Was ist neu

Engel

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22.10.2010
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Engel

Sie stieg die Treppe nach oben und betrat, nur kurz zögernd, bevor sie die Schuhsohle aufsetzte, die dunkel-metallisch glänzende Oberfläche der Plattform. Entfernt glitzerten die Sterne, ihre Lichter in die Plattform spiegelnd. Sandra schaute sich um und spürte eine wohltuende Vertrautheit mit dem Anblick der endlos scheinenden, dunkel leuchtenden Plattform. Während unter ihr der heiße Wüstensand tobte, ließ sie den Plattformzugang hinter sich und marschierte auf das beängstigend anmutende Gebilde zu, von dem sie wußte, daß es das einzige Wesen beherbergte, das ihr nun helfen konnte.

Als sie es erreichte, blieb sie kurz stehen und betrachtete die Formen des Kristallschlosses, die nicht nur ein wenig so wirkten, als wären sie während einer mißlungenen LSD-Sitzung entstanden. Damit paßten sie aber ganz gut zu der Plattform und der Ebene des Seins, auf der sich Sandra befand. Sie trat auf eine der vielen Wände zu, und als diese sich öffnete, befand sie sich im Inneren des Kristallschlosses. Warme Dunkelheit umspülte sie, und während ihre physischen Sinne vollständig deaktiviert waren, konnte ihr Bewusstsein den Bewohner des Schlosses deutlich wahrnehmen.

"Was suchst du?" fragte das kristalline Schloßbewusstsein in Sandras Gedanken hinein, damit beeindruckend demonstrierend, daß es Sandras Wünsche kannte und ihr dennoch die Möglichkeit gab, für sich selbst zu denken und sich zu entscheiden, was sie ihm mitteilen wollte.

"Mich", dachte Sandra die Antwort.

"Das ist nicht wahr!" erwiderte das Kristallnetz aufbrausend. "Lüg dich nicht an!"

Sandras Geist zerfloß erschrocken, und es dauerte eine Weile, bis er sich wieder neugebildet hatte. Gedanken formten sich und wurden zu Klarheit. "Du hast recht. Ich weiß nicht, was ich verloren habe. Ich spüre nur den Verlust. Daß ich es wiederfinden muß, bevor mich der Verlust zerstört."

"Vielleicht ist es kein Verlust, sondern ein Gewinn", erwiderte das Kristallnetz sanft.

"Doch wie soll ich das wissen?" fragte Sandra verzweifelt.

Das Kristallnetz gab keine Antwort. Doch nach einiger Zeit, die Sekunden, Stunden oder Jahre sein konnte, veränderte es sich, wurde hell und durchsichtig, spürte Sandra ihren Körper wieder, schmeckte, roch, sah, hörte und fühlte. Sandra bemerkte, daß sie sich nun an einem anderen Ort befand, überhaupt sich irgendwo befand, und versuchte zu erkennen, wo. Sie roch Schweiß. Sie hörte Stöhnen. Sie sah Farben. Sie fühlte Schmerz. Und sie schmeckte Tod. Sie kämpfte sich aus dem wogenden Meer der zuckenden Leiber heraus, drehte sich dann um und betrachtete die sterbenden Kreaturen. Sie waren nackt, sahen aus wie Menschen, doch weil ihnen die Seele fehlte, wurden sie wieder der Urmasse zugeführt. Die Körper starben und damit die Kreaturen endgültig. Ausschuß.

Sandra suchte den Ausgang, als sie den fand, gelangte sie durch ihn auf einen kühlen Gang. Hier war nichts vom Todeskampf zu bemerken, nur eine sich dem Ende zuneigende Neonlampe flackerte verzweifelt um die letzten Energiequanten. Sandra entschied sich für eine Richtung und erreichte nach langer Zeit, die aus Stunden oder Tagen bestehen konnte, eine dicke Stahltür. Entgegen ihrer ersten Befürchtung ließ sie sich mühelos öffnen. Dahinter befand sich ein abgedunkelter Raum mit einem Sarg in der Mitte, der von einem schwarzen Licht angestrahlt wurde.

Sandra trat zum Sarg und schaute hinein. Er war leer.

"Was du suchst, ist hier nicht", sagte eine Stimme.

Sandra fuhr erschrocken herum. An die Wand gelehnt stand ein alter Mann im Frackanzug und mit Zylinder auf dem Kopf, Stock in der Hand. Mit dem Stock deutete er auf eine zweite Tür, die nun aufschwang. Dahinter ein mit schwarzen Samtvorhängen ausstaffierter Raum, der Boden weich belegt und zwischen rotglühenden Kissen ein Gesicht, aus dessem Mund flüsternd rufend Sandras Name erklang.

Sandra trat durch die Tür, die hinter ihr sich schloß.

Sandra folgte der Aufforderung des Gesichts, näher zu kommen und blieb so stehen, daß ihre Schuhspitzen das Kinn berührten. In diesem Augenblick hoben sich die Samtvorhänge und enthüllten den Blick auf Tausende von Bildschirmen, die Ausschnitte der Welt zeigten. Zu sehen waren Galaxien, Planeten, Lebewesen aller Art und Größe, wie sie miteinander interagierten: Planeten, die sich telepathisch über Sonnensysteme hinweg miteinander unterhielten genauso wie Menschen oder Menschenähnliche die auf primitive oder fortgeschrittenere Arten miteinander kommunizierten. Selbst Sternengruppen, die sich zu einem Bewusstsein zusammenschlossen, konnten mit anderen Wesen reden, sofern diese in der Lage waren, die Signale zu empfangen und als Signale zu begreifen.

"Täglich kommen neue Teilnehmer dazu", sagte das Gesicht. "Die Fortentwicklung ist ein ständiger Prozeß, früher oder später sind alle Wesen des Universums in der Lage zu verstehen und zu kommunizieren. Deine Rasse, Sandra, die Erdenmenschen, gehören seltsamerweise zu denen, bei denen es besonders lange dauert. Warum? Erdenmenschen haben ein hochentwickeltes Bewusstsein, weigern sich aber, davon Gebrauch zu machen. Das ist irritierend. Es scheint, als hätte das menschliche Kollektiv vor langer Zeit ein Trauma erlitten, das ihm den Willen zur Weiterentwicklung geraubt hat. Wenn das so weitergeht, müssen wir noch einen Psychiater zur Erde schicken, der das Kollektiv regeneriert. Du weißt, was passiert, wenn die Entwicklung nicht bald weitergeht?"

"Nein, weiß ich nicht." Sandra schüttelte den Kopf.

"Dann müssen wir die Erdlinge deaktivieren. Sie stören das Gleichgewicht. Das möchten wir natürlich nicht, deswegen werden wir erst andere, regenerative Maßnahmen versuchen bzw. haben schon einige probiert, aber alle sind bislang gescheitert. Ihr seid sehr lernresistent."

"Das tut mir leid", erwiderte Sandra bedrückt.

"Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Wir sind euch ja nicht böse. Wir wundern uns nur."

"Und warum bin ich hier?"

Das Gesicht lächelte. "Darum. Weil du schnell begreifst und nicht lange um den heißen Brei herum redest. Du stellst die richtigen Fragen. Du wirst unsere Psychiaterin sein."

"Ich?" fragte Sandra erstaunt. "Aber ich bin doch nur ein Mensch!"

"Natürlich. Wen sollen wir sonst schicken? Einen Mond, oder einen anderen Planeten? Nein, in solchen Fällen bilden wir immer jemanden aus der Rasse aus, die geheilt werden soll, weil nur so sichergestellt ist, daß die entsprechenden Rassemitglieder zumindest potentiell die Möglichkeit haben, das zu verstehen, was der Psychiater ihnen erzählt. Nicht immer funktioniert das, unser letzter Versuch vor 2000 Jahren irdischer Zeitrechnung ging gründlich daneben und der arme Kerl mußte ziemlich leiden. Schlimmer noch, alles, was er gesagt hatte, wurde von einem Verein machtsüchtiger Menschen umformuliert und umgedeutet und als Waffe zur Beherrschung großer Massen mißbraucht. Zum Glück war dieser Psychiater im Gegensatz zu dem, was ihm zugeschrieben wird, sehr aktiv im Umgang mit Frauen, so zeugte er viele Nachkommen, die ihrerseits Nachkommen zeugten oder empfingen. Eine davon bist du, deswegen haben wir dich, angesichts deiner intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten, ausgesucht. Stellst du dich zur Verfügung?"

"Darüber muß ich nachdenken", schluckte Sandra. "Die modernen Foltermethoden sind ausgefeilter als Dornenkronen..."

„Gehst du denn davon aus, daß du auch nicht mehr Erfolg haben würdest als dein Vorfahr?“ erkundigte sich das Gesicht süffisant.

„Hm...“ Sandra dachte über eine gute Antwort nach und sagte schließlich: „Ich bin mir nicht sicher, ob und in welche Richtung sich die Erdlinge seitdem weiterentwickelt haben.“

„Bist du der Ansicht, daß wir uns die Mühe sparen und die Erde gleich deaktivieren sollten?“ Das Gesicht ließ nicht erkennen, wie ernst die Frage gemeint war, und Sandra wurde sich der Tatsache bewußt, daß möglicherweise, so die Frage ernst gemeint sein sollte, sie gerade über das Schicksal von geschätzten 6 Milliarden Menschen entschied. Dies führte zu erhöhter Hautfeuchtigkeit, besonders zwischen den Brüsten.

„Vielleicht...vielleicht haben sie sich ja doch in die richtige Richtung entwickelt“, bemerkte sie, nachdem sie ihre Stimme wieder unter Kontrolle hatte.

Das Gesicht lächelte. „Jetzt hast du dich aber fast bepisst vor Sorge. Nun beruhige dich, so schnell deaktivieren wir nicht. Wenngleich ich mir mehr als sicher bin, daß die meisten Erdlinge sich eher zurückentwickelt haben. Allerdings ist dies durchaus normal. Uns macht mehr das Zeitlupentempo Sorgen, in dem das ganze immer noch abläuft. Als wären alle auf der Erde wie gelähmt. Aber gut...du hast unsere Frage noch nicht beantwortet.“

Sandra lüftete ihre Lungen, dann fragte sie statt zu antworten: „Wer bist du eigentlich? Gott?“

Das Gesicht lachte herzhaft. „Ach was. Gott ist nur eine Märchenfigur, die wir ins Spiel gebracht haben, um den weniger entwickelten Wesengruppen eine modellhafte Vorstellung darüber, wie es wirklich ist, zu ermöglichen.“

„Und wie ist es wirklich?“ Sandra ließ nicht locker.

„Wirklich? Hm, was verstehst du eigentlich unter wirklich? Glaubst du ernsthaft, es gibt sowas wie Wirklichkeit? Das ist doch bloß ein imaginatives Konzept des menschlichen Bewusstseins, genau wie Träume es sind, wie Tod oder Leben. Nein, Wirklichkeit existiert einfach nicht.“

„Aber ich bin doch hier und unterhalte mich mit dir!“

„Tust du das? Bist du dir dessen so sicher? Es ist die Art, wie du es wahrnimmst, weil du es nur so erfahren kannst. Aber wie ich es erfahre, daß ist eine ganz andere Sache. Versuch dir ein philosophisches Gespräch zwischen einem Doktor der Philosophie und einer Einjaehrigen vorzustellen, wobei du die Einjaehrige bist, dann weißt du im Ansatz, was wir hier tun. Nur ist es eigentlich, aus deiner Perspektive, noch sehr viel komplizierter und komplexer.“

„Jetzt bin ich motiviert...“ Sandra trat zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür stieß.

„Och...komm schon, so schlimm ist das nun auch wieder nicht. Du kannst ja dafür sorgen, daß aus den Menschen mal Zweijährige werden, wenn du den Job annimmst.“ Das Gesicht lächelte verführerisch.

„Wie soll ich denn soviele Menschen überzeugen? Mein Vorfahre hatte es leichter, da waren es sehr viel weniger...“

„Bist du sicher? Außerdem hatte er kein Internet zur Verfügung. Wie lautet deine Antwort also? Ja oder nein?“

Sandra biß auf ihre Unterlippe und spürte die tiefe Verzweiflung in sich aufsteigen, die anzeigte, daß sie eine Entscheidung treffen mußte, zu der ihr der Mut fehlte. Dann kam die Wut. Es spielte nur für sie allein eine Rolle, welches der beiden Worte sie aussprach, für die Erde war es egal. Nur um sie ging es jetzt, und nur sie mußte sich entscheiden – für sich selbst.

„Ja“, antwortete sie leise.

„Gut“, sagte das Gesicht. „Dann bekommst du jetzt die Ausbildung, die notwendig ist, damit du deine Aufgabe erfüllen kannst.“

Die Tür, durch die Sandra gekommen war, schwang erneut auf, und der Frackmeister zeigte ihr mit einer Geste an, daß sie ihm folgen sollte. Sandra wollte sich vom Gesicht verabschieden, doch als sie sich zu ihm umdrehte, sah sie dort, wo es sich eben noch befunden hatte, feuerrot brennende Kissen.

Verwirrt folgte sie dem Frackmeister, der den Sarg betrat und darin verschwand. Als sie näher kam, erkannte Sandra, daß der Sarg keinen Boden hatte, sondern stattdessen eine Treppe in die Tiefe führte. Sie folgte dem Frackmeister nach unten.

Sie gelangte in einen hellen Raum, der rundherum gefliest war. In der Mitte des Bodens befand sich ein Abfluß, als wäre sie in einer großen Dusche. Sandra schaute sich neugierig um.

„Was ist das für ein Raum?“ erkundigte sie sich.

„Der Schlachtraum“, antwortete der Frackmeister und holte unter seinem Frack ein langes Messer hervor.

Sandra wurde bleicher als die geflieste Wand.

„Was soll das?“ fragte sie kreischend.

„Es ist Teil der Ausbildung, die Erfahrung deines Todes“, erwiderte der Frackmeister ungerührt und kam auf sie zu.

Sandra wich zurück. „Davon war aber keine Rede!“ schrie sie.

„Über die Art der Ausbildung wurde noch gar nicht gesprochen“, stellte der Frackmeister fest. Dann packte er, trotz heftiger Gegenwehr, Sandras Haare und schnitt ihr die Kehle durch.

Sandra stützte sich auf ihr Schwert. Zu ihren Füßen lag die hellerleuchtete Stadt. Irgendeine Stadt auf der Erde, dem Planet der Einjährigen. Sie mußte schmunzeln, als sie an diesen Vergleich dachte. Insbesondere, weil ihr inzwischen klar war, wie sehr er zutraf. Sie selbst war zwar noch weit entfernt von der Volljährigkeit, aber zumindest im Teenageralter befand sie sich.

Sandra drehte sich um und ging zum Aufzug. Es war Nacht, sie trat unten aus dem hellerleuchteten Foyer auf die schwächlich beleuchtete Straße. Irgendwo heulte eine Sirene, von rechts kam ein Mann mit Hund an der Leine auf sie zu.

„Haben Sie Feuer?“ fragte er, eine Zigarette im Mundwinkel.

Sandra betrachtete den Dobermann, der sie leise anknurrte. Sie knurrte, unhörbar für den Mann, zurück, bevor sie ihm antwortete: „Wieviel hätten Sie denn gern?“

„Hä?“ Der Mann starrte sie verständnislos an.

„Wieviel Feuer?“

„Für meine Zigarette...“

Sandra nickte und hielt ihm ihren brennenden Daumen hin. Als er fluchend davonrannte, grinste sie. Wie kindisch dieser abgedroschene Trick von ihr doch war. Besser, sie nahm sich zusammen. Und konzentrierte sich auf ihr Ziel.

Dieses befand sich im Norden der Stadt, in einer unscheinbaren Wohnung eines dreigeschossigen Mietshauses. Obwohl mitten in der Nacht, setzte sich Sandra auf die Klingel, bis der Summer ihr anzeigte, daß sie die Tür auch ohne Sachbeschädigung aufmachen konnte. In der dritten Etage war eine Wohnungstür offen, Licht schimmerte auf den Flur. Sandra betrat die Diele und schloß die Tür hinter sich.

„Komm durch, ich bin in der Küche!“

Sandra folgte der Aufforderung und blieb dann stehen. Ihre Schwester stand neben der Spüle und bereitete einen Tee für sie beide vor.

„Du trinkst doch noch Tee?“ erkundigte sie sich.

„Seit wann weißt du es eigentlich?“ fragte Sandra, mit einem Nicken die ursprüngliche Frage beantwortend.

Marian lächelte, brachte ihr den Tee und setzte sich an den Küchentisch. Sandra folgte ihrem Beispiel, sie auffordernd beobachtend. Marian legte den Kopf zurück, als müßte sie nachdenken.

„Überanstreng dich nicht!“ mahnte Sandra.

„Geduld, Schwesterherz, Geduld!“ Marian fuhr durch ihre dunkelroten, kurzen Haare. „Ich habe es als Kind erfahren, genau wie du. Du hast es vergessen, ich nicht. Wie es scheint, hatte das auch einen guten Grund.“

„Welchen Grund?“ Sandra ahnte zwar, was ihre Schwester antworten würde, doch sie wollte es hören. Von ihr.

„Sie hätten dich nicht töten können, wenn du dich erinnert hättest. Doch das biologische Sterben war eine notwendige Voraussetzung für deine Verwandlung. Eine Art Reset. Daß du als Engel wiederkehren würdest, habe ich allerdings nicht erwartet.“ Marian grinste. „Aber es ist eine gute Idee. Unser Vorfahr war nicht wehrbereit genug, das wurde ihm zum Verhängnis.“

„Naja, Engel, wie die Menschen es sich vorstellen, bin ich nun wirklich nicht. Nix mit Channeln und dem ganzen Blödsinn.“ Sandra grinste zurück. „Eher wie Michael...“

„Erzähl mal, wie war eigentlich die Ausbildung?“ bat Marian.

„Hm...“ Sandra schluckte, weil ihr der Beginn einfiel. „Hart...“

„Ok, der Anfang war vermutlich nicht so angenehm. Aber danach?“

Sandra erinnerte sich. Wie sie röchelnd auf den Fliesen lag und verzweifelt versuchte, ihr Blut am Auslaufen zu hindern. Vergeblich. Sie konnte sehen, wie es durch den Abfluß verschwand. Die Zuckungen ihrer Beine wurden allmählich schwächer, das Röcheln erstarb. Sie nahm noch die Schuhe des Frackmeisters wahr, als er neben ihr trat.

Als Bewusstseinswesen konnte sie beobachten, wie der Frackmeister ihren blutentleerten Körper nahm und in einen anderen Raum brachte. Sie erkannte, daß es sich um ein Kühlhaus handelte. Ihr Körper kam in ein Schubfach, wie es davon viele gab. Über eine Tastatur gab der Frackmeister ihren Namen, dann wandte er sich an sie.

„Den kriegst du zurück, wenn du mit der Ausbildung fertig bist“, erklärte er.

„Du kannst mich sehen?“ fragte Sandra überrascht.

„Natürlich. Ich bin auch ein Bewusstseinswesen. Der Körper, den du siehst, ist ein Hologramm, nichts Echtes, im Gegensatz zu deinem echt physikalischen Körper, der hier rumliegt.“ Der Frackmeister grinste. „War es sehr schmerzhaft?“

„Ja“, nickte Sandra. „Hättest du nicht eine humanere Art wählen können?!“

„Oh, der Schmerz ist wichtig, und das langsame, bewußte Sterben auch.“

„Das finde ich richtig toll“, bemerkte Sandra sarkastisch.

In der Zeit danach lernte Sandra alles, was ein zukünftiger Engel brauchte. Auf ihrem Stundenplan stand Wissenschaft der Materie, Bewusstseinskommunikation, Universumsgeschichte, Kampfkunst und Rhetorik. Nachdem Sandra in allen dieser Fächer eine Prüfung abgelegt hatte – in Kampfkunst als Jahrgangsbeste -, wurde sie zum Engel dritten Grades ernannt. Damit erwarb sie sich die Berechtigung, ihr verwandte Rassen zu lehren, bewusstseinserweiternde Kurse zu geben – und notfalls auch zu töten.

Und schließlich bekam sie ihren leicht modifizierten Körper zurück. Engel verfügen über einige Eigenschaften, die gewöhnliche Menschen nicht haben, und damit ihr Bewusstseinskörper diese Fähigkeiten in der materiellen Welt umsetzen konnte, mußte der physische Körper, in Menschenwelt auch grobstofflich von denen genannt, die wenigstens ein bisschen was von der Realität verstanden hatten, entsprechend angepaßt werden.

Nachdem Sandra wieder in ihren grobstofflichen Körper geschlüpft war, was sie als Engel auf eine ähnliche Weise machen konnte, wie normalmenschliche Frauen ein kompliziertes Abendkleid anlegen, alles in allem also recht schnell und einfach, betrachtete sie sich in einem sich als Spiegel eignenden Kühlschrank, mit ausgefahrenen Flügeln.

„Sieht geil aus“, stellte sie fest.

„Oh ja, verbrenn dir nichts auf dem Flug zur Erde“, erwiderte der Frackmeister trocken.

„Ich habe dich auch sehr lieb“, sagte Sandra grinsend.

Und nun saß sie hier bei ihrer Schwester, die gar nicht überrascht war, als Sandra sie anrief kurz nach ihrer Landung. Dafür war Sandra überrascht.

„Marian, wie würdest du eigentlich vorgehen, wenn du die Aufgabe hättest, die Menschheit zum Weiterentwickeln zu bringen?“ fragte Sandra ihre Schwester.

Marian antwortete spontan: „Ich würde ein paar Kernkraftwerke explodieren und es 40 Tage lang regnen lassen.“

„Marian, das ist doch Quatsch. Ernsthaft!“

„Ernsthaft? Ich denke, du wurdest ausgebildet!“

Sandra grinste. „Das stimmt. Was kann einen Menschen veranlassen, über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken?“

„Ernsthafte Frage?“

„Durchaus“, nickte Sandra, immer noch grinsend.

„Gier nach Ruhm und Ehre...“

Sandra schüttelte den Kopf. „Einige vielleicht, aber der Mehrheit sind die Chips und das Bier in Kombination mit der Bundesliga wichtiger.“

Marian beugte sich vor und schaute dem Engel tief in die Augen. „Also denn, Schwesterchen, sag du es mir!“

Sandra grinste noch breiter, dann sagte sie nur ein Wort: „Todesangst.“

Marians Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Todesangst? Das soll motivieren? Nach psychologischen Erkenntnissen ist Todesangst eine Motivationsbremse, wirkt lähmend.“

„Nur am Anfang, Schätzchen, nur am Anfang. Früher oder später beginnt jeder Mensch zu kämpfen, wenn er sich in keiner völlig ausweglosen Situation sieht. Es kommt eben darauf an, wie diese Todesangst aussieht. Jeder Mensch nimmt es anders wahr, reagiert anders. Manche werden Jahre oder Jahrzehnte brauchen, um die Lähmung zu überwinden, bei anderen geht es deutlich schneller. Das ist völlig in Ordnung, soviel Zeit bleibt der Menschheit durchaus.“

„Aha.“ Marian klang nicht überzeugt. „Und wie willst du die Menschheit in Todesangst versetzen?“

„Ich werde alle Schnellrestaurants auf der ganzen Erde zerstören!“ antwortete Sandra theatralisch.

Marian brach in schallendes Gelächter aus. Als sie sich nach längerer Zeit beruhigt hatte, sagte Sandra leise: „Ok, das wird einige Menschen eher freuen. Eine Alternative wäre es, alle Männer impotent zu machen. Impotent und zeugungsunfähig. Was denkst du, was würde das bewirken?“

„Hm.“ Marian musterte ihre Schwester nachdenklich. „Das könnte die gewünschte Wirkung erzielen.“

Sandra nickte. „Allerdings.“

„Ist es das, was du ernsthaft vorhast?“

Sandra nickte erneut. „Ja, und ich habe mit der Ausführung bereits begonnen.“

Sandra schaute hoch und beobachtete die Gestalt, die sich ihrem Haus näherte. Ein Mann, dem Aussehen nach am Beginn seiner zweiten Lebenshälfte. Er trug verwitterte Lederkleidung und ein Gewehr. Sein Gesichtsausdruck wirkte mißtrauisch, aber auch neugierig. Sandra spürte, daß er sein Gewehr nur zur Verteidigung zu nutzen pflegte.

Sie wartete ruhig, bis er sich ihr auf einige Schritte genähert hatte. Dann blieb er stehen und musterte sie ausgiebig.

„Bist du allein?“ fragte er.

„Ja, bin ich.“

„Du bist entweder sehr mutig oder sehr blöd“, stellte der Mann fest. „Ich könnte dich erschießen.“

„Du wärst tot, bevor du dein Gewehr auf mich gerichtet hättest“, erwiderte Sandra freundlich.

„Ich denke, du bist allein?“

Sandra hob ihr Schwert vom Boden, wo es zwischen Erdbeergewächs lag, hoch und hielt die Spitze an die Stirn des Fremden. Dies in einer Geschwindigkeit, daß er zwischenzeitlich nicht einmal blinzeln konnte.

„Im Ernstfall würde ich dich jetzt zu Hackfleisch verarbeiten“, erklärte Sandra, immer noch freundlich. „Du kannst meinetwegen tun, was du willst, aber bestimmte Dinge würdest du einfach nicht überleben. Ich frage dich: Nimmst du mein Angebot von Speise, Trank und Übernachtungsmöglichkeit an?“

Der Mann starrte das Schwert an, schluckte und sagte dann mit heiserer Stimme: „Ja...“

„Gut. Dann ist das geklärt.“

Sandra führte ihn in das Haus und gab ihm essen und trinken. Der Mann aß und trank, als hätte er schon lange nichts mehr gehabt. Dabei beobachtete er sie, die mit dem Rücken zu ihm an der Spüle stand und den Abwasch erledigte.

„Ich merke, daß du mich beobachtest“, sagte sie, um ihn gar nicht erst zu versuchen. „Wo kommst du her?“

„Aus Köln“, antwortete der Mann.

„Ach ja. Da gibt es nicht mehr viele Menschen, habe ich gehört.“

„Es gibt überhaupt nicht mehr viele Menschen“, erklärte der Mann bitter.

„Wohl wahr“, sagte Sandra nickend.

„Du siehst so jung aus“, stellte der Mann fest. „Wie kommt das? Meine Generation war die letzte, die geboren wurde.“

„Oh, ich bin älter als du. Die frische Luft hat mich konserviert.“

„Unsinn. Kein Mensch kann sich so bewegen, wie du es getan hast. Bist du etwa eine Mutantin?“

Sandra grinste. „Ich bin viel älter als du, war schon erwachsen, als du gezeugt wurdest.“

„Dann kannst du nur eine Hexe sein!“ Der Mann sprang auf und richtete sein Gewehr auf sie. „Auch wenn die Kugel dich nicht tötet, sie wird dich zumindest aufhalten!“

Sandra schüttelte den Kopf. „Ich bin auch keine Hexe, deine Kugel kann mir gar nichts anhaben. Probier es aus, wenn du willst. Falls du es überhaupt schaffst, mich zu treffen. Ich bin ein Engel.“

„Engel!“ schnaubte der Mann. „Es gibt keinen Gott, also gibt es auch keine Engel!“

Sandra lächelte freundlich. „Es gibt mehr, als du ahnst. Doch das ist bedeutungslos. Ich brauche jemanden, der mir bei der Bewirtung des Landes hilft. Ich biete dir dafür freie Kost und Unterkunft.“

„Was?“ Der Mann starrte sie entgeistert an. „Ich bin doch kein billiger Landarbeiter!“

„Stimmt, du bist ein Mann, der genauso zeugungsunfähig und impotent ist wie alle anderen noch lebenden Männer“, nickte Sandra.

Der Mann ließ das Gewehr sinken und musterte sie nachdenklich. „Hast du etwa damit was zu tun? Bist du deswegen so jung?“

Sandra wandte sich ab. „Nimmst du mein Angebot an?“

Er zuckte die Schultern. „Warum nicht? Zumindest für eine Weile.“

„Gut.“ Sandra warf ihm das Abtrockentuch hin. „Dann kannst du hier schon mal weiter machen.“

„Und was machst du?“

„Ich gehe lesen, ein Buch.“ Sandra grinste ihn an und verließ die Küche.

Sandra beobachtete ihn beim Duschen, was durch die Tatsache, daß keine der Türen abgeschlossen werden konnte, besonders leicht gemacht wurde. Er genoß offensichtlich das lauwarme, saubere Wasser, zumindest solange, bis er bemerkte, daß er beobachtet wurde. Er machte sich nicht die Mühe, seine Nacktheit zu bedecken, aber sein Blick war böse.

„Was glotzt du so? Ich kann eh nicht!“

Statt einer Antwort ließ Sandra ihr Kleid runtergleiten. Darunter war sie nackt. Als sie nähertrat, seinen Schwanz berührte und sich dieser prompt aufrichtete, starrte der Mann entgeistert in Sandra´s Augen.

„Was hat das zu bedeuten?“

„Du bist weder impotent noch zeugungsunfähig, nicht mehr.“

„Also hast du was damit zu tun?“ Der Mann starrte sie wütend an.

„Spielt das eine Rolle? Vielleicht weiß ich nur, wie ein Mann geheilt werden kann. Vielleicht ist alles anders.“ Sandra preßte ihre Lippen auf seinen Mund, umschlag seine Hüfte mit ihren Schenkeln und ließ ihn in ihre nasse Scheide eindringen. Er gab sofort seinen Widerstand auf, ihre Pobacken umklammernd begann er, sie mit harten Stößen zu rammeln.

Schließlich kam er in ihr. Sandra schrie auf, ihr Körper zuckte wild, und es dauerte lange, bis sie die Augen öffnete.

„Danke“, sagte sie.

„Wofür?“

„Für die Samen“, antwortete sie.

Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als ihre Zähne seinen Hals zerfetzten, und während er röchelnd zusammenbrach, um in der Dusche zu verbluten, wandte sich Sandra ab und ging. Sie ging nach draußen, zu einem unscheinbaren Heuhaufen, den sie nun zur Seite warf. Darunter wurde eine Falltür sichtbar, unter der eine Treppe in die Tiefe führte.

Sandra ging nach unten. In der moderigen Dunkelheit betrat sie eine große Halle, auf derem Boden urnenartige Gefäße standen. Viele von ihnen waren mit Tücher abgedeckt und zugebunden. Sandra suchte sich ein Gefäß aus, stellte sich breitbeinig darüber und öffnete ihre Scheide. Eine milchige Flüssigkeit ergoß sich in das Gefäß...

Marian verließ das flimmernde Flugzeug, das neben dem Haus gelandet war, und begrüßte ihre Schwester mit einer innigen Umarmung. Dann schaute sie sich um, eine Sonnenbrille aufsetzend.

„Sieht ja echt trostlos aus“, stellte sie fest. „Wieviele Menschen gibt es noch?“

„654“, antwortete Sandra. „So wirklich hat die Zusammenarbeit zur Abwendung des Aussterbens nicht geklappt. Irgendwie ist das ziemlich traurig. In letzter Zeit wache ich öfters in der Nacht auf und bin am Heulen. Das habe ich nicht erwartet.“

„Ich war auch geschockt, als ich davon erfuhr“, bemerkte Marian leise. „Werfen sich gegenseitig vor, schuld an der Unfruchtbarkeit zu sein und atomisieren sich. Geht´s noch?“

„Tja...damit nahmen sie sich auch die Infrastruktur, die sie gebraucht hätten.“

Die Schwestern gingen in das Haus, in dem die Temperaturen etwas erträglicher waren. Marians Flugzeugcomputer hatte 57 Grad in Bodennähe angezeigt. Sandra stellte Gläser und Tee auf den Tisch, dann setzte sie sich gegenüber Marian auf einen Stuhl.

„Und du? Wie ist es dir ergangen?“

„Naja, der Beginn jeder Ausbildung ist irgendwie standardisiert, glaube ich“, antwortete Marian mit ironischem Unterton. „Aber danach wurde es besser, und nun habe ich meinen alten Körper wieder. Natürlich mit den üblichen Modifizierungen.“

„Und was sind deine Aufgaben?“

„Controlling.“

„Ach? Dann bist du gar nicht privat hier?“

„Doch“, nickte Marian. „In erster Linie.“

„Und in zweiter?“ Sandra verfluchte sich wegen ihrer leicht erkalteten Stimme.

„Ich wurde gebeten, nachdem wir uns verabredet hatten, mit dir zu besprechen, wie es weitergehen soll. Ausdrücklich nicht als Controlling, sondern auf einer privaten Ebene. Es ist mir freigestellt, wieviel davon ich weitergebe.“

„Aha. Was denkst du, wie geht es weiter?“

Marian blickte sich um, betrachtete die schlichte Einrichtung, die verdreckten Wände, die tierischen Mitbewohner, die nicht eingeladen wurden, dann betrachtete sie ihre Schwester, deren nackte Haut schweiß- und staubbedeckt glänzte.

„Geht es weiter?“ fragte sie schließlich.

Sandra nickte langsam. „Ich zeige es dir. Und du entscheidest dann, was du davon hältst.“

Sandra ging voraus, öffnete die Falltür und sprang nach unten. Marian folgte ihr langsam. Der massive Geruch ließ selbst sie taumeln. Sie atmetete tief durch und schaute sich um.

Ein riesengroßer unterirdischer Raum. Er schien sich Hunderte von Metern in die Tiefe zu erstrecken. Der gesamte Boden war von dicht beieinander stehenden Gefäßen bedeckt, jedes einzelne Gefäß war verschlossen.

„Was ist da drin?“ erkundigte sich Marian.

„Die Menschheit. Jedes Gefäß ein Mann, dem ich die Samen rausgefickt habe, bevor ich sie tötete. Es wird eine vollkommen neue Menschheit entstehen, mit den verbesserten Genen, die diese Kinder von mir bekommen.“

Marian betrachtete schweigend die Höhle. Es war warm, es war feucht, es war dunkel.

Sie nickte.

„Vielleicht klappt es ja diesmal“, sagte sie leise. „Vielleicht.“

 

Hey suzso,

der Anfang hat mir gefallen. Die abstrakte Szenerie ist echt mal was anderes und hat außerdem auch offen gelassen worauf das Ganze hinausläuft. Das hätte so ein Text sein können, in dem alles passieren kann.

Dann kam gleich das mit der Selbstfindung: ein Ich, das mit irgendeinem kosmischen Bewusstsein kommuniziert ist mir ehrlich gesagt schon ziemlich verdächtig. Da was zu bringen, das den ganzen Eso-Kitsch umschifft, ist sicher schwierig und hier nicht gelungen.
Von der Ich-Suche springst du zu der Rolle des Weltenretters, lässt die Protagonistin zur Engelin ausbilden, die alle Männer impotent macht und die katastrophalen Folgen ihrer nicht sehr schlauen Idee durch Samenraub wiedergutzumachen versucht, um eine neue Menschheit zu züchten. Nee. :)

Das wirkt etwas unaufgeräumt, es sind zu viele, für mich nicht nachvollziehbare Themensprünge, deine Protagonistin schwankt zwischen Sinnsuche, Weltrettungsambitionen und Tölpelhaftigkeit und die Dialoge klingen stellenweise wie Lektionen vom Erklärbär.

Grüße
Kubus

 

Hey Kubus,

aufschlussreiche Rückmeldung. :schiel:

Wie passt es zu deiner Interpration, daß die Ich-Suche als Lüge entlarvt wird, kaum ausgedacht?

Gott gibt es nicht, mithin auch keine Engel. Es dient als Hilfskonstrukt, quasi um Einjährigen eine Kommunikationsbasis zu geben.

Gott ist nur eine Märchenfigur

Ich finde, es zieht sich durch die gesamte Geschichte ein bestimmtes Thema.

Eventuell zu gut versteckt? :confused:

 

Hey suzso,

Wie passt es zu deiner Interpration, daß die Ich-Suche als Lüge entlarvt wird, kaum ausgedacht?

Passt nicht so gut. Muss ich überlesen haben. :)

Ich finde, es zieht sich durch die gesamte Geschichte ein bestimmtes Thema.

Eventuell zu gut versteckt?


Du meinst hinter dem Vordergrund? Ich hab das nicht so empfunden.

aufschlussreiche Rückmeldung.

Ja tut mir leid. Die Geschichte hat mir halt nicht gefallen.

Grüße
Kubus

 

Ja tut mir leid. Die Geschichte hat mir halt nicht gefallen.

Das braucht dir nicht leid zu tun. :-) Ich meinte es ernst mit aufschlussreich. Ich lerne aus jedem Feedback.

Viele Grüße

suzso

 

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