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Engelszungen
Uriel hatte sich in Marie verliebt, kaum dass sie das Licht der Welt erblickt hatte. Der unbeholfene Gang, diese wehklagende, sanfte Stimme und überhaupt das ganze Wehrlose zogen den Engel vollständig in ihren Bann. Sie zwischen all den Gittern zu sehen und mitzufühlen, wie sie von den anderen Schafen geschubst und bedrängt wurde, schmerzte in den Flügelspitzen. Da war keine Freude in ihren Augen, nur Mutlosigkeit und gähnende Langeweile.
Keine Frage, bei Bauer Ewald musste etwas passieren, Marie gehörte nicht in Gefangenschaft. Aber was machst du als Engel, wenn du nichts machen darfst als zugucken? Tag für Tag malte Uriel sich aus, wie er mit den Flügeln sämtliche Gitter des Stalls und alle Gitter der ganzen Welt hinwegfegte. Das ging natürlich nicht. Gewollt hätte er schon, nur gedurft eben nicht.
Alles Nörgeln, Nachhaken und mit den Fäusten auf die Wolken hauen half nichts. Die Chefin hatte ihren Standpunkt: Niemand mischte sich ein in das, was auf der Erde passierte. Nicht einmal die Chefin selbst. Dann eben nicht! Uriel wollte sich schon damit abfinden, Marie wie eines von unzähligen Schafen für den Rest des Lebens in all dem Unglück tatenlos begleiten zu müssen; dann plötzlich, mit einem langen Zisch und einem lauten Plopp, wirbelte etwas Uriels Wolke auf und ließ ihn einen Satz in die Höhe machen. Er blickte nach links und sah in das nicht weniger überrascht dreinblickende Gesicht von Bauer Ewald.
„Was machst du denn hier?“, wollte Uriel wissen.
„Keine Ahnung“, gab Bauer Ewald zu, „eben saß ich noch auf meinem Traktor, bin in die Scheunenwand gebrettert und dann war alles dunkel. Und dann alles hell. Und da war diese unglaublich schöne Gestalt mitten in all dem Licht und ich konnte gar nicht wegsehen, obwohl ich eigentlich gar nix erkannt hab.“
Uriel verdrehte die Augen. „Das war Gott. Sie liebt diese Auftritte. Das werden wir uns jetzt wieder die ganze Woche anhören dürfen, wie du sie angehimmelt hast, mit offenem Mund und zittrigen Knien.“
„Hab ich das?“
„Bestimmt. Machen alle.“
„Und jetzt? Was mach ich hier?“
„Erst mal warten, bis dir ordentliche Flügel gewachsen sind. Mit dem mickrigen Gefieder kann man dich doch nicht vor die Tür lassen.“
Uriel fragte sich gar nicht erst, warum Ewald ausgerechnet bei ihm gelandet war. Irgendwas musste er wieder angestellt haben und nun musste er sich um den Neuen kümmern. Irgendwie auch wie immer.
„Mir tut gar nix weh“, stellte Ewald fest.
„Ist hier so“, erklärte Uriel, „hier tut nix weh.“
„Wieso bin ich eigentlich ein Engel? Ich hab ja nicht gerade die pure Freude in die Welt gebracht. Im Gegensatz zu dir, … nehme ich an.“
„Hehe! Wenn du wüss...“ Uriel biss sich auf die Zunge, tat ja nicht weh. „Aber, wo du es schon ansprichst, wieso hältst du Schafe in winzig kleinen Ställen gefangen?“
„Was soll ich denn machen? Weißt du, was ich an einem Schaf verdiene?“
„Will ich gar nicht wissen.“ Uriel verzog den Mund, lehnte sich zurück und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.
„So gut wie nix. Bezahlt einem ja niemand was“, fuhr Ewald beharrlich fort. „Jede Menge Schafe oder gar keine Schafe, darum gehts.“
„Ist doch deine Sache, kannst du doch entscheiden“, meinte Uriel, obwohl er es besser wusste.
„Kauft dir doch keine Sau ab, so ein Schaf, wenns zu teuer ist.“
„Wieso sollte eine Sau ein Schaf …? Ach, die Art Sau.“
„Na, eben. Ihr habt gut reden, hier im Himmel. Nix fehlt, nix kostet was, da ist leicht moppern. Da wär ich auch entspannt.“ Ewald griff in die Wolke und warf eine Handvoll davon in den Himmel.
„Wir müssen was machen“, legte Uriel nach einiger Zeit des Schweigens fest. „Das kann dir doch auch nicht gefallen.“
„Klar! Nee, gefällt mir auch nicht. Und was sollen wir machen?“
„Du machst nichts mehr, das steht mal fest.“
Ewald ließ die Schultern hängen und nickte einsichtig. „Was wird denn eigentlich aus meiner Frau?“, fragte er sich und Uriel. „Die kann doch nicht alleine den ganzen Hof ...“
„Na, das ist ja endlich mal eine gute Frage!“, fuhr Uriel dazwischen. „Allein kann sie das nicht, da braucht sie wohl Hilfe. Blitzmerker.“
„Ja, schon klar“, erkannte Ewald, „aber wie bring ich ihr das bei? Kann ja kaum da runter fliegen und mit ihr ...“
„Nee, du nicht. Schon gar nicht mit den lächerlichen Flügeln. Ich mach das. Ich rede mit deiner Frau, du lenkst Gott ab.“
„Und wie?“
„Was weiß ich, fällst halt vor ihr auf die Knie, himmelst sie an und ...“
„... machst dich zum Affen, schon klar“, ergänzte Ewald.
Uriel zeigte zur Bestätigung mit dem Zeigefinger auf ihn. Ewald verdrehte die Augen und sah zu, wie Uriel von der Wolke sprang, um zielstrebig den Hof anzufliegen.
Der rasante Sturzflug endete in einem gewagten Bremsmanöver kurz vor dem Wohnhaus neben Ewalds Scheune. Drinnen war alles ruhig. Viel mehr als etwas Staub hatte Uriel nicht aufgewirbelt. Er schüttelte die Flügel aus, trat durch die aufschwingende Haustür und ging schnurstracks ins Schlafzimmer.
Natalie, die ihren Ewald so sehr vermisste wie er ihren abendlichen Duft, drehte sich gerade in ihre bevorzugte Schlafposition, der ein umarmender Ewald fehlte. Sie tastete die zweite Betthälfte ab, seufzte und atmete tief ein. Das war Uriels Signal. Er drückte seinen Rücken durch und reckte seinen Kopf empor, um mit ausgestrecktem Arm zu einer Ansprache anzusetzen.
Uriel räusperte sich, bevor ihm einfiel, dass er sich gar keine Rede zurechtgelegt hatte. Natalie würde sich nicht an ihn erinnern, wenn sie aufwachte, an das Gesagte schon. So wollten es der Brauch und die Chefin. So war es eben immer. Uriel rieb sich die Hände.
„Es ist nicht recht, wenn ...“ Das klang bescheuert.
Uriel riss die Faust in die Höhe. „Freiheit für die Schafe!“ Etwas dick aufgetragen.
Er wanderte auf und ab, streckte den Arm der Schlafenden entgegen, winkte ab und hielt sich die Hand an die Stirn.
„Grüße von Ewald ...“ Was für ein Schwachsinn.
„Es ist so“, begann er, mit der Hand in der Luft fuchtelnd, „der Hof gehört jetzt dir.“
Er dachte an Ewald, vor allem aber an Marie. Er sollte jetzt gar nicht hier sein. Aber wer sonst? Das konnte eine lange Nacht werden.
Am Morgen wachte Natalie etwas gerädert aber mit bester Laune auf. Ihr Kopf war randvoll mit einer Idee, die ihr so einleuchtend erschien, dass sie gleich ihre Freundin anrief.
„Tilly, komm vorbei, du musst mir so eine Seite ins Internet stellen.“
„Was für eine Seite?“, wollte Tilly hörbar verschlafen wissen.
„Wir machen alles anders, du und ich und der Herbert – einer muss ja die Arbeit machen.“
„Was machen wir? Wo?“
"Auf dem Hof!", rief Natalie, "warum soll der nur uns gehören? Wohnen doch genug Familien in der Nähe, die können mitmachen, denen gehört der Hof dann mit. Samt Schafen zum Streicheln für die Kinder. Ist doch prima. Alle bekommen Käse, Salat, Erdbeeren, wir pflanzen noch Kartoffeln an und von allem nur so viel, wie wir alle brauchen. Und die Schafe kommen wieder auf die Wiese.“
„Um Gottes willen!“ Tilly verschlug es fast die Sprache.
„Die weiß gar nichts davon“, murmelte Natalie wieder ganz in Gedanken.
„Was?“
„Na, hab ich zumindest geträumt, oder so.“
„Ich brauch jetzt erst mal nen Kaffee“, jammerte Tilly.
„Sollst du haben. Und dann kommst du her.“
Gott sah vorwurfsvoll auf den unschuldig dreinblickenden Erzengel.
„Dachtest du, das bliebe unentdeckt? Habe ich nicht immer ein offenes Ohr für dich und deine … außergewöhnlichen Ideen? Musstest du das hinter meinem Rücken machen?“
Uriel wirkte ertappt, aber nicht ernsthaft schuldbewusst.
„Was denn?", fragte er. „Ich hab die Genossenschaft erfunden.“
„Die gabs schon vorher“, wusste Gott.
„Ja, aber meine Genossenschaft kommt von genießen, weils besser schmeckt, wenn du dich selbst drum gekümmert hast.“
„Und? Ist es jetzt besser?“ Gott sah Uriel an wie einen Sohn, der dem Nachbarn Milch geklaut hatte.
„Für Marie ist es besser.“ Uriel sah auf die Schafe, die frisches, saftiges Gras kauten und auf der Wiese standen oder tobten. Ewald saß neben ihm, die kurzen Flügel noch etwas ungeschickt schlagend, und sie fanden, dass es gut war.
„Ich könnte dir noch hunderte andere Höfe zeigen, auf denen es wie auf meinem zugeht“, schlug Ewald vor.
„Untersteht euch!“, warnte Gott und drehte sich schnell ab, weil sie grinsen musste.
„Wir müssen dir einen anderen Namen suchen“, flüsterte Uriel, „kein Engel heißt Ewald. Und dann zeigst du mir die anderen Bauernhöfe.“