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Eine Nacht am Plage de Kava

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28.12.2004
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Eine Nacht am Plage de Kava

Julias blondes Haar flatterte im Fahrtwind. Auf der Ladefläche eines Pickups raste sie zusammen mit ihrem Freund über die verwaisten Strassen von Maré. Palmen und Pinien am Strassenrand. Manchmal war weisser Sand zwischen den Büschen zu erkennen. Weiter draussen ein paar Felsinseln und Vorsprünge des Korallenriffs. Schliesslich der Pazifik in seiner endlosen Weite.
Julia strahlte. Sie atmete die frische Luft tief ein, spürte die Sonne im Gesicht und konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich hier war, auf Maré, am Ende der Welt. Sie liess sich von Dario küssen und genoss es.
„C'est très bien pour plonger là-bas“, erklärte Robert, der dritte Autostopper an Bord. Er zeigte auf ein paar Felsen, die weit ins Meer ragten, und nickte bekräftigend. Er war ein Einheimischer, ein echter Melanesier, und Julia hörte ihm interessiert zu. „Hat es viele Fische hier?“, wollte sie wissen.
„Ah, ja, sehr viele, überall! Das ist ein einziges Riff. Es gibt auch Haie, und draussen, da sind manchmal Wale.“
Als sich die beiden Schweizer wieder einmal in einer Kurve festklammern mussten, um nicht vom Pickup geschleudert zu werden, entschuldigte sich Robert: „Das ist ein Cousin meines Vaters, der da fährt. Er ist ziemlich verrückt. Il est fou!“ Wie als Bestätigung drückte der Mann das Gaspedal voll durch und beschleunigte über eine kleine Steigung. Julia lachte vergnügt. Sie gab Dario einen Kuss auf die Wange. „Ist das nicht toll?“, flüsterte sie ihm zu. Er schmunzelte.
„Ihr wollt nach Roh, ja?“, fragte Robert.
„Genau. Zu dem Zeltplatz dort.“
„Ja, Roh ist schön“, bestätigte der Junge, fügte allerdings gleich hinzu: „Aber ich kenne einen besseren Ort. Eine kleine Bucht in der Nähe, da seid ihr ganz alleine!“
„Echt?“
„Ja, und der Strand ist viel besser! Es ist der beste Strand überhaupt, der Plage de Kava. Ich kann euch hinbringen, wenn ihr wollt. Ihr könnt dort übernachten. Es hat auch eine Wiese für euer Zelt!“
Julia warf einen Blick zu Dario hinüber, der mit den Schultern zuckte. Sie hatte eine gewisse Erfahrung im Interpretieren der verschiedenen Schulterzuckvarianten ihres Freundes, und diese bedeutete: „Wieso nicht?“
Also nickte sie Robert zu und rief gegen den Fahrtwind: „Okay, das wäre super!“

Der Weg zu Roberts Plage de Kava erwies sich als ziemlich schwierig. Nach ein paar Metern unter Palmen und Pinien erreichten sie eine schroffe Felslandschaft, die daran erinnerte, dass ganz Maré als Korallenriff entstanden war. Robert kletterte mit beeindruckender Geschicklichkeit voraus. Er hatte nicht mal Schuhe an auf dem kantigen Untergrund. Zwischendurch wartete er auf die Schweizer und half ihnen an schwierigen Stellen.
Bei dieser Gelegenheit stellte er jeweils Fragen über Europa, ihre Reise, wo sie Französisch gelernt hatten und wie sie überhaupt nach Maré gelangt waren.
„Ich habe ein Austauschsemester in Sydney gemacht“, erzählte Julia. „Dario kam dann zu Besuch und wir sind eine Weile durch Australien gereist. Aber wir wollten halt noch was Spezielles machen, etwas wirklich Verrücktes. Also, da war so ein Mädchen an meinem College, das immer von la Nouvelle Calédonie erzählte. Sie hat Verwandte hier oder so und war schon mal auf Maré. Sie sagte, dass hier keine Touristen sind und dass alle Leute supernett seien. Da dachte ich halt, das klingt doch traumhaft.“
„Und wie gefällt es euch bis jetzt?“
„Na ja, wir sind ja erst seit drei Stunden hier, aber ...“ Sie fasste in Gedanken zusammen: Mit dem Propellerflugzeug von Nouméa nach Maré. Dort Gepäck abholen aus einer Scheune, gedrängt zwischen Einheimischen, Hühnern und Eseln. Dann die vergebliche Suche nach öffentlichen Verkehrsmitteln oder Taxis, gefolgt von der ersten Fahrt per Autostopp in die völlig falsche Richtung. Dann eine liebe junge Frau, die sie gleich wieder zum Ausgangspunkt zurück brachte und ihnen ausserdem half, eine Weiterfahrtgelegenheit zu finden. Verwaiste Strassen und Strände. Schliesslich Robert. Sein Strahlen. Und natürlich der Plage de Kava. Julia beendete den Satz mit einem Lächeln: „Aber – aber es ist einfach toll.“
Einmal mussten die drei durch knietiefes Wasser waten und daraufhin waren sie wie gefangen in einem Labyrinth aus versteinerten Korallen und Muscheln. Der Untergrund war sandig, manchmal noch feucht. Bei Flut stehe hier alles unter Wasser, erklärte Robert.
„Bist du oft hier?“
„Ja, sehr.“ Er setzte ein Grinsen auf. „Mit jedem Mädchen von Maré war ich schon mal hier.“
„Was, wie jetzt?“ fragte Julia skeptisch. Robert lachte.
„Ich mache Witze. Nur mit einem einzigen.“
„Deiner Freundin?“
„Oui. Aber sie ist jetzt in Frankreich. Sie hat dort Arbeit.“
„Seht ihr euch oft?“
„Nie mehr, seit einem Jahr.“
„Das tut mir Leid.“
„Ah, c'est normal! Ich könnte ja zu ihr, aber ich bin zu faul um für die Flugtickets zu arbeiten.“
Ein paar Kletterübungen später drehte sich Robert wieder nach dem Mädchen um und sagte: „Sie ist eine Weisse, übrigens. Das einzige weisse Mädchen auf der Insel. Sie heisst Caroline.“
„Ein schöner Name.“
„Oui“, nickte der Junge. „Aber sie selber ist nicht schön“, fügte er hinzu. „Sie hat komische Augen und eine grosse Nase. Ich mag sie, aber sie ist bei weitem nicht so hübsch wie du.“
Julia lächelte geschmeichelt und Robert fragte gleich weiter: „Ist das deine natürliche Haarfarbe?
„Oui.“
„C'est très jolie“, sagte er. „Tu es très jolie.“
Julia musste laut lachen. „Merci!“ Was für ein Franzose! An Dario gewandt sagte sie: „Siehst du, er hat es auch gemerkt.“

Als das Zelt aufgestellt war, setzte sich Julia für eine Weile in den Sand, schaute über die kleine Bucht des Plage de Kava hinweg, und war einfach nur glücklich. Das Wasser war fast durchsichtig, so klar, und unter der Oberfläche glänzten Fische, Seesterne, Riesenmuscheln und Korallen in allen Farben. Kein Mensch weit und breit. Kein Natelempfang, natürlich. Nur das Rauschen der Wellen, die weit draussen gegens Riff klatschten.
Der meditative Klang hätte Julia fast schon eindösen lassen, als sie Darios Hand auf ihrer Schulter spürte. Sie schaute hoch zu ihm und liess sich einen Kuss geben. „Hey, Kleine“, sagte er, „willst du schwimmen gehen?“
„Und ob ich das will.“ Sie verschwand hinter ein paar Felsen um sich ihr Bikini anzuziehen. Als sie zurück an den Strand kam, klebte Darios Blick förmlich an ihrem Körper. Sie genoss diese Momente und auch, wie der Junge sie umarmte und küsste. „Eine kleine Meerjungfrau bist du“, flüsterte er ihr ins Ohr.
„Ne, definitiv keine Jungfrau. Das müsstest du wissen!“, gab sie zurück und lachte. „Hey, wo ist eigentlich Robert?“
„Je ne sais pas. Er wollte etwas suchen, aber ich versteh eh fast nichts wenn er französisch spricht.“
„Du gibst dir auch keine Mühe. - Vielleicht sollten wir ihn fragen, ob er mit uns ins Wasser möchte. Ich meine, er ist nett, oder?“
Darios berühmtes Schulterzucken. „Wenn du meinst.“
Also machte Julia sich auf die Suche. Es dauerte nicht lange, bis sie den Jungen entdeckte. Nur ein paar Meter abseits des Strands kauerte er neben einer Pflanze und scharrte im Boden rum. „Was machst denn du da?“, fragte Julia. Er schaute sich um zu ihr und musste erst mal schlucken beim Anblick von Julias Körper. Das Mädchen merkte es zufrieden, sie wollte aber nicht eingebildet klingen und wiederholte nur unschuldig die Frage.
„Kava“, war schliesslich alles, was Robert antwortete.
„Wie, Kava?“
„Das hier“ - er deutete auf die Pflanze - „das ist Kava. Ich habe sie hier angepflanzt. Darum nenne ich den Strand Plage de Kava.“
Julia studierte das kniehohe Gewächs. Es sah nicht sonderlich interessant aus, Unkraut, im Wesentlichen.
„Damit macht man ein Getränk“, erklärte Robert. „Sehr traditionell, sehr gut.“
„Ich habe noch nie davon gehört“, gab das Mädchen zu.
„Willst du probieren?“
„Ja, klar.“
„Wenn du willst, mache ich dir heute Abend Kava, ja?“
„Sicher, super.“ Sie nickte und freute sich auf ein weiteres kleines Abenteuer. „Aber zuerst wollen wir schwimmen gehen. Kommst du auch?“
„Nager? Bien sûr!“

Julia sprintete als erste los. In riesigen Schritten über den Sand hinweg, bis ihre Füsse kaltes Salzwasser aufspritzten. Sie sprang. Ein paar Züge, sie tauchte unter und liess sich treiben, an Fischschwärmen vorbei und Kokosnüssen, die ein Sturm vor ein paar Tagen ins Wasser geworfen hatte.
Zurück am Strand fragte Robert ihren Freund: „Tu la connais depuis longetemps?“
„Deux ans. Sie ist ziemlich verrückt, nicht?“
Robert musste lachen. „Ja.“ Dann rannten auch die beiden Jungs los und folgten Julia ins Nass.

„Kava ist sehr sehr wichtig“, erklärte Robert, als die drei später am Strand sassen. Die Sonne stand nun schon tief und verfärbte den Himmel rötlich. „Kava kann Frieden schliessen zwischen verfeindeten Tribus. Kava kann Heiraten beschliessen und Landverträge. Kava ist das Geheimnis unserer Kultur. Kava ist der Pazifik.“ Er sagte das alles sehr ernst, aber Julia war dennoch skeptisch. Gerade appetitlich sah dieses grüne Zeugs nicht aus.
Robert hatte ihr bereits erklärt, wie man Kava zubereitete: Nur eine Frau konnte das machen – dazu musste sie die kleinen Blätter und Rindenstücke im Mund zerkauen und dann in einen Becher spucken. Widerwillig schob sich Julia das Gemüse in den Mund und begann es zu zerbeissen. Nach ein paar Sekunden würgte es sie bereits, so bitter und seifig war der Geschmack. Wenigstens lächelte Robert ihr aufmunternd zu. „Caroline hat es auch geschafft“, erzählte er. „Es ist eine grosse Ehre für jede Frau auf Maré, Kava zu kauen.“
Als Julia schliesslich ausspuckte, fühlte es sich an wie Erbrechen. Gleichzeitig aber fiel ihr etwas Merkwürdiges auf. „Meine Zunge ist taub, irgendwie.“
Robert lachte. „Oui, ça c'est Kava!“ Er verrührte den Brei aus Speichel und zerkauten Blättern und mischte es ins Wasser, das sie zuvor in einem Topf aufgekocht hatten.
Dario suchte derweil die Weinflasche aus seinem Rucksack. Am Morgen hatten sie diese am Flughafen von Nouméa gekauft, um heute die erste Nacht auf Maré zu feiern. Er reichte sie seiner Freundin, die mit einem kräftigen Schluck den Kava-Geschmack runter spülte. Sie gab die Flasche Robert weiter, der es ihr nachmachte.
„Also, aber jetzt sag mal“, begann Julia in einem Anfall unhöflicher Neugierde, „seit diese Caroline weg ist, hast du da nie ein anderes Mädchen hierher gebracht? Ich meine, der Ort hier, der ist so schön, da verliebt sich doch jede in dich.“
„Jamais“, antwortete er überzeugt.
„Stehst du denn nur auf weisse Mädchen oder so?“
„Ah, non, non!“, widersprach Robert. „Mir gefallen die Mädchen von Maré sehr gut, très bien. Mais les gens ici sont très catholique. Wenn du mit einem Mädchen aus einem Tribu zusammen sein willst, musst du heiraten.“
„Und du bist denn nicht katholisch, dass du mit dieser Caroline zusammen warst?“
Die Frage schien Robert unangenehm zu sein. Er brauchte ein paar Sekunden, um eine gute Antwort zu finden. „Ich glaube an Gott, aber – nicht mehr so wie früher, bevor ich Caroline traf.“ Er dachte einen Augenblick nach und fuhr dann fort: „Mein Vater ist manchmal sehr wütend auf mich deswegen. Ich gehe nie in die Kirche. Das ist mir zu sinnlos. Ich schaue lieber Filme und so, aus Amerika. Ich meine, auch Sexfilme, natürlich! Das macht Papa wahnsinnig.“ Robert lachte. „Aber weisst du, Maré ist nicht gerade gross, verglichen mit dem Rest der Welt. Und wenn ich etwas verstehen will übers Leben in der Welt, über Kultur und Frauen und so, dann muss ich Filme sehen.“

Das Rauschen der Brandung, das Knistern des Lagerfeuers, der Wind, der durch die Palmblätter zog. Die Musik von Maré war so ruhig und schön, dass keiner der drei sie stören wollte. Stumm schauten sie zu, wie die Sonne im Meer versank und an ihrer Stelle erste Sterne am Himmel erschienen. Julia spürte den kühlen Sand zwischen ihren Zehen. Eine Kokosnuss fiel irgendwo zu Boden, ein dumpfer Aufprall. Mehr als tausend Kilometer Ozean westlich lag Australien mit seinen Touristenmeilen, den Hotelblocks von Gold Coast und den Hochhäusern Sydneys. Im Osten die Ghettos von Lima. Noch weiter weg, sechs oder sieben Flugstunden. Und dazwischen, im Meer der Stille, am Plage de Kava, war alles ruhig und einfach und schön.
Julia konnte nicht anders. Sie musste einfach jemanden küssen in so einem Moment und so kroch sie zu Dario hinüber und kuschelte sich an den Jungen. Er streichelte sie, sanft, so wie er immer zu ihr war. Sie liebte ihn dafür. Nichts an Dario war hektisch oder grob. Er passte wundervoll an diesen Ort. Sie küsste ihn und Robert schaute zu.

Das Feuer zauberte magische, sich bewegende Schatten auf Julias Oberkörper. Es war ein faszinierender Anblick, dem sich weder Dario noch Robert entziehen konnte. Das Mädchen merkte es und machte sich einen Spass daraus, immer wieder ihr Bikinioberteil zurecht zu rücken. Zwischendurch rührte sie die Teigwaren um, die die drei fürs Abendessen auf dem Gaskocher wärmten.
Noch vor dem Essen wollte Robert aber die Kava ausprobieren. „Danach schmeckt alles viel besser“, versprach er.
„Weil die Kava so eklig ist, wahrscheinlich.“
Robert grinste, aber er liess sich nicht von der Idee abbringen. Selber kostete er vor und nickte zufrieden. „Gut“, urteilte er, und reichte Julia einen Becher. Sie gab ihn gleich Dario weiter. „Du zuerst!“
„Wieso?“
„Ich hab das Zeug gekaut“, erklärte sie auf Deutsch. „Das war so übel, ich trink es nur wenn du zuerst probierst.“
Widerwillig begutachtete Dario die graugrüne Brühe. „Na los, du Feigling“, drängte Julia.
„Okay.“ In einem Zug leerte er die Kava den Hals hinunter. Er hustete und verzog das Gesicht zu einer angeekelten Miene.
„Wie ist es?“
„Ähm ...“ Er musste einen Schluck Wein trinken, bevor er sein abschliessendes Urteil fällen konnte: „Seltsam.“
„Seltsam? Wie, seltsam?“
„Eklig seltsam. So etwa wie ... Scharfe Flüssigseife. Und die Zunge wird ganz taub.“
„Ja, das ist mir beim Kauen auch passiert. Glaubst du dass Alkohol drin ist?“
„Eher nicht. Vielleicht ist es so eine Art ekliger Tee. Aber das mit der Zunge ist schon komisch.“
Robert, der offenbar verstanden hatte, dass die beiden über taube Zungen sprachen, erklärte: „Das ist normal, für eine halbe Minute oder so fühlt sich die Zunge komisch an.“
„Und sonst? Ist es wie Alkohol?“, wollte Julia wissen.
„Nein, nein. Es macht nur glücklich. Und man schläft gut. Kein Kater“
Also Tee, folgerte Julia, und liess sich überreden. Sie trank einen Becher. Und nach dem Essen noch einen, gefolgt von Wein. Und noch einen, weil Robert auf die Schweiz anstossen wollte. Das Gefühl auf der Zunge war schon interessant, fand Julia. Das Reden fiel ihr schwer, alles klang witzig oder blöd und die anderen lachten.

Auf die Taubheit der Zunge folgte ein komisches Kribbeln in den Füssen. Julia betastete ihre Zehen, fand jedoch keine Insekten, nur ein paar Sandkörner. Sie hörte weiter den Jungs zu. Robert erzählte von Caroline und wie er sie kennen gelernt hatte. Sie war die Tochter eines Lehrers, der hier unterrichtete. Mit fünfzehn war sie aus Paris nach Maré gekommen. „Sie weiss unglaublich viel“, berichtete der Melanesier. „Ich hab sie vom ersten Tag an bewundert. Sie erzählte mir vom Louvre und den vielen Menschen in der Stadt. Sie hatte viele DVDs und wir haben immer zusammen Filme geschaut. Als ich einmal bei ihr war, hat sie mich einfach geküsst.“ Er lachte. „Das war komisch. Ich bin total erschrocken. Ich bin ja nicht in Europa aufgewachsen. Küssen ist hier etwas sehr Intimes, versteht ihr? Caroline hat das früher schon oft getan, mit vielen Jungs, ich noch nie. Aber ich meine, es war sehr schön. Wir haben uns später oft hier am Strand getroffen und zusammen geschlafen.“ Er warf einen verträumten Blick übers Meer und trank wieder Kava.
In der Zwischenzeit breitete sich das Kribbeln in Julias Fuss weiter aus, über die Knöchel, die Unterschenkel hoch zu den Knien. Auch in den Fingern spürte sie es. Es war irritierend und zugleich angenehm. Sie streckte sich, hockte anders hin, aber das Gefühl blieb.
Dario bemerkte, dass seine Freundin nicht weiter zuhörte, und er fragte: „Ist was?“
„Nein, nein.“ Sie schüttelte den Kopf. Nach kurzem Überlegen fragte sie auf Deutsch: „Fühlst du irgendwas von dieser Kava?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ein bisschen benebelt, vielleicht, aber das kann auch der Wein sein.“
„Ja. Wahrscheinlich.“ Trotzdem stand sie auf. Sie schritt die paar Meter über den Strand, bis sie das Salzwasser an ihren Knöcheln spürte. Ein wohliges Schaudern durchströmte sie, so angenehm war das Aufeinandertreffen von kaltem Ozean und heisser Haut. Eine Weile lang verfolgte sie das Glitzern der Sterne im Wasser, bis sie Robert neben sich bemerkte.
„Es ist sehr schön hier, nicht?“, fragte er.
„Oui“, murmelte Julia. Sie lächelte. „La plage de Kava.“
Die beiden schauten sich an für einen Moment, dann wieder hinaus aufs Wasser.
„C'est une plage pour les amoureux, je pense“, fand Julia nach einer Weile und sie fragte Robert: „Vermisst du Caroline?“
„Nein.“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Wenn ich alleine hier bin, denke ich manchmal an sie. Aber jetzt bist ja du bei mir. Und du bist viel schöner als Caroline.“
Darüber musste Julia lachen. Sie tätschelte dem kleinen Charmeur auf den Bauch. „Komm“, sagte sie, „ich will nochmals von dieser Kava trinken.“
„Es schmeckt dir jetzt also?“
„Haha, nein! Aber es – es ist irgendwie interessant.“
„Ja.“ Robert nickte und führte das Mädchen an der Hand zurück zur Feuerstelle. Dort sahen sie Dario, der zur Seite gekippt war. Er schnarchte friedlich vor sich hin.
Julia kicherte. „Der Arme! War ein langer Tag!“

„Willst du einmal weg von hier?“, fragte Julia. Sie musste sich konzentrieren, um die Worte deutlich auszusprechen.
„Oui, je pense.“
„Wohin? Paris?“
„Es kommt nicht so drauf an.“
„Du kannst dir die Mühe sparen“, murmelte Julia. „Es ist nirgends so schön wie hier.“ Sie nippte am Wein, aber die Flasche war längst leer. Es wurde kalt, langsam. Die Nacht war klar, der Himmel voller Sterne.
„Wahrscheinlich hast du recht. Aber ich will auch eine Frau suchen, in Europa“, sagte er. „Hier auf Maré bin ich irgendwie – irgendwie zu anders, verstehst du?“
Julia verstand nicht, aber sie fand: „Du bist ein lieber Junge. Du wirst sicher eine schöne Frau finden.“
Robert lächelte. „Danke.“ Er legte ein Stück Kokosnussschale ins Feuer und hockte neben das Mädchen. Sie lehnte sich an ihn.
„Bist du müde?“, fragte er und legte einen Arm um ihr Taille. Vorsichtig streichelte er das Mädchen.
„Es geht.“ Sie schaute hoch in seine Augen. „Ist noch Kava übrig?“
„Ein bisschen.“ Er reichte ihr den Topf und sie trank die Überreste der Brühe. Das taube Gefühl wieder. Das Kribbeln. Sie küsste Roberts Schulter und merkte es erst, als sie schon wieder ins Feuer starrte. „Du hast sehr weiche Lippen“, hörte sie ihn sagen.
„Je sais.“ Sie spürte, wie er ihr Haar küsste. Nach einer Weile murmelte sie: „Denkst du jetzt an Caroline?“
„Nur an dich.“
Julia schaute ins Feuer. Da war Hitze, tief in ihr. Sie spürte ihr Herz pochen unter den Rippen und Blut durch die Adern rauschen. Sie richtete sich etwas auf und ihr Blick traf sich erneut mit dem des Jungen. Leise fragte sie: „Willst du mich küssen?“
Mit leicht geöffnetem Mund wartete das Mädchen auf Robert. Er zögerte einen Moment, aber er konnte sich nicht lange beherrschen. Der Junge packte Julias Kopf und presste ihre Lippen auf die seinen. Sofort erfüllte das Kribbeln den ganzen Körper des Mädchens. Sie liess sich mitreissen, stöhnte leise und versank in seiner Umarmung. Mit den Händen tastete sie den Jungen ab, seinen Nacken, die Wirbelsäule, die Muskeln unter seiner dunklen Haut. Ihre Hände fuhren weiter nach unten zur Badehose, obwohl sie das gar nicht wollte. Aber sie hatte keine Kontrolle mehr darüber. Es war ihr auch egal. „Kava“, flüsterte sie vor sich hin und lächelte genussvoll. Das Wort alleine steigerte ihre Erregung ins Unermessliche.

Der hektische Atem des Mädchens weckte schliesslich Dario auf. Verwirrung. Alles schwankte um ihn, wie auf einem Schiff im Sturm. Da war das Feuer, dessen Flammen nach dem Himmel griffen. Eine Weile lang starrte Dario in die Glut und versuchte sich zu erinnern, wo er war.
Sein Blick wanderte ab. Er konnte sich nicht konzentrieren. Er sah blasse Haut. Ein weisser Fuss, angewinkelt und verkrampft. Ein schmaler, nackter Körper und darum geschlungen, wie ein Schatten, war Robert.
Dario blinzelte. Er verstand nicht so recht, was vor sich ging. Er hörte nur seine Freundin keuchen, roch Schweiss und Kava und alles bewegte sich. Ihr Haar floss um das Gesicht, fiel in Roberts Augen und sie küsste ihn.
Eine Weile lang sah Dario zu. Es war ein verzaubernder Anblick. Im Feuerschein, im Sand des Plage de Kava. Ganz besonders faszinierte ihn dieser verkrampfte Fuss, der zu Julias Körper gehörte und der sich mit jeder Bewegung weiter in den Sand grub. Dario kroch die paar Schritte, bis er den Fuss berühren konnte. Julia merkte es gar nicht, so vertieft war sie. Er fuhr mit den Händen weiter nach oben, ihren Waden entlang, bis er realisierte, dass Robert ihn die ganze Zeit ansah.
Der Melanesier nickte freundlich und endlich bemerkte auch das Mädchen Dario. Sie hielt für einen Moment inne, wandte sich ihm zu, und lächelte glücklich.

Als Julia am nächsten Morgen aufwachte, verschleierten Wolken den Himmel. Eine Weile lang schaute sie nur das graue Gewühl an, ohne sich gross darum zu kümmern, wo sie war und weshalb sie im Sand lag, nur von einem Badetuch bedeckt. Es war weich und angenehm kühl. Die Brandung rauschte. Ein paar Vögel flatterten herum. Es gab keinen Grund, sich Gedanken zu machen.
Erst als sie Dario bemerkte, der mit verschränkten Armen am Wasser stand, kehrten erste Erinnerungsfetzen an die vergangene Nacht zurück. Sie hörte sich selber „Kava“ flüstern. Sie sah nackte Haut und Flammen und einen Schatten unter sich, der ihren Bewegungen folgte. Mit den Bildern schwand das Gefühl der Ruhe.
Unter dem Badetuch war sie noch immer nackt, bemerkte Julia. Ihr Körper war verklebt mit salzigem Schweiss. Sie schaute sich um, aber fand kein Bikini, nur Robert, der ein paar Meter weiter im Sand schlummerte. Sie starrte den Jungen an. Scheisse, dachte sie, und ihr wurde übel. Kava. Das Wort schmerzte jetzt, tief in ihr.
Mit dem Badetuch um sich gewickelt huschte sie ins Zelt und zog Hosen und ein Leibchen an. Ein Frösteln als sie wieder ans Tageslicht trat. Ihr Körper fühlte sich fremd an. Sie blieb stehen und schaute zu Dario, der immer weiter ins Meer hinein watete.
Im Rücken des Mädchens gähnte Robert. „Salut“, stöhnte er. „Gut geschlafen?“ Seine Stimme klang genauso freundlich wie letzte Nacht, aber Julia wich dem Blick des Jungen aus. Sie flüsterte bloss ein „Bonjour“ und rannte fast zu Dario ins Wasser. Bei ihm angekommen wollte sie etwas Lautes, Dramatisches sagen, schaffte aber nur: „Gehen wir nach Roh, heute?“ Es klang mehr wie Betteln.
Dario zögerte einen Moment. Sein Blick wanderte über den Körper des Mädchens. Er betrachtete ihre Augen, die noch etwas klein waren, so früh am Morgen, und das blonde Haar, das ihr ungekämmt über die Schultern fiel. Da war eine kleine Schramme an ihrer Wange. Ein paar Spuren von Erde und Sand auf ihren Gliedern. Sie war kleiner als sonst. „Bitte“, flüsterte sie nach einer Weile und Dario zuckte mit den Schultern. „Okay.“
Auf dem Rückweg vom Plage de Kava schwiegen sie beide den melanesischen Jungen an und liessen sich auch nicht helfen, wenn sie über Felsen klettern mussten. Als sie die Strasse erreichten, schaute der Junge niedergeschlagen zu Julia. Er sagte: „Ihr wart sehr gute Freunde.“
„Okay“, erwiderte Dario. „Also, au revoir.“
Robert schritt ein paar Meter die Strasse hoch, aber er kehrte sich nochmals um. „Es gibt kein Aids auf Maré. Ich bin ganz gesund. Keine Angst.“
„Gut, also, tschüss.“
Er versuchte es nochmals: „Ich dachte, ihr ...“ Aber an der Stelle gab er auch schon auf. Er wandte sich ab und wanderte die Strasse hoch.
Die zwei Schweizer schwiegen. Julia war speiübel. Sie wollte ins Flugzeug. Sie wollte heim. Sie wollte duschen und den ganzen Dreck abspülen. Für eine Sekunde schauten sich die beiden an. Julia trank etwas Wasser. Als Dario sie streicheln wollte, wich sie zurück und zischte: „Bitte, fass mich nicht an.“

 

Hallo Sorontur,

ich finde die Geschichte gut aufgebaut. Jedenfalls habe ich schon während Robert von Caroline erzählte immer das Gefühl gehabt, ihr Leichnam läge da irgendwo unter dem Sand.
Okay, so kam es nicht und woraus ich dieses Gefühl entwickelte, kann ich nicht sagen, aber irgendwie schwang unheilvoll mit, dass Robert nicht ganz so lieb ist. Wahrscheinlich hat die beschriebene Wirkung seiner Droge dazu beigetragen.
Die Atmosphäre hat schön in meine Urlaubsträume gepasst, mich also in der richtigen Stimmung getroffen.
Die Geschichte hat mir gefallen.

Lieben Gruß
sim

 

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