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Ein zukünftiger Rückblick

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18.02.2016
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Ein zukünftiger Rückblick

Es ist ein schöner Herbsttag, hier in Chur. Das Laub weht, getragen von einem warmen Windstoss durch die Altstadt. Die Glocke der mittelalterlichen Martinskirche verkündet den frühen Abend und Faris auf dem "Hilal"-Minarett neben dem Bahnhof verkündet das Abendgebet. Seine Stimme weht, je nach Windrichtung, mal laut und mal kaum wahrnehmbar, jedoch allen Churern wohl bekannt, durch die Gassen. Die Strassen füllen sich und man begrüsst sich mit einem "Salam" oder einem "Sali". Die Menge schlendert gemütlich dem Bahnhof entgegen. Die Schleier der Frauen blähen sich im Wind und die Kinder spielen hinter den steinernen Brunnen fröhlich verstecken. In den Strassencafes trinken die Touristen genüsslich einen Nespresso und essen dazu gefüllte Datteln. Durch die automatischen Kassentüren des Coops betritt eine blonde Frau mit einer Tasche voller Fladenbrote die Strasse und verschwindet hinter dem soeben errichteten Marronistand. Am Bahnhof reihen sich weitere Pendler in die tägliche Prozession zur Masǧid Cuira, der Churer Moschee ein. Andere gehen direkt nach Hause oder geniessen noch die letzten Sonnenstrahlen.

Eine Churer Primarschullehrerin verlässt nach ihrem Arbeitstag das Schulgebäude und wird noch auf der Treppe vom süssen Geruch nach Koriander und Minze umschlungen. Das erste Mal seit vielen Jahren dringen die Gerüche auch tatsächlich in ihr Bewusstsein und bleiben nicht irgendwo in den Provinzen des Unterbewusstseins hängen. Hatte sie doch heute ihren Schülern erzählt, dass es in Chur nicht immer so gerochen hatte. Das Erstaunen hatte sie zutiefst erstaunt. Wie konnte sich seit ihrer Geburt ihre Geburtsstadt dermassen verändern?

Noch heute erinnert sie sich lebhaft an ihren elften Geburtstag. Sie hatte ihre ganze Klasse, abzüglich natürlich der Jungs, zu sich nach Hause eingeladen. Die Mutter war das erste Mal ausgeladen worden und so stand einem fröhlichen Nachmittag nichts mehr im Weg. Als sie die Einladungen in der Klasse verteilt hatte, gab sie nach kurzem Zögern "der Neuen" auch ein Blatt. Die Neue hiess Ilenia und war seit zwei Jahren mit ihnen in der Klasse. Sie sah älter aus, als alle anderen Mädchen ihres Alters und hielt sich meistens im Hintergrund. Allgemein benahm sie sich etwas seltsam und schien lieber alleine zu sein, als mit den anderen ins Gespräch zu kommen. Ihr Deutsch war auch komisch. Und ja, sie war braun. Also ihre Haut war braun. Sie war irgendwann vor irgendetwas geflüchtet, hatte einmal irgendjemand gesagt.

So sass Ilenia an jenem Nachmittag bei der elfjährigen, späteren Primarschullehrerin am Tisch und präsentierte etwas verlegen ihr Geschenk. Es war ein kleiner, dazumals noch nicht verbotener Plastiksack voller Süssigkeiten, welche in jener Zeit noch von Hand in einem Geschäft abgefüllt werden konnten. Dazu eine Zeichnung, welche irgendein Dorf in irgendeinem Land zeigen sollte. Das Geschenk sah seltsam persönlich und selbstgemacht aus, neben den anderen iTunes-Gutscheinen und pinken Lippenstiften. Die Gespräche wandten sich dem üblichen Klassentratsch zu, wobei Ilenia nur zu oft für üble Spässe herhalten musste. Als sich Ilenia weit früher verabschiedete, als eigentlich gemäss der Geburtstagseinladung vorgesehen war, beschlich die Mädchen ein wenig das schlechte Gewissen. Der Nachmittag ging trotzdem fröhlich, doch für die spätere Lehrerin mit einem fahlen Nachgeschmack zu Ende. Am nächsten Morgen stand in den Zeitungen etwas von toten Leuten in Paris und die Erwachsenen machten einen ernsten Eindruck. Am Montag nach dem Fest stellte der kleine und nur selten lustige Klassenclown zu Ilenia fest, dass sie doch auch aus dem Land der Terroristen komme. Ob ihre Familie das gleiche in Chur machen wolle, wie ihre Freunde in Paris, hatte er gefragt. Eine Faust ins Gesicht hatte er kassiert.

In jenen Tagen hatte sich für die angehende Lehrerin einiges verändert. Bis anhin war ihr die Anwesenheit der "Anderen" nie wirklich ins Bewusstsein getreten. In jeder Klasse existierten ein oder zwei Kinder anderer Hautfarbe. Mal mehr und mal weniger integriert. Mal mehr und mal weniger ausgeschlossen. In den Pausen schlossen sich diese meistens zusammen und man nahm kaum voneinander Notiz. Nach jenem Schlag ins Gesicht wurden sich die verspielten Schweizer der ruhigen, ernsten Fremden bewusst. Der Schlag ins Gesicht eines Jungen wurde als Schlag gegen alle wahrgenommen. Der Graben war schon immer da gewesen. In jenen Tagen brach er auf. Die zukünftige Lehrerin war sich der Ungerechtigkeit dieser Sache bewusst, ohne sagen zu können, was von wem falsch gemacht worden wäre. Ilenias Geburtstagskarte starrte sie abends anklagend an, bis sie die Karte vom Bücherregal nahm und in einer Schublade versorgte.

Bald war die Sache mit dem Schlag vergessen und auf dem Pausenplatz kehrte wieder Ruhe ein. In den Nachrichten sprachen sie von Flugzeugen über einem Land namens Syrien und einem Krieg der irgendwie keiner war. Jeder Kämpfte gegen jeden, es ging um Politik und so hatten alle Länder ihre eigenen Ziele. Ja, es war eine seltsame Zeit. Gewalt wurde mit Gewalt beantwortet und im nächsten Frühling rieben sich alle verwundert die Augen. Syrien kam. Dann folgte Afghanistan. Alle kamen. Keine Flüchtlinge, sondern Bevölkerungen. Niemand wollte in diesem Syrien mehr etwas mit dem Land und der Gewalt zu tun haben. Die Bilder im Fernsehen veränderten sich. Vor einem Jahr waren die Bahnhöfe noch voller Flüchtlinge gewesen. Nun waren die Bahnhöfe leer. Sämtliche Zugverbindungen in den osteuropäischen Ländern wurden eingestellt. Österreich beorderte gefährlich aussehende Männer mit Gewehren zur Grenze. Die Eltern sahen immer besorgter in den Fernseher und jeder anders Aussehende war plötzlich einer zu viel. Schüler, welche zuvor niemanden gestört hatten, mussten sich plötzlich rechtfertigen. Für ihre Anwesenheit und für die Anwesenheit aller Anderen. Für den Terrorismus, für den Krieg. Für ihre Religion.

Als der Sommer einkehrte, standen nicht tausende Menschen an den Grenzen von Serbien, Österreich und Ungarn, sondern Millionen. Anscheinend wollten wegen eines sogenannten "Selfies" eines Flüchtlings mit der damaligen Kanzlerin alle nach Deutschland. Der Spruch "We want to go to germany" wurde zum Mantra eines ganzen Volkes. Beinahe eine Million war bereits im Vorjahr dort angekommen. Diese hatten ihren Familien, ja ganzen Dörfern geschrieben, dass sie in Deutschland aufgenommen würden. Das Deutschland zu jener Zeit haderte noch immer mit seiner dunklen Vergangenheit und war sich solcherlei Liebesbekundungen anderer Völker nicht gewohnt. Dies war die kurze Ära der sogenannten "Willkommenskultur". Die Flüchtlinge wurden applaudierend an den Bahnhöfen empfangen und die Deutschen trieben sich gegenseitig mit sozialem Engagement in einen humanitären Rausch. Nach dem Rausch kam der asoziale Kater. Fernsehberichte über Dörfer, in denen mehr Flüchtlinge untergebracht waren als Einheimische wohnten, schürten die Angst vor der Überfremdung und die Mutter der Lehrerin sprach eines Abends von einer Kristallnacht der Flüchtlingsheime.

Die Kanzlerin, welche im Jahr zuvor noch unangefochten auf dem Kanzlerstuhl sass, hatte zu ihrem Volk gesagt: "Wir schaffen das". "Wir schaffen das nicht!", schrie ihr Volk später an Demonstrationen zurück und die erste deutsche Bundeskanzlerin stand vor dem Ende ihrer politischen Karriere. An ihre Stelle trat ein mürrischer grauhaariger Mann und mit ihm änderte sich die Lage der Flüchtlinge.

Es war Sommer gewesen. Der Flüchtlingssommer. So hatte man ihn bereits in jenem Frühling genannt. So würde man ihn auch im Herbst noch nennen. Und so nennt man ihn noch heute, wird der Lehrerin an diesem milden Herbstabend bewusst. Sie steigt die Treppe hinunter und geht zu Fuss über den nun leeren Spielplatz. Die Sonne würde bald untergehen. Einige Minuten früher als früher. Schon als Kind hatte sie immer gerne die Sonne beobachtet, so gut man die Sonne eben beobachten kann. Also mit zusammengekniffenen Augen, wie sie haarscharf an der hohen Krete des Churer Hausberges Brambrüesch entlang schlich und dann am Abend im goldenen Dunst, weit hinten im Surselva versank. Heute versinkt sie etwas früher, hinter den hohen Häusern von Jadid-Chur. Von Neu-Chur.

Der Flüchtlingssommer war für die Zeit ein extrem heisser Sommer gewesen. Das grosse Rheinbad hatte noch nicht existiert, der Fluss war vermutlich noch zu kalt gewesen und so hatten sich die Kinder in den Brunnen ausgelassene Wasserschlachten geliefert. Vor Menschen, welche aus den echten Schlachten geflohen waren, hatten sich die Erwachsenen gefürchtet, auch wenn dies nur aus heimlich belauschten Gesprächen, zu erfahren gewesen ist. In den Zeitungen waren Bilder von riesigen Städten zu sehen, welche anscheinend von den reichen Ländern in den armen Ländern gebaut wurden, irgendwo im Osten für Menschen, welche noch weiter aus dem Osten geflüchtet waren. Einmal hatte sie ihre Eltern gefragt, wie weit der Osten denn reiche. Bis zum nahen Osten war die reichlich verwirrende Antwort gewesen. Die Deutschen finanzierten lieber in jenem Osten riesige Flüchtlingsstädte, als die Menschen selbst aufzunehmen. Der grösste Teil der Flüchtlinge - und das waren sehr viele gewesen - wollten jedoch nach Deutschland, weil viele dort schon Verwandte hatten. Der späteren Lehrerin war dies damals durchaus einleuchtend erschienen und sie hatte immer wieder gefragt, ob ihre Eltern denn nicht auch lieber zu ihr kommen würden, als in den neuen Städten irgendwo im Osten zu bleiben. Irgendwann in diesem Sommer hatte sie ihren ersten fetten Pickel und wie dieser entluden sich die riesigen Flüchtlingsstädte im Osten. Da die Österreicher die Grenze bereits vorsorglich gut abgeriegelt hatten, bahnte sich der Flüchtlingsstrom plötzlich seinen Weg durch Italien bis in die Schweiz. "Sie sind da!", stand an jenem Tag in der Zeitung. Die spätere Lehrerin war ans Fenster gerannt und hatte aufgeregt gefragt: "Wo! Wo? Wo sind sie denn?"

Die Schweiz war ihr wie der Mittelpunkt der Welt erschienen. Eine dunkle Frau mit einem Kind auf dem Arm hatte im Fernsehen die dazumalige weissrote Schweizerfahne geküsst und dazu geweint. Mit Stolz konnte die spätere Lehrerin mitverfolgen, wie ihre Schweiz die vielen Leute verpflegte und sie im eben erst eröffneten, grössten Eisenbahntunnel der Welt, innerhalb von nur drei Stunden nach Deutschland brachte. Warum sie denn nicht hierher nach Chur gebracht wurden, hatte sie traurig gefragt. Sie hätte der Frau gerne ihre eigene Schweizerfahne zum Küssen rausgebracht und noch etwas von ihren Süssigkeiten für das Kind gegeben. Einen seltsamen Blick seitens ihrer Mutter hatte sie kassiert. Deutschland hatte die Grenzen schon am nächsten Tag geschlossen und so begannen sich die alten Fussballfanzüge, welche für den Flüchtlingstransport eingesetzt wurden, im langen Tunnel zu stauen. Alle Züge hatten plötzlich Verspätung und die Schweizer regten sich furchtbar darüber auf. Wichtig aussehende Männer sprachen ernst wirkende Worte. Es war die erste Liveansprache eines Bundesrates, welche die spätere Lehrerin gesehen hatte, und ihr Vater hatte ihr stolz übersetzt, dass nun das Militär im Tessin für Ordnung sorgen würde. Sie hatte auf dem Schulweg nach dem Militär gesucht, doch sie hatte es nicht finden können. Es war in jenen Tagen anscheinend in keinem guten Zustand. Bis das Militär durch den verstopften Tunnel gefahren war, hatte sich die Grenze praktisch aufgelöst. Von überall her liefen die Menschen, durch Wälder, über Berge und auch mitten auf der Strasse. Was dann passierte, hatte sie erst Jahre später richtig verstanden. Plötzlich hatte sie nicht mehr zur Schule gehen müssen. Nachbarn packten eiligst ihren Koffer und fuhren mit vollen Autos hinaus auf die Ringstrasse.

Ihre besten Freundinnen blieben jedoch, wie auch ihre eigene Familie zuhause und so beschimpften sie die Fliehenden als Feiglinge. Im Fernsehen sah man Bilder von Panzern. Bilder, welche ihren Vater zu bis dahin nie gehörten Flüchen hinreissen liessen. Das Militär baute eine seltsam aussehende Mauer. Doch war diese anscheinend am falschen Ort. Jedenfalls rannte sie jeden dieser schulfreien Tage am Morgen ans Fenster, wie sie es beim ersten Schnee zu tun pflegte, um endlich die Flüchtlinge zu sehen. Doch die Strassen waren jeden Morgen verlassener als am Tag zuvor. Bis das heisse Wetter plötzlich weg war. Dafür waren sie da - die Flüchtlinge. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als eine Gruppe von fünf Leuten von der Ringstrasse her kam und sich auf die Bank gegenüber ihres Fensters niederliess. Endlich konnte sie die Fahne nach draussen bringen, doch zögerte sie an der Tür und ging schliesslich zurück zum Fenster. Die Leute erschienen ihr etwas unheimlich.

In jenen Tagen hatten über vier Millionen Menschen die Schweiz betreten. In den Geschichtsbüchern wird heute vom zweiten Reduit gesprochen. Damit das wirtschaftlich wichtige Mittelland nicht ebenso zusammenbrach wie die südlichen Regionen zog die Armee zwischen dem Walensee, dem Vierwaldstättersee bis hin zum Genfersee Stellung auf. Die Flüchtlinge wurden mit erheblichen Mühen in den Alpentälern zurückgehalten und so siedelte sich der grösste Teil in Chur an. Anstatt, dass die EU wie ursprünglich geplant die riesigen Balkanstädte fertig gebaut hatte, musste die Schweiz selbst Hand anlegen. Jadid-Chur entstand. Shamal-Chur entstand. Min baeid-Chur entstand. Die geflohenen Bündner waren schon wenig später wieder in ihre Häuser zurückgekehrt. Es war eine unruhige Zeit. Voller zähneknirschender Leute. Voller populistischer Parteien. Voller Hass. Aber auch voller Solidarität und Anteilnahme. Heute ist diese Zeit Vergangenheit und die Lehrerin ist beim Betreten ihres Hauses froh, dass alles so gekommen ist, wie es gekommen ist. Eine Stadt ohne den Duft nach Minze und Koriander würde ihr heute sehr fade erscheinen. Beim Schliessen der Tür grüsste sie Ilenia mit ihren zwei Kindern. Diese war im letzten Jahr mit einer grossen Mehrheit zur ersten Stadtpräsidentin mit ausländischen Wurzeln gewählt worden.

 

Hallo Neves,

und herzlich willkommen hier bei den Wortkriegern.

Aus Zeitgründen nur ganz kurz:

Die Überschrift und der erste Absatz lassen schon darauf schließen, worum es bei deiner Geschichte geht.
Den Rest habe ich dann überflogen und nur noch den letzten Absatz gelesen, der mir den Inhalt bestätigt hat.

Ich finde, es passiert zu wenig in deiner Geschichte, es wird nur erzählt.
Ich würde mehr aus der Sicht der Figuren schreiben. Ihre Gefühle, Gedanken etc.

Spielt es nun in der Schweiz? Irgendwo hatte ich was von der deutschen Kanzlerin gelesen (hierzu ein Tipp: Nehme ihren Namen raus, verallgemeinere das lieber, Texte mit realen Personen werden hier unter Umständen gelöscht).

Durch die automatischen Kassentüren des Coops betritt
du meinst Ladentüren?

Was ist ein Marronistand? Maronenstand vielleicht?

Die Idee finde ich gut. Da steckt viel Potenzial drin.

Liebe Grüße,
GoMusic

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Neves,

ja, eine schöne Utopie, die du am Ende deines Textes (und auch schon vorher) der Wirklichkeit gegenüberstellst. Die vielen Einzelheiten des gegenwärtigen Geschehens, die du einbaust, vermitteln mir als Leser das Gefühl, dass du in diesen Text sehr viel Arbeit hineingesteckt hast. Auch sprachlich.

Er liest sich gut, macht mir aber gleichzeitig Bauchschmerzen, weil er so viel enthält, was vermutlich nur Utopie bleiben wird. Wie gerne würden wir uns zurücklehnen und träumen, dass dein Chur eine Chance hätte. Dein Bild des friedlichen Nebeneinanders kollidiert aber mit unserer täglichen Erfahrung und eben auch mit dem Gefühl, dass das, was in den nächsten Jahren auf uns zukommen wird, wenn überhaupt, nur mit sehr großen Anstrengungen zu meistern sein wird. Und auch die Veränderungen, die der Strom der Flüchtlinge für uns mit sich bringen wird, stoßen an die Grenzen unserer Vorstellungskraft.
Du entwickelst ein Bild, indem du von heutigen Gegebenheiten ausgehst und sie in eine bestimmte Richtung weiterdenkst. Dabei setzt du dich mMn mit den konkreten Problemen nicht wirklich auseinander, benennst sie zwar zum Teil, streifst sie aber nur kurz, um dann schließlich zu deinem friedlichen Chur-Bild zu gelangen.

Ich habe das Gefühl, dass es zu nichts führt, in die Einzelheiten deines Textes zu gehen und ich nehme ihn deshalb als das, was er ist: eine Utopie. Dabei gehört zur Idee der Utopie als Gedankengebäude, dass sie unseren Gedanken ein Ziel gibt, das wir anstreben können, wohlwissend, dass das Erreichen dieses Ziels schwer bis unmöglich sein wird. Doch die Utopie gibt unseren Gedanken eine Richtung – und das ist ihre Aufgabe. Und so sehe ich auch deinen Text. Und darin besteht für mich sein Wert: Nicht vom ‚Das funktioniert doch nicht’ auszugehen, sondern unsere Gedanken darauf zu richten, wie wir es schaffen könnten.

Wie @GoMusik schon gesagt hat, würde ich konkrete Namen von Personen herausnehmen

Noch ein paar Kleinigkeiten, die ich mir notiert habe:

Seine Stimme weht, je nach Windrichtung, mal laut und mal kaum wahrnehmbar, jedoch allen Churern wohl bekanntK durch die Gassen
Sie sah älter ausK als alle anderen Mädchen ihres Alters

Ilenias Geburtstagskarte starrte sie Abends anklagend an,
abends

Als der Sommer einkehrteK standen nicht tausende Menschen an den Grenzen von Serbien, Österreich und Ungarn, sondern Millionen.
und die erste Deutsche Bundeskanzlerin
deutsche

Einmal hatte sie ihre Eltern gefragt, wie weit der Osten den reiche.
denn

… nicht auch lieber zu ihr kommen würdenK als in den neuen Städten irgendwo im Osten zu bleiben.
Sie hätte der Frau gerne ihre eigene Schweizerfahne zum küssen rausgebracht
zum Küssen

begannen sich die alten Fussbalfanzüge,
Fussballfanzüge

Es war die erste Liveansprache eines Bundesrates, welche die spätere Lehrerin gesehen hatteK und ihr Vater hatte ihr stolz übersetzt,
Bilder, welche ihren Vater zu bis anhin nie gehörten Flüchen hinreissen liessen.
dahin

AnstattK dass die EU wie ursprünglich geplant die riesigen Balkanstädte fertig gebaut hatte, musste die Schweiz selbst Hand anlegen.

Lieber Neves, sei sicher, dein Text wird mich noch einige Zeit beschäftigen.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Hallo GoMusic und Barnhelm

Vielen Dank für eure Rückmeldungen!
Ja, es handelt sich tatsächlich um eine Utopie. Um ein Gedankenspiel. Um eine fiktive Geschichte.
Was wäre wenn... etwas passiert und wie würde man dann aus dieser fiktiven Zukunft auf unsere Zeit zurück blicken?

Mir ist natürlich klar, dass die Flüchtlingskrise nie so enden wird, wie in meiner Geschichte.

Und auch die Veränderungen, die der Strom der Flüchtlinge für uns mit sich bringen wird, stoßen an die Grenzen unserer Vorstellungskraft.

Und trotzdem muss man sich die Frage stellen, was nun passiert. Wenn Mazedonien die Grenze schliesst. Sich zehntausende Menschen in Griechenland stauen. Werden sich dann die Menschen nicht neue Wege suchen? Auch neue Wege würden früher oder später nach Österreich führen. Auch diese Grenze könnte im Sommer geschlossen sein. Das nächste Land auf der Route wäre die Schweiz. Noch klingt es abwegig. Klang das Wort "Zaun" vor einem Jahr nicht noch viel abwegiger?

GoMusic:
Ein Maronistand ist vielleicht ein Kastanienstand? (bin mir nicht sicher)
Automatische Kassentüren sind Ladentüren, welche dir im vorbeigehen gleich die gekauften Waren scannen und von deiner Kreditkarte abziehen. Praktische Sache.

Barnhelm:
Merci für deine Hinweise. Ich habe die Fehler korrigiert. Auch deine Gedanken zum Inhalt habe ich mit grossem Interesse zur Kenntnis genommen.

beste Grüsse
Neves

 

Hallo Neves,
diesen Hinweis von Gomusic hast du vielleicht übersehen:

Spielt es nun in der Schweiz? Irgendwo hatte ich was von der deutschen Kanzlerin gelesen (hierzu ein Tipp: Nehme ihren Namen raus, verallgemeinere das lieber, Texte mit realen Personen werden hier unter Umständen gelöscht).
Wir sind noch am Klären, aber im Zweifelsfall löschen wir lieber, statt Ärger zu bekommen. Daher meine Bitte, verändere doch die Namen oder verallgemeinere, was weiß ich, dir wird schon was einfallen.
Ich möchte sie nicht löschen müssen.

Viele Grüße von Novak

 

Lieber Novak

Ich habe den Namen entfernt und durch Die Kanzlerin ersetzt... Auch wenn ich nicht verstehe, weshalb man die Frau nicht beim Namen nennen darf. Dürfen Geschichten nicht in der Realität spielen? Mit realen Personen und realen Problemen?

Ich hoffe so ist es ok.
Viele Grüsse
Neves

 

Hallo Neves,

So ist es in Ordnung.
Siehe unter Hilfe, Geschichte veröffentlichen, was darf ...
Dort steht, dass reale Personen aus Urheberrechtsgründen hier nicht in Geschichten vorkommen dürfen.

Danke und Gruß,
GoMusic

 

Lieber Neves,

der Titel deiner Geschichte hat mich neugierig gemacht. Den Anfang fand ich sehr verlockend - man merkt, du hast sehr viel recherchiert bzw. dir Mühe gegeben, ein plastisches (fast paradiesiches) Bild deiner muslimisierten Schweizer Stadt zu zeichnen und den Leser einzuführen.
Sehr gelungen!

Allerdings funktioniert die Geschichte für mich als Geschichte nicht. Ich will dir hier das wichtigste nennen: Irgendwann beschreibst du nicht mehr, sondern erzählst nur noch. Und das aus der Sicht dieser Person, die du "die Grundschullehrerin" oder - und das war für mich irgendwann sehr störend - "die zukünftige Grundschullehrerin" nennst. Was spricht dagegen, ihr einen Namen zu geben?
Die Personen in deiner Geschichte sind alle anonym und eigentlich gar keine Menschen, sondern nur Exemplare.

Du hast dir viele Gedanken gemacht und Mühe gegeben, das ist ersichtlich. Allerdings geht's mir das wir GoMusic: das ist alles nur angeschnitten und recht unkritisch. Du beschreibst teils bereits passiertes, teils Dinge, die in einem unrealistischen Idealfall so verlaufen. Die Idee, dass eine fremde Kultur die eigene bereichert, setzt du geradezu zauberhaft um - aber da fehlt der Konflikt. Gut, die einheimischen Leute gehen mal kurz weg, kommen dann aber wieder.
Wenn ich es mal radikal ausdrücken darf: Das ist zu viel Friede, Freude, Eierkuchen; zu viel runtererzählt - du wolltest alles irgendwie ansprechen, so dass nichts richtig dabei herumkommt.

Die geflohenen Bündner waren schon wenig später wieder in ihre Häuser zurückgekehrt. Es war eine unruhige Zeit. Voller zähneknirschender Leute. Voller populistischer Parteien. Voller Hass.

Dieser telegrammartige Stil ist an sich nicht schlecht, aber als Spannungsbogen ist der Inhalt zu wenig.

Auch ein paar andere Dinge:

Von wem hat der Junge denn die Faust ins Gesicht bekommen? Von Ilenia?

Und Ilenia ist Staatspräsidentin, aber lebt in einem Wohnhaus mit einer Grundschullehrerin?

Sprachlich ist der Text sauber. Allerdings bentutz du viele Füllwörter, du wiederholst sie öfter auch im gleichen Satz. (zweimal "wieder" zum Beispiel).

Bald war die Sache mit dem Schlag wieder vergessen und auf dem Pausenplatz kehrte wieder Ruhe ein.

Wobei hier beide "wieder" sogar entbehrlich wären.

Sie hatte ihre ganze Klasse, abzüglich natürlich der Jungs, zu sich nach Hause eingeladen.

Eleganter wäre: "Sie hatte alle Mädchen ihrer Klasse eingeladen".

Oder hier:

Einige Minuten früher als früher. Schon als Kind hatte sie immer gerne die Sonne beobachtet, so gut man die Sonne eben beobachten kann. Also mit zusammengekniffenen Augen, wie sie haarscharf an der hohen Krete des Churer Hausberges Brambrüesch entlang schlich und dann am Abend im goldenen Dunst, weit hinten im Surselva versank. Heute versinkt sie etwas früher, hinter den hohen Häusern von Jadid-Chur.

Na ja, die ISIS-Krise hat und wird sicher vieles verändern, aber dass da die Naturgsetze außer Kraft gesetzt sind und die Sonne andere Zeit deshalb hat?
Außerdem ist die Formulierung "früher als früher" für mich sehr unschön. Und dass sie - aus welchem Grund auch immer, das war für mich nicht verständlich - früher untergehst, sagst du ein paar Sätze später nochmal.

Die Abrundung am Ende, als du wieder auf die Gerüche zurückkommst, war ein eleganter Bogen, der noch einmal dein Plädoyer unterstreicht.
Insgesamt funktioniert die Geschichte für mich leider so nicht - du könntest sie viel plastischer gestalten wenn du sie personenzentrierter schreibst. Weniger "Rückblick" und Erklärungen. Dass da viel passiert ist zwischen der Kindheit und der Gegenwart der Protagonistin kann man darstellen, ohne so detailliert vorzugehen. Weniger ist oft mehr.

Viele Grüße
Tell

 

Lieber Tell

uii, deine Rückmeldung ging mir durch die Lappen. Entschuldige!
Danke für dein Kompliment zu Beginn deines Kommentares. Tatsächlich war es mir wichtig, ein möglichst farbiges und lebhaftes Bild dieser "zukünftigen" Welt zu zeichnen.

Und das aus der Sicht dieser Person, die du "die Grundschullehrerin" oder - und das war für mich irgendwann sehr störend - "die zukünftige Grundschullehrerin" nennst. Was spricht dagegen, ihr einen Namen zu geben?

hmm, dies ist ein guter Einwand. Dies werde ich zukünftig ändern. (Auch wenn mir nur selten gute Namen einfallen)

Wenn ich es mal radikal ausdrücken darf: Das ist zu viel Friede, Freude, Eierkuchen; zu viel runtererzählt - du wolltest alles irgendwie ansprechen, so dass nichts richtig dabei herumkommt.

Ja, es ist sicher ein optimistisches Bild. Sicherlich gäbe es viele Konflikte, welche ich nicht angeschnitten habe. Es ging mir jedoch weniger um diese Probleme, als viel mehr um die Zeit nach den Problemen. Die Zeit heilt jedes gesellschaftliche Problem (wobei jedem selbst überlassen ist, inwiefern ein grosser Teil muslimischer Menschen als Problem zu betrachten ist) und mich hat interessiert, wie eine Stadt nach dieser Veränderung aussehen würde. Und auch, wie man dann auf unsere Zeit zurückblicken würde.

Na ja, die ISIS-Krise hat und wird sicher vieles verändern, aber dass da die Naturgsetze außer Kraft gesetzt sind und die Sonne andere Zeit deshalb hat?

Die Sonne geht später unter, weil sie Abends von neuen Hochhäusern verdeckt würde. Nicht weil sich die Erdachse (oder so) verschoben hätte. Dies habe ich jedoch zu wenig präzise formuliert, sorry.

du könntest sie viel plastischer gestalten wenn du sie personenzentrierter schreibst.

Da gebe ich dir vollkommen Recht und ich werde auch das nächste Mal versuchen, die Personen mehr ins Zentrum zu rücken. Auch wenn mir dies etwas schwerer fallen wird, als die Beschreibung einer simplen, der fiktiven Tatsache.

Liebe Grüsse, Neves

 

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