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Emma
Etwas fehlte und es bohrte sich in ihr Herz wie heißer, gezackter Stahl. Sie wusste nicht, wieso das Vermisste so schmerzhaft war. Es war wie ein Echo längst vergangener Zeit, eine Erinnerung, die nicht da war – aber da sein musste. Zumindest dachte das Emma so. Sie saß in ihrer neuen Wohnung, mitten auf den Boden und lauschte dem zarten Echo, das leise aus dem geöffneten Fenster entschwand. Zu gern wäre Emma zur Katze geworden, auf das Fensterbrett gesprungen und dem Echo nachgejagt, bis es sein Ziel fand. Ein Ziel, so fern ab von hier, hier – was sich Realität nannte. Emma empfand die Realität für etwas Unwirkliches, gerade weil es so schmerzte. Noch einmal wühlte sie in der Kiste vor ihr herum. Sie fand es nicht, es war weg. So wenig wertvoll es auch schien, war es jetzt wie ein ganzes Sein, eine Existenz, die sich in Luft aufzulösen drohte. Da gab es nur die Erinnerung, die nicht da war – aber musste. Eine Illusion, an die sich Emma klammerte, weil sie sich wünschte, dass sie zur Wirklichkeit wird. Vielleicht war die Illusion viel mehr real, als alles andere. Tränen der Seele fielen durch ihr Herz und hinterließen Spuren wie das Salz im Meer.
Die wievielte Wohnung war das nun schon? Emma wusste es nicht und sie wusste auch nicht mehr, was auf dem Bild zu sehen war. Sie hatte es nie gewusst und würde es nie erfahren. Die Aufnahme war schwarz, verzerrt und verschwommen. Ein dummes wertloses Bild, was sich überall einschlich und störte, bis es verloren ging und dieses Echo hinterließ und die Trauer in ihrem Herzen. Der Wind wehte durch das Fenster und wirbelte Staub auf, der in der schwachen Abendsonne golden glänze.
»Wie schön, wie wunderschön«, dachte Emma und umklammerte das Bild, das nicht mehr da war, in ihren Armen. Wie es wohl war, ein Baby so in den Armen zu halten? Klein, lebendig und unendlich zart. So schön warm … Emma vermisste die Wärme längst vergangener Tage, die der Wind verweht hatte. Wie lange konnte eine Erinnerung zurück liegen, die nicht da war? Emma konnte es nicht sagen. Sie wusste nicht, wie alt sie war. Da war ihr schwarzes Haar, das nicht graute und ihr helles Gesicht, ohne Falten, ohne Narben, und Zeichnungen, die Geschichten erzählen konnten. Sie war makellos schön, aus Porzellan, von Elfen erschaffen. So war es jedenfalls in ihrer Vorstellung. Sie war eine Tänzerin, die von Ort zu Ort tanzte, ohne den Ursprung zu kennen, oder eine Heimat. Die Vögel die draußen sangen, waren wie tausend Handorgeln. Auch sie hatte jemand erschaffen, mit Liebe und Zärtlichkeit. Vielleicht genau mit der Liebe und Zärtlichkeit aus längst vergangener Zeit. Emma kannte Leute. Ihre Nachbarn und Menschen auf der Straße, die sie Freunde nannte. Manche arbeiteten und brachten Mexikanisches am Abend mit, das sie in Emmas Wohnung aßen. Emma musste nicht arbeiten, keiner verlange das von ihr. Das Geld war jeden Monat auf ihrem Konto. Selbst dieses Geld hatte einen Ursprung, wenn auch unbekannt. Ob die Elfen in Emmas Gedanken es erschufen? Die Sonne versank in der Melodie der lebendigen Handorgeln, mit Flügeln und Federn. Emmas Kopf fühlte sich leer und doch voll an. Heute würde keiner mehr vorbeikommen, um mit mir Mexikanisches zu essen. Sie wusste nicht, warum sie Mexikanisches so liebte und diese Unwissenheit ließ den Schmerz neu aufkeimen. Das Echo lag wieder sanft in der Luft, wie ein Vibrieren und ein unausgesprochener Ruf der Sehnsucht. Unausgesprochen, das war genau das passende Wort. Alles war unausgesprochen, also war da nur eine leere Hülle, die darauf wartete, dass man sie füllte. Leise und zärtlich drangen die Stimmen mit der kommenden Nacht an ihr Ohr. Sie kamen immer nur nachts – vermutlich, weil es da am stillsten ist. Die Handorgeln mit Federn und Flügeln verstummten mit der Dunkelheit und die Nachbarn und Menschen auf der Straße gingen in ihre Häuser, um zu schlafen, oder fern zu sehen. »Was sie wohl sehen?«, fragte Emma die Sterne, die sie durch das offene Fenster sehen konnte. »Was sagt ihnen diese Welt? Was nur, was sagt sie ihnen, was sie mir nicht sagen will?«
Die Stimmen umfingen sie mit ihren warmen, traurigen Worten, die so voller Sehnsucht waren, dass ein Wasserfall aus Gefühlen über ihr zusammenbrach. »Komm zurück zu uns, Emma.« Ein wunderschöner Hall, ein gleichsames Echo der Sicherheit, dass es etwas gab, wohin sie zurückkehren konnte. Doch wohin? »Wir lieben dich.«
»Warum seid ihr nur so traurig, Stimmen der Nacht?«, fragte Emma und stand auf. Stand auf von dem blassen Boden, in ihrem Sommerkleid, das mal weiß, mal grau, rot, violett, oder blau
war - doch heute war es grün. Grün wie Hoffnung. Die Stimmen antworteten ihr nicht. Sie antworteten nie. Sie sprachen mit ihr, doch Emma war ein ungehörter Geist, als würden sie in verschiedenen Universen leben. Ein Flüstern drang an ihr Ohr. Es kam nicht mit dem Wind oder den Sternen, es war einfach da, aus dem nichts. Vielleicht der Elf, der sie erschuf? Doch es gab keine Elfen. Nur in Märchen, die vielleicht an irgendeinem fernen Ort der Fantasie wahr waren, aber nicht hier.
Die Stimme flüsterte: »Ich liebe dich, weißt du? Sicherlich, das weißt du. Wieso solltest du das vergessen.« Die Stimme verschwand einen Moment und kam dann wieder. Sie zittere und war verschwommen, wie das Bild, das sie verloren hatte. »Soll ich dir die Geschichte der Elfen erzählen? Damit sie wieder in deine Träume kommen? Die Schönen, weißt du? Die mit der weißen Haut, die nicht altern? Das Buch wird bald zu Ende sein, wirst du dann aufwachen? Du wirst keinen weißen Elf erblicken, aber dafür mich.«
»Und wer bist du?«, fragte Emma und wollte auf eine Reise gehen. Sie wollte weit weg, dorthin wo die vergangenen Tage warteten und ihre Gegenwart formen würden. Beinahe jede Nacht dachte sie das und beinahe jede Nacht blieb sie, wo sie war und an manchen Nächten, suchte sie sich eine andere Wohnung und zog um. Das kam einer Reise zumindest ein klein wenig näher.
Diese Nacht war anders. Wieso? Weil das Bild nicht mehr da war und weil das Bild nicht mehr da war, wollte sie wissen, was darauf war und sie wollte wissen, wer es von ihr genommen hatte.
»Hast du mein Bild?«, fragte sie und vernahm nur Stille und in dieser Stille zuckte ein Gedanke auf, so blutrot wie das Leben: Wenn ich aufwache, werde ich das Bild dann sehen? In all seinen Farben und in aller Deutlichkeit, damit ich jedes Detail aufsaugen kann, mich erinnern darf, an längst vergessene Tage? Emma sagte: »Ich vermisse die Wärme und Zärtlichkeit und das, was wirklich wirklich ist. Ich vermisse das Leben.« Und weil sie leben wollte, so sehr leben wollte und weil sie wissen wollte, wer mit ihr sprach und wer ihr Bild genommen hatte und ihr Herz in Sehnsucht schreien ließ – weil sie das alles so sehr wollte, hörten ihre Füße auf, den Boden zu berühren und sie schwebte aus dem Fenster in die Nacht. Dorthin wo die Sterne waren, die nicht real waren, weil Emma sie nicht als wirklich empfand und dann … ja und dann. Der Himmel öffnete sich. Ein Tor aus Gold und Weiß und da waren Elfen, die sie anlächelten und winkten und riefen, bis sie verschwanden, in einem weißen Licht aus kalter Wärme des Lebens. Doch das Lächeln blieb. Strahlende blaue Augen und ein Mund, so schön, dass sie ihn küssen wollte. Er war es, er trug ihr Bild an seinem Herzen, er hatte es genommen und es war gut, es war das Beste und sie liebte ihn und erinnerte sich an ihn, und als er das Bild zu ihr drehte, da wusste sie um ihre längst vergangenen Tagen, die ihre Gegenwart bildeten.