar Anmerkungen, wieder (einmal) ein schönes und reiches Leseerlebnis von dir, hoffe, du kannst damit etwas anfangen.

lg
kiroly

 

Hey @Vulkangestein,

ich freue mich sehr über deinen Kommentar, du bist ein sehr treuer und oft auch sehr verständiger Begleiter meiner Texte (unvergessen Rot auf Schwarz). Mal sehen, ob ich es nochmal zum Johnny schaffe, dann sehen wir uns im hessischen Manhattan wieder.

Was beide Texte aber vor allem eint, ist das Spielen mit Sprache und das Kreieren ungewöhnlicher und neuer Bilder. Insofern erscheint es mir sehr passend, dass dir Friedrichard zugelost wurde - du kannst das nämlich sehr gut, wie ich finde.
Da bleibt mir nur ein tonloses Danke ...

Das erste Bild ist ja schon der Titel und den finde ich sehr passend. Ein gesellschaftliches Chamäleon: "Ich antworte mechanisch, Taste drücken, nicken."
Ich hab lange überlegt, wie und ob ich das so schreiben kann, das Lamento Nicks, und ob ich es mehr oder weniger unkommentiert durch den Prota lassen kann. Provoziert und nervt natürlich so, wie es da steht, aber wer kennt das Gefühl der Überforderung und Desoriertierung nicht, durch das, was von außen auf uns einprasselt? Oft hilft da nur ein Wegdrückreflex, ein "Taste drücken", um es auszuhalten.

Das finde ich hingegen etwas zu dick aufgetragen. Ein "Himmelsbauch" macht aus dem Himmel für mich nicht mehr als einen Himmel. Für mich würde "kratzt am Himmel" reichen, das Kratzen an sich ist ja schon Metapher.
Oh, schade, das ist ein big darling, weil ich das Bauchbild mit der Unterseite der Schäfchenwolken eigentlich gelungen finde. Muss ich mir wirklich gut überlegen.

Den nachgeschobenen "flüchtige[n] Trost" empfinde ich auch als übererklärend. Ich bin doch voll in der Situation, da brauche ich diese Phrase doch nicht :)
Ich hab schon viel am Text verändert in den letzten Tagen. Und wenn ich was Neues schreibe, und das richtig geil finde, streich ich das am nächsten Tag, weil schon dann der Lack ab. So auch hier, danke für den Hinweis, hab jetzt "Wenig später rinnt mir eiskaltes Pils aus einem Plastikbecher den Hals herunter, rinnt wie Flüssiggold in meine Magensäfte." geschrieben. Mal sehen, ob es morgen wieder rausfliegt.

Erster Rausch, erste Liebe. Erster Liebesrausch. Dazu unser Lied.
Ähnlich sehe ich hier das Zusammenziehen von Rausch und Liebe. Das ist für mich dann zu überbetont, macht mir als Leser die Wortspielerei zu bewusst.
Das wird sehr unterschiedlich aufgenommen, manche finden es richtig gut, da fehlt mir noch der letzte Anstoß, um den Liebesrausch rauszukicken. Kommt auf die Liste der Wackelkandidaten.

Der Teil wäre mir auch zu lang bzw. die einzelnen Teile wiederholen sich meiner Ansicht nach.
Aus der Erzählung heraus habe ich ohnehin nicht den Eindruck, dass der Protagonist seinen Plan verwirklicht hat, also könnte der letzte Satz raus als Übererklärung raus.
Eigentlich wird mit dem "Hauch der Vergangenheit" deutlich, dass es früher, also vielleicht seine Teenager-Jahre waren. Damit könnte der Satz auch raus.
Und die "beerdigten Erinnerungsfetzen" sind eigentlich auch nur ein beerdigter Plan einer Zukunft. Damit könnte der Satz "Der Plan einer gemeinsamen Zukunft" doch eigentlich auch ... :sealed: :lol:
Ja, in dem Part ist die Grenze zur Schwafelei fließend, gebe ich dir recht, da muss ich mal mit der harten Bürste durch, aber eins sage ich dir, der Teenagertraum bleibt und vor allem das zutreffende "Groß, naiv und flüchtig." :D

"Bauchohren" :shy:
Tolles Bild.
Ja, hab diesen Geistesblitz eingeladen, zu bleiben.

Beim Verfolgen der Handlung bin ich leider etwas ins Stocken gekommen, als ich versucht habe, den Zeitstrahl nachzuvollziehen. In der Eingangsszene sehe ich noch junge Leute vor mir, würde sagen so 15-30.
Nope. erste Szene ist Echtzeit, heißt der Prota ist Ende dreißig.

Mein Vater sagte nie 'Gutehoffnungshütte', sondern immer 'Gehört Hauptsächlich Haniel'. Das änderte sich, als der Betrieb schloss und er mit seiner Arbeit auch den Spott verlor.
Der Erzähler hat also die Zeit vor Ende der DDR (klingt zumindest stark für mich so) einigermaßen bewusst miterlebt, jetzt ist Corona. Also ist er wahrscheinlich eher so 35-40. Das "Wir sehen uns 20 Jahre später Ding" unterstreicht das ja auch.
Yes, damit liegst du richtig, dreißig Jahre zurück heißt, der Ich-Erzähler war um die zehn Jahre alt (plus minus)

Das geht mit dem anfänglichen Bild eigentlich auch zusammen, aber im Nachhinein muss ich einen Sprung machen - die Anfangsszene sieht für mich zunächst anders aus, als sie ist. Da würde ich mir einen dezenten Hinweis aufs Alter wünschen. Aber vielleicht bin's auch nur ich :Pfeif:
Nimms mir nicht übel, aber da möchte ich erst mal warten, ob die Irritationen lokal begrenzt sind. :Pfeif:

Aber aus: "Auf dem Weg in meinem Mund ... weil die Zunge sich aufrollt ..." werde ich nicht schlau. Wer läuft wohin und was hat der Typ eigentlich in seinem Mund verloren? :confused:
Er ist ja nunmal ein Chamäleon, das die Zunge rausschnacken lässt und sie beim Einfahren wieder zusammenrollt. Soll hier heißen: Der Prota hat genug gehört, ist genervt und stellt sich die Mundschnappszene vor, um das Lamento zu beenden. Direkt danach haut er ja auch ab.
Ich glaube, das liegt auch daran, dass ich vorher vielleicht noch nicht ganz abgeholt bin, was gemeint ist: "Zwei Schritte vor, einen zurück, vor vor, zurück, und die Zunge schnellen lassen."
Okay, da sollte ich das chamäleonhafte anschaulicher machen, um darauf vorzubereiten.

wächst alter Stucco lustro
Hm, Friedel hatte ja auch einmal eine lateinische Bezeichnung für irgendein Gewächs eingebaut. Insofern verbuche ich das hier als Easteregg, auch wenn ich es sonst vielleicht bekritteln würde ;)
Aber ist das nicht Stuckmarmor (lt. Prof. Dr. bess.wiss. Google)? Der wächst doch gar nicht ...
Große Säulen wachsen auch nicht wirklich in den Himmel, es hat sich so aus der Perspektive der Wahrnehmung ergeben: Keller, Bodenfliesen und dann wandert der Blick die Wände hoch.

»Soll das eine Drohung sein?«, sage ich. Vor vor, zurück.
Ich finde es etwas seltsam, dass er das sagt.
Aus dem Originaltext ausgeschnitten … :D

»Ulli?« Sie schüttelt den Kopf. – »Und Ela?« Ich zucke mit den Schultern.
Ich würde behaupten, dass ich bei Friedel auch nicht so ganz durchgeblickt habe, wer diese Menschen alle sind und warum nur die Enden ihrer Namen gesagt werden :lol:
Hier kommen sie aber schließlich nur einmal vor, sodass ich - diese Geschichte alleinstehend betrachtend - mich wundere, wer das sein soll.
Sollte ein Blitzabchecken der letzten bekannten Beziehung sein. Insofern geht es nicht um den konkreten Namen, der ist austauschbar, sondern darum, ob da jemand als Hintergrundfaktor zwischen ihnen steht.

Wäre hier nicht vielleicht "wenn ich in noch einmal zwanzig Jahren zurückblicke" treffender? Oder warum will er plötzlich vierzig Jahre warten?
Hatte ich zuerst, aber in zwanzig Jahren wäre er erst 57(plus minus), kein Alter für ein Wohnheim, wie Raindog treffend anmerkte. Vielleicht lasse ich es offen und schreibe nur später oder so.

Natürlich ein starkes Stück, am Ende die komplette Handlung in den Konjunktiv zu setzen, wenn ich das so richtig verstehe. Ich meine, es könnte im Original auch so gewesen sein, aber wie ich eingangs schrieb: Ich kam da nicht so gut rein.
Chamäleongangart: Es ist gedacht als das finale zurück im "Vor vor, zurück", heißt, die Handlung läuft diesen Rhythmus: Nick (vor), Wanderung durch die Stadt (vor), Rückblick Siebzehn (zurück), alter Mann (vor), Wiedersehen erste Liebe (vor), Konjunktivierung (zurück).

Eine schöne Reise durch einen der vielen, verlorenen Nachmittage mit einem eigentlich zu frühen Bier (falls es das gibt ;) ) und man denkt, was früher war oder werden könnte. Solche gibt es zu Zeiten von Corona vermehrt, denke ich, insofern ist die Wahl dieses Zeitraums auch sinnvoll und gut gelungen.
Ja, das Chamäleon ergab sich aus der Unmöglichkeit, bei allem und jedem immer nur das Richtige zu tun (und zu wissen, was das ist), denn eigentlich bleibt uns nur das Gezackel.

Danke für deinen Kommentar, gude Vulkangestein, wir lesen uns unter deinem Text ;)

Peace, linktofink

 

Guten Morgen @linktofink, ich habe mir selbst eine Challange auferlegt, jeden Tag mindestens eine Geschichte und einen Kommentar. Ich muss wieder aktiver werden. Mehr lesen, mehr kritische beäugen, man verliert sonst das Gespühr für seine eigenen Schreibprozesse, dass ist mir in den letzten Tage vermehrt aufgefallen. Heute hat es dich getroffen? Erwischt? gelost? Nenn es wie du willst.

Ich habe mir aus dem ersten Absatz einige Zitate rausgesucht.

Ich fühle das dunkle Grün.
Ich sehe mich im dunklen Glas, ein Auge schaut nach vorne, das andere zurück.
Zwei Schritte vor, einen zurück, vor vor, zurück, und die Zunge schnellen lassen.
okay einige ist übertrieben, wenn es nur drei sind :-D
Das mit dem Grün hat sich durch den Kommentar von Pudrig Palace erledigt, hat mich doch am Anfang verwirrt, wie man eine farbe spüren kann, aber du meinst eben nicht die Farbe sondern das große Ganze, das war mir beim Lesen erst nicht klar.
Und die anderen beiden, bezogen sich eben falls auf meinen Verwirrt heit, weil ich den Titel vergessen und somit nicht geschnallt habe das dein Prota, ähnlich wie bei Kafkas Verwandlung, Merkmale eines Tieres hat. Von daher kannst du die beiden eigentlich auch vergessen.

Danach habe ich mich irgendwie im Lesen verloren. Ich kenne das Originial nicht und ich muss zugeben, dass ich viele Texte von Fridrichard nicht lese, weil ich sie schlicht weg nicht verstehe *augenzuhalt*
Deinen habe ich verstanden und auf ihre ganz eigenen Art hat sie mir gut gefallen. Tatsächlich kann ich gar nicht so genau sagen, was es ist, das mich so mitgenommen hat, den im Grunde ist die Stimmung eher düster, ja fast bedrückend, und dennoch bin ich dem Chamäleon sehr gerne durch die Gassen und über die Brücklen gefolgt.
Hatte ein bisschen was von einem Sonntagsspatziergang an einem langsam erwachenden Mittwochmorgen :-D

Eine Sache ist mir eben jedoch noch aufgefallen.

Auf dem Weg in meinen Mund wird er Vaporizer und das König Pils verlieren
schreibt man das nicht so: vaporisiert?

Das wars auch schon. Viele Flüchtigkeiten sind ja von meinen Vorkommentatoren schon aufgegriffen worden, ich bin eh kein Ass in RGZ von daher überlasse ich das auch liebend gerne den anderen.
Ich bin über keine Formulierung gestolpert, zumindest nichts, was sich im Nachhinein nicht noch geklärt hätte und es gab nichts was in meinen Ohren Unrund oder Unmelodisch klang als das ich es anmerken müsste. Alles in alleim ein sehr gelungener Text, der mich, wie eben schon gesagt, auf seinen ganz eigenen Art gefesselt und mitgenommen hat.

Vielen Danke, mit solchen Texten wird meine eigenen Challange ein Klacks :-D

Liebe Grüße
Shey :-)

 

Hallo linktofink,

ich lese deine Kopie ohne das Original zu kennen und werde sie somit auch nicht vergleichen, sondern mich nur auf deinen Text beziehen.

»Was in Bangladesh passiert, bekommt auch keiner mehr mit«, sagt Nick.
Warum nicht die deutsche Bezeichnung Bangladesch?
»Nee, da fragt keiner nach.« Ich antworte mechanisch, Taste drücken, nicken.
Taste drücken? Hat das was mit dem mechanisch zu tun, so als innerer Monolog? Mir erschließt sich das nicht.


Seine sonore Stimme ist angenehm, so lange er ruhig bleibt, war sie immer schon.
Meiner Ansicht geht der Satz so nicht.
... bleibt, das war sie immer schon.


»Ja, ist wohl so.« Die Sonne brennt heiß auf meiner Haut, zu heiß für die Jahreszeit.
Brennen ist doch immer heiß, oder? Ansonsten würde sie die Haut wärmen.


Wir versuchten, an den Flügeln zu schnitzen, damit sie etwas anderes taten, als geradeaus zu fliegen, aber dann blieben sie nicht mehr in der Luft.
Das aber passt hier nicht ganz, denn auch wenn sie nicht mehr in der Luft blieben, also abstürzten, machten sie ja etwas anderes als geradeaus zu fliegen.
leider fände ich passender.

Ich sehe mich im dunklen Glas, ein Auge schaut nach vorne, das andere zurück.
Ich kann mir das leider bildhaft nicht vorstellen.

Zwei Schritte vor, einen zurück, vor vor, zurück, und die Zunge schnellen lassen. Auf dem Weg in meinen Mund wird er Vaporizer und das König Pils verlieren, und die Brille wird ihm von der Nase rutschen, weil die Zunge sich aufrollt, während sie ihn zerdrückt.
Ich muss eine völlige Blockade haben - den Satz verstehe ich nicht. :D


Dort wo ich stehe, war früher Alt Oberhausen und anstelle der postmodernen Klötze stand dort die GHH.

Da plätschert alles vor sich hin, sogar das Zusammentreffen mit einer alten Liebe schafft es nicht, die Lethargie des Textes aufzureißen. Man ist stiller Begleiter des Protagonisten, dem ich aber nicht nahe komme. Vielleicht ist es nicht der richtige Tag für mich, so einen Text gerne zu lesen, die gibt es sicher auch. Aber heute spricht er mich nicht an, mir fehlt ein roter Faden, der mich packt, der mich neugierig macht.
Ich habe bisher keine weiteren Kommentare dazu gelesen und bin nun gespannt, was die anderen dazu sagen.

Liebe Grüße
bernadette

 

Hallo @linktofink

feiner Titel, der an das Original und die friedel'sche Ironie erinnert. Warum ergänzt du keinen Satire- oder Humor-Tag?
Der Text selbst wirkt auf mich teilweise überladen, als wolle der Erzähler (und mithin der Autor) unbedingt alle möglichen Narrative bedienen.
Ich habe ihn trotzdem oder deshalb mit einem Schmunzeln genossen und mich an manch hübschem Detail erfreut. Der Beobachtungsreichtum gefällt mir an diesem Text, der auch sprachlich ausgereift wirkt.

Paar Stellen:

»Was in Bangladesh passiert, bekommt auch keiner mehr mit«, sagt Nick.
»Wahrscheinlich nicht, ist kein Thema mehr«, antworte ich.
Dialogeröffnungen, besonders dann, wenn sie scheinbar direkt ins Geschehen reinzogen, klingen für mich immer etwas autorenlastig.

Ich sehe mich im dunklen Glas, ein Auge schaut nach vorne, das andere zurück. Hinter mir der weiße Vorstadt-Bungalow, oben neben dem Kamin die rostige Antenne, an der heitere Schäfchenwolken hängen.
hier ein Beispiel für gelungene Beobachtungen, wenngleich du an beinah jedem Substantiv ein Adjektiv voranstellst.

»'… auf dass selbst der steilste Weinhang der Welt mitsamt der Resteifel darin ersöffe und nimmer herausfände' hat mal jemand geschrieben«, sage ich, weil mir das passend erscheint und ich es nicht vergessen habe.
entweder du weißt wer's gesagt hat, zitierst dann auch korrekt, oder du bzw. der Erzähler erklärt eben nicht auch noch, dass er es nicht vergessen hat. Was ohnehin nicht von Belang ist.

Aus der offenen Haustür riecht es nach kühlem Sommerkeller.
feines Bild

Der Boden ist schwarzweiß gewürfelt, die Wände hoch wächst alter Stucco lustro. Es gibt keine Farbe, die mich tarnen könnte. Ich ziehe die Hand weg, als hätte ich auf den heißen Herd gefasst.
hübsche Stelle

So könnte er gewesen sein, der Nachmittag aus dem Leben eines Chamäleons, wenn ich in zwei mal zwanzig Jahren zurückblicke – und sollte er so gewesen sein, werde auch ich an einem Plastiktisch sitzen, mit aufgerollter Zunge einen Zigarillo rauchen und junge Männer aufmuntern, wenn sie einen Tanz wagen.
das mit der aufgerollten Zunge kann ich mir nicht gut vorstellen, das mit den Zigarillos schon.

Ich hoffe, du kannst mit der einen oder anderen Anmerkung etwas anfangen.

viele Grüße aus dem heiligen Freitagnachmittag in kontaktferner Zeit
Isegrims

 

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