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Engelsflug
Mit hochgezogenen Schultern schlurft Jan durch die Innenstadt. Es ist zwar sonnig, jedoch eiskalt – einer der kältesten Winter, die er je erlebt hat. Er kommt geradewegs vom Maschsee.
Der Maschsee ist ein beliebter Treffpunkt für Spaziergänger, Sportler, Verliebte oder Menschen, die sich nur dort aufhalten, um auf den Wegen rund um den See zu flanieren – Sehen und Gesehenwerden ist ihr Motto.
Es ist aber auch ein Ort der Idylle, vor allem im Winter. Der Schnee legt glitzernd seinen Mantel um die Bäume. Um die Segelboote, die im Hafen ruhen, als wären sie in einen verwunschenen Dornröschenschlaf gefallen. Um die Bänke, die völlig unberührt in Richtung See schauen, als hätte man sie zu ihrem eigenen Schutz in ein weißes Laken gehüllt.
Das Wasser ist gefroren, es tummeln sich viele Schlittschuhläufer darauf. Kinderlachen hallt von überall herüber. Die Sonne lässt das Schneeweiß funkeln, als habe sie Diamantenpulver darüber gestreut.
Jan mag diese Winterspaziergänge.
Bald ist Weihnachten. Die Menschen hetzen durch den Matsch, der sich unweigerlich zwischen all den Kaufhäusern gebildet hat. Mit zusammengekniffenen Augen, mit in Schals vergrabenen Nasen und Hüten oder Mützen, die das Haar bedecken, springen die Einkäufer förmlich von Laden zu Laden. Selten begegnet Jan freundlichen Gesichtern, viel eher wirken sie gequält – vielleicht von ihren Familien, Einkäufen, Geldsorgen, Zeitmangel. In manchen Gesichtern glaubt Jan sogar ihre Geschichten lesen zu können. Von Besinnlichkeit ist wenig zu spüren.
Nur die Kinder genießen diesen Weihnachtstrubel. Sie stehen mit aufgerissenen Augen und offenen Mündern vor den großen Schaufenstern der Kaufhäuser, in denen Spielzeuge musizieren und sich dazu bewegen. Große Eisenbahnen, Teddybären, Elefanten, Affen – sie alle beleben die Schaufenster und begeistern die Kleinen. Die Weihnachtslichter heben das Glänzen in ihren Augen hervor und lassen sie strahlen. So hatte Jan auch da gestanden, als er ein kleiner Junge war.
Jan denkt gern an seine Kindheit zurück. Zwar gleichen seine Erinnerungen nur einem Ausschnitt eines tausendteiligen Puzzles, aber immer wieder fügen sich Teilchen neu zusammen. Den Glauben daran, er könne es eines Tages vollständig zusammensetzen und eingerahmt in sein Wohnzimmer hängen, hat er aufgegeben. Aber er freut sich über jede Kleinigkeit, die ihm in Erinnerung geblieben ist – oder die ihm wieder einfällt – und das Bild deutlicher erscheinen lässt.
Jan hat fast vier Jahre lang in einem Heim gelebt. Im Alter von dreizehn Monaten wurde er dort abgegeben, stand mutterseelenallein vor der Tür. Er hat nie erfahren, wo er die ersten Wochen und Monate seines Lebens verbracht hat. Wer seine leiblichen Eltern sind oder waren. Woher er kommt, was seine Wurzeln sind. Aber er war kein bedauernswertes Kind. Er hatte eine schöne Kindheit.
Im Heim lebte eine alte Dame. Immer wenn Jan an sie denkt, muss er lächeln. Und wenn er von der „alten Dame“ erzählt, geht das Lächeln in ein Schmunzeln über. Wahrscheinlich war sie gar nicht so alt, aber mit den Augen eines Kindes ist die Sicht eine ganz andere, da ist man mit dreißig Jahren schon uralt. Aus der heutigen Sicht betrachtet, denkt Jan, dass sie Mitte vierzig gewesen sein muss. Ihr Name war Anne. Sie ging nie nach Hause, wie all die anderen, die dort arbeiteten, hatte nie Feierabend. Das Heim war ihr Zuhause, die Kinder ihre Mission, ihre Familie. Sie liebte sie und die Arbeit mit ihnen.
Zu Jan hatte sie eine besondere Beziehung, sie war seine Vertrauensperson, seine Anlaufstelle. Sie war diejenige, die ihn träumen ließ, gar mit ihm träumte, und ihm die Baugenehmigung für Luftschlösser erteilte. Sie war auch gleichermaßen die Führerin in seinem Kummer. Er kann sich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern, höchstens an Konturen. Sicher würde er sie heute nicht mehr erkennen, wenn sie vor ihm stünde, dafür war er damals einfach zu jung. Aber es beschleicht ihn ein warmes, wohliges Gefühl, wenn er seine Gedanken zu ihr schweifen lässt. Sie gab ihm das Gefühl von Familie, Zusammenhalt und Liebe. Ihr hatte er damals sicher zu verdanken, dass er sich nie wie ein Außenseiter in Kindergarten und Krippe fühlen musste, weil er keine Eltern hatte. Anne sagte ihm, er lebte schlichtweg in einem anderen Familienmodell – mit viel mehr Geschwistern als andere Kinder sie hatten.
An den Abschied kann er sich nicht mehr erinnern. Er kennt nur die Version, die ihm seine Adoptiveltern erzählen:
Das Heim wurde eines Tages geschlossen, weil die finanziellen Mittel ausgingen. Die Kinder wurden anderen Heimen zugeteilt oder hatten das Glück, in einer Adoptivfamilie untergebracht zu werden, wie Jan. Und was aus den Mitarbeitern wurde, wüssten sie nicht.
Seine Eltern, Jakob und Maria, konnten keine eigenen Kinder bekommen. Das blieb ihnen vergönnt. Sie probierten über viele Jahre hinweg, eine Familie zu gründen und ließen dabei kaum eine Möglichkeit aus. Aber vergebens. So fanden sie ihr Glück mit Jan – und Jan mit ihnen. Für ihn sind Maria und Jakob seine „richtigen“ Eltern. Er ist dankbar für das Leben, das ihm ermöglicht wurde.
Jan findet nur Bruchteile aus dieser Zeit in seinen Gedanken, trägt jedoch bis heute das Gefühl, das Anne ihm gab, in seinem Herzen. Neben dem Gefühl trägt er heute noch eine Art Medaillon bei sich, das Anne ihm schenkte. Es sollte ihn stets beschützen. Er trägt es an seinem Schlüsselbund bei sich - ein silberner kleiner Engelsflügel mit einer Gravur auf der Rückseite. „In Liebe“ steht dort in geschwungener Schrift. Er trägt das Medaillon nun seit etwa siebenundzwanzig Jahren bei sich und sein Glaube an Annes Flügel wurde nicht enttäuscht. Er ist nicht abergläubisch, aber er glaubt an etwas wie Seelen und Schicksal. Er empfindet es als töricht, anzunehmen, es gäbe nur uns Menschen und nichts darüber hinaus.
Wie gern möchte er wissen, wie es Anne geht, wo sie lebt, ob sie noch strickt. Sie strickte den Kindern im Winter immer warme Socken und Schals und Mützen, damit niemand frieren musste, das weiß er noch genau. Daran zu denken, ist für ihn wie eine Massage nach einem harten Arbeitstag – nur auf anderer Ebene. Leider verlor sich nach Schließung des Heims jede Spur.
An Weihnachten, wenn Jans Familie vorm Tannenbaum sitzt, müssen Maria und Jakob ihren Enkelkindern immer erzählen, wie es damals war mit ihrem Vater. Wie sie Anne kennen lernten: Sie besuchte damals eine Freundin im Krankenhaus, als sie auf Jans Eltern traf. Sie kamen ins Gespräch und sie erfuhr von all den Rückschlägen und vergebenen Mühen, ein Kind zu bekommen. So lud sie die beiden Fremden ins Heim ein – es war um die Weihnachtszeit – und so trafen Jan, Maria und Jakob das erste Mal aufeinander.
Der Wind in den Gassen weht nicht stark, aber er trägt eine Eiseskälte, die eine Gänsehaut verursacht. Jan stört sich daran nicht, er hat sich heute warm eingepackt, wie Tee in einer Thermoskanne. Er genießt es, die liebevoll befestigten Dekorationen in den Einkaufsstraßen, die Weihnachtsengel, die Lichter, die Tannenbäume, die goldenen Sterne auf sich wirken zu lassen. Er genießt die Flocken, die von den Dächern schweben und sich sanft auf sein blondes, krauses Haar legen. Er genießt das weißeste Weiß des Schnees, das von der Sonne reflektiert wird und ihn blendet. Und er genießt die Straßenmusikanten, die der Kälte ihre Stirn bieten und unbeirrt weihnachtliche Stimmung verbreiten.
Sein Blick fällt beim Beobachten der Leute auf eine Obdachlose, die sich unter einem Vordach mit zwei oder drei Decken zu wärmen versucht. Sie sitzt auf dem nassen Boden. Der Platz befindet sich ein wenig abseits des Rummels. Solche Bilder machen Jan traurig. Er nimmt solch Eindrücke meist fotografisch in seinem Gedächtnis auf und trägt sie tagelang mit sich herum, weil er sie nicht aus seinem Kopf bekommt. Wieder einmal entsinnt er sich, wie gut er es hat. Wie gut es ihm und seiner Familie geht. Zwar wird auch diese nicht von Krankheiten und Sorgen verschont, aber Armut braucht er nicht zu fürchten.
Bei seiner Mutter wurde ein bösartiger Tumor entdeckt. Das war eine Schock-Nachricht, als sie nach mehreren Untersuchungen aus dem Krankenhaus kam. Jan kann diese Szene jederzeit abspielen vor seinem inneren Auge, als wäre es gestern gewesen. Nach solch einer Diagnose reißt es einem den Boden unter den Füßen weg. Glücklicherweise wurde der Brustkrebs früh erkannt. Die Therapie schlug gut an, sodass nun, nach fünf Jahren, beinahe von Heilung die Rede ist.
Die Passanten beachten die Obdachlose kaum – hin und wieder sieht er verachtende Blicke zu ihr hinüber schweifen, aber niemand hält an. Sie sitzt dort mit offenen Augen und aufmerksamem Blick, der das rege Treiben verfolgt. Sie sieht müde aus, kraftlos. Ihr Gesicht, gezeichnet von tiefen Falten, zeigt kaum Regung. Ihre Haltung ist eingefallen. Ihr Körper schmal und beinahe mager. Ihre langen, weißen Haare sind zu einem Zopf geflochten.
Als sie Jan entdeckt, lächelt sie ihn müde an. Sie strahlt in all dem friedlosen Getümmel und der Winterkälte eine unsagbare Wärme aus. Er erwidert das Lächeln. Achje, denkt Jan, arme, alte Dame.
Jan stiefelt kurzentschlossen zum nächstgelegen Bäcker, kauft einen heißen Kakao, ein belegtes Brötchen, ein Stück Kuchen und einen Gutschein über fünf Euro. Er hat Mitleid mit dieser zarten Dame, die dort starr und zerbrechlich wie eine Porzellanfigur sitzt. Er zieht seinen Schlüsselbund aus der Tasche, fingert an dem Flügel-Anhänger, bis er ihn los machen kann, und verstaut die Schlüssel wieder in seiner Jackentasche. Weihnachten – das Fest der Liebe, geht es ihm durch den Kopf. Der Engelsflügel habe nun lange genug über ihn gewacht, nun sei es an der Zeit, sich um jemand anderen zu kümmern. Und diese Dame wird Schutz in diesem kalten Winter brauchen können, beschließt er.
Er geht mit seinen Einkäufen hinüber zu der alten Dame, hockt sich zu ihr, legt die Lebensmittel und den Gutschein neben sie und drückt ihr den Kakaobecher in eine Hand. Ihre Hände sind schon blau angelaufen, bitterkalt und zittern. Dann nimmt er die andere Hand, legt den Flügel hinein und hält sie für einen Moment zwischen seinen beiden Händen fest. Sie schauen sich tief in die Augen. Sie hat eindrucksvolle kristallblaue Augen, in denen Jan Dank ablesen kann.
„Das werden Sie brauchen“, sagt Jan beinahe flüsternd, „passen Sie auf sich auf!“
Ihr Hals schnürt sich zu, sie kann nicht antworten. Aber das braucht sie auch nicht. Jan steht auf und geht zögerlich. Nach drei Schritten dreht er sich um: „Ach … frohe Weihnachten!“ Seine Mundwinkel ziehen sich nach oben. Beschwingt, aber auch gleichzeitig betroffen tritt er seinen Heimweg an.
Unterwegs passiert er einen Blumenladen. Er bleibt stehen. Hieran kommt er nicht vorbei. „Wann habe ich Zoe das letzte Mal Blumen geschenkt?“, fragt er sich. Mit gemischten Gefühlen betritt er das wohlige Ambiente der Floristin.
Seine Gedanken kreisen um all die Eindrücke des heutigen Tages. Er resümiert die Kinder vor den Schaufenstern, die Obdachlose, die Schlittschuhfahrer, das bezaubernde Winterbild, das Mutter Natur am Maschsee erschaffen hat. Alles in einem ein guter Tag, befindet er.
Jan schaut sich im Geschäft um, entscheidet sich für einen hübsch gebundenen Strauß und tritt an den Tresen. Ein gutmütiges Lächeln begegnet ihm. Ihm ist, als würde ein Blitz in ihn fahren. Dieses Lächeln kommt ihm so vertraut vor. Die greisenhafte Verkäuferin schaut ihn erstaunt an.
„Ist Ihnen nicht gut?“, fragt sie ihn zaghaft mit wahrscheinlich altersbedingt zitternder Stimme.
Jan stockt. Dann stammelt er: „Doch, doch, alles in Ordnung … Was bekommen Sie dafür?“
„Dreizehn fünfzig, bitte“, sagt sie mit gutmütiger Stimme.
Jan starrt sie fast an. „Das kann nicht sein“, denkt er sich. Er gibt ihr fünfzehn Euro.
„Das stimmt so. Der Rest ist für Sie.“
„Ich danke Ihnen herzlich. Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest“, bedankt sich die Alte.
„Kann das Anne sein?“, überlegt er. „Ist das möglich?“ Jan hat schon so manches Mal im Leben geglaubt, Anne in Gesichtern zu entdecken. Aber er ist sich sicher, sie würde ihn erkennen. So verwirft er diesen Gedanken wieder, bedankt sich herzlich für die Wünsche, erwidert diese und verlässt den Laden. Seine Frau wird sich sehr über den Strauß freuen, das weiß er.
Nur noch ein Tag bis Heiligabend. Die Kinder machen ihn und Zoe schon ganz verrückt, weil sie so schrecklich aufgeregt sind. Sie turnen an und auf ihm herum, als sei er ein Klettergerüst. Kim ist sechs Jahre alt und Kjell viereinhalb. Er kitzelt die beiden, bis sie nicht mehr können und sich geschlagen geben müssen – zumindest für die nächsten fünf Minuten.
Jan schaltet den Fernseher ein. Zahllose Spendenaufrufe werden eingeblendet, bis die Nachrichten beginnen. Die Temperaturen sinken immer tiefer. Die Medien berichten über die ersten Kältetoten dieses Winters, unter anderem in Hannovers Innenstadt. Ein Kamerateam hat den Live-Reporter begleitet. Auf dem Bildschirm ist nun eine Obdachlose auf einer Transportliege eingeblendet, die ihre Hände auf dem Bauch liegen hat. Sie ist mager, trägt einen langen geflochtenen Zopf von weißen Haaren. Jan stockt der Atem. Er hat sofort die Dame in ihr erkannt, die er vor einigen Tagen in der Stadt traf. Himmel, das kann doch nicht sein, geht es ihm durch den Kopf. Seine Gedanken überschlagen sich. Sein Blick erstarrt, als er sieht, wie ihre Finger zwei ineinander gesteckte, silberne Engelsflügel umschließen. Auf ihrem Gesicht zeichnet sich ein Lächeln ab. Eine Träne ruht friedlich festgefroren auf ihrer Wange. Jans Augen werden glasig und feucht.
„Wir sind Engel mit einem Flügel. Um fliegen zu können, müssen wir einander umarmen.“ Er erinnert sich der Worte des Schriftstellers Luciano De Cresenzo.
Die Erkenntnis bricht durch wie die Sonne am Morgen. Sie hatte ihn ganz sicher als Jan identifiziert, aber sie wollte sich zur Ruhe legen und ihren Frieden finden.
„Gute Reise, Anne!“, flüstert er, schließt für einen Augenblick die Augen und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, bevor die Kinder wieder über ihn herfallen würden.
„Papa, was hast du?“, fragt Kim. Jan hat seine Tochter neben sich nicht bemerkt. Für sie ist es komisch, dass der eigene Papa, ein Erwachsener, weint.
Betrübt schaut er seine Kleine an. „Ach, weißt du, mein kleiner Schatz, ich habe gerade etwas sehr Trauriges in den Nachrichten gesehen. Sie haben über den Tod einer Frau berichtet.“
„Kanntest du sie? War sie berühmt?“
„Nein, mein Engel, sie war nicht berühmt. Ich kannte sie aus einer Zeit, als ich so alt war wie dein Bruder.“
„Echt?", fragt sie erstaunt. "Das ist aber ganz schön lange her …“
„Ja, das ist es.“
„Erzähl mir was von ihr“, fordert sie ein.
„Ein andermal, Kim. Versprochen … ein andermal.“ Jan hält kurz inne, dann fährt er fort: „Sei so lieb und deck schon mal den Tisch mit Kjell.“
„Och Manno!“, protestiert Kim, gehorcht aber und geht.
Die Kinder kennen Anne aus den Geschichten ihrer Großeltern, aber Jan hätte heute nicht die Kraft, über all das mit den Kindern zu sprechen. Zunächst muss er selbst das Geschehene verdauen. Er hängt noch eine Weile seinen Gedanken nach. Er ist traurig. Diese Neuigkeiten sind bedrückend. Vielleicht hätte er Anne helfen können. Vielleicht hätte er sie mitnehmen oder sie ins Krankenhaus bringen können. Er wird sich noch einige Male schlafen legen und wieder aufwachen müssen, bis er verkraften kann, was ihm widerfahren ist.
Er hofft sehr, dass er mit Anne im Frieden ist.