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Ein Pünktchen am Horizont
Ein Pünktchen am Horizont
Bianca war ein kleines Mädchen, das in Kroatien lebte. Kroatien ist ein Land im Süden von Europa, also ganz unten auf der Landkarte. Und Kroatien liegt am Meer, am Adriatischen Meer. Biancas Vater war Fischer wie viele Väter in ihrem Dorf. Im Herbst, genauer Mitte November, fahren dort die großen Fischerboote zum letzten Mal im Jahr hinaus. Sie bleiben so lange auf dem Meer, bis der Bauch der Schiffe randvoll mit Fischen gefüllt ist. Das dauert so drei bis vier Wochen.
Nun war die fünfte Woche angebrochen und Biancas Vater war immer noch nicht zurück. Jeden Morgen vor der Schule und jeden Nachmittag nach den Hausaufgaben lief sie hinunter zum Strand und suchte den Horizont ab. Bald, bald musste sich dort ein kleines dunkles Pünktchen zeigen, langsam größer werden und Form annehmen, die Form eines Fischerbootes.
Auch heute war sie wieder am Wasser, heute am Heiligabend. Das Meer war rau und die Wellen schlugen klatschend auf den Kieselstrand. Sie hatte sich unter eine der großen Palmen gehockt und wollte erst dann nach Hause gehen und ihre Mutter rufen, wenn sie das Boot sehen würde. Ein Weihnachten ohne ihren Vater wollte sie sich nicht vorstellen. Er musste kommen. Häufig war sie aufgesprungen, weil sie glaubte etwas gesehen zu haben. Es waren jedoch nur Möwen, die mit den Wellen spielten.
Tante Luce, die an der Promenade wohnte, hatte sie entdeckt und war zu ihr gegangen.
„Es gibt einen starken Sturm da draußen“, hatte sie erklärt, „der dauert schon länger als eine Woche. Die Boote haben sicher Schutz im Hafen von Korcula gesucht“.
„Ja, ich weiß“, sagte Bianca, „alle Boote sind dort, die Männer haben angerufen – nur Papa ist noch auf dem Meer.“
„Du musst dir keine Sorgen machen, dein Papa ist ein sehr guter Seemann, er ist der beste. Komm mit zu mir, du kannst vom Fenster aus das Meer beobachten.“
Nachdem sie eine heiße Suppe gegessen hatte, setzte sie sich auf die Fensterbank und blickte durch das Fensterglas hinaus. Die Regentropfen perlten die Scheibe hinunter, die Gischt der Wellen fegte inzwischen bis auf die Promenade und die Blätter der Palmen wurden vom Sturm wild hin und her gerissen.
Schon nach kurzer Zeit hielt sie es nicht mehr auf der Fensterbank aus. Sie hatte eine Idee. Schnell verabschiedete sie sich von Tante Luce und lief die schmale Straße entlang, vorbei am kleinen Supermarkt zum Haus ihrer Eltern. Dort angekommen, musste sie noch die steile Treppe hinauf in ihr Zimmer. Aus der untersten Schublade der Wäschekommode holte sie eine Schachtel hervor, die ganz mit bunt schillernden Muscheln verziert war. Behutsam hob sie den Deckel an und nahm ein zusammengefaltetes, weißes Taschentuch heraus, das sie auf die Kommode legte.
Eingewickelt in das Taschentuch waren drei Perlen in unterschiedlichen Farben. Es gab eine weiße, eine grauschwarze und eine rote. Bianca nahm sie einzeln auf, legte sie in ihre rechte Hand und verschloss die zu einer Faust.
Sie sauste zurück die Treppe hinunter und an ihrer erstaunten Mutter vorbei.
„Ich gehe wieder zu Tante Luce“, rief sie von der Haustür aus und war schon die Straße hinunter verschwunden.
Tante Luce wunderte sich, Bianca so schnell wieder zu sehen. Die kletterte zurück auf die Fensterbank, schloss ihre Augen und hielt dabei die Faust eng an ihr Herz gedrückt.
Sie dachte zurück, an das Ende des Sommer vor zwei Jahren. Es war das Jahr, in dem sie in die erste Klasse der Schule gekommen war. Sie konnte sich genau daran erinnern. Viele Dorfbewohner hatten sich am Hafen versammelt, um die Boote zu begrüßen, die von ihrem Fischfang zurückkehrten. Sie war auf die Mole gerannt und an Bord gesprungen, bevor das Boot ihres Vater überhaupt richtig angelegt hatte. Er hatte sie hochgenommen, ganz toll gedrückt und sie anschließend hoch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen. Dann schaute er mit zusammengekniffenen Augen kurz nach rechts und links und machte ihr wortlos Zeichen, ihm in die Kajüte zu folgen. Er tat sehr geheimnisvoll, und nach einem weiteren, verstohlenen Blick durch das Kajütfenster, öffnete er seinen Seesack. Obenauf lag ein zusammengefaltetes Taschentuch, und darin waren die Perlen eingewickelt.
„Das ist ein Geschenk für dich“, hatte ihr Vater geflüstert.
„Das sind ganz besondere Perlen. Sie stammen aus der Halskette der Muschelprinzessin.“
„Die sehen aber genau so aus wie normale Perlen“, hatte sie geantwortet, da sie nicht Besonderes an den Perlen feststellen konnte.
„Ich werde dir das Geheimnis verraten“, sprach ihr Vater leise weiter.
„Wenn ein Kind diese Perlen besitzt und einen ganz großen Wunsch hat, dann nimmt es eine Perle in seine Faust, drückt sie ganz eng ans Herz und spricht leise den Wunsch aus.“
„Oh!“, hatte sie erstaunt gehaucht, „und jeder Wunsch geht dann in Erfüllung?“
„Sicher“, bestätigte ihr Vater, „jeder! Du solltest dir aber jeden Wunsch genau überlegen, denn nach einem Wunsch verliert die Perle ihre Zauberkraft.“
Bianca war überglücklich. Dennoch blickte sie ihren Vater skeptisch an und fragte: „Woher hast du die Perlen, und woher weißt du das mit den Wünschen?“
„Die Perlen habe ich von der Muschelprinzessin selbst. Eines morgens, als wir das Netz einholten, habe ich sie entdeckt. Die arme hatte sich im Netz verfangen und weinte ganz bitterlich. Ich musste das Netz zerschneiden, um sie zu befreien. Und bevor ich ihr zurück ins Meer half, öffnete sie ihre Halskette, nahm diese drei Perlen ab und sagte: ‚Die sind für Bianca, deine Tochter, sie werden ihr Glück bringen!’
Und dann weihte sie mich in das Geheimnis der Perlen ein.“
Sie hatte damals nichts mehr sagen können, so durcheinander war sie vor Glück. Öfter hatte sie inzwischen daran gedacht, sich etwas zu Wünschen, doch etwas ganz Besonderes, das man nicht auch hätte kaufen können war ihr nicht eingefallen. Nun wusste sie, was sie wollte, etwas das ihr nur die Perlen erfüllen konnten. Noch fester umschloss sie die Perlen, drückte sie ganz eng an ihr Herz und flüsterte ihren Wusch.
Und wäre sie nicht eingeschlafen, hätte sie vielleicht das Pünktchen am Horizont entdeckt, das ganz bestimmt keine Möwe war.