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Anmerkungen zum Text

Ich muss mal einen Neueinstieg hier finden, langsam wieder ins kommentieren und schreiben kommen. Daher stelle ich jetzt eine KG ein, die ich für eine Ausschreibung geschrieben hatte (leider ohne Erfolg) Thema: Geh zum Strand!
Die nächsten Tage komme ich dann auch an meine Romanbaustelle, lieben Dank für Eure Geduld mit mir.

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Meine beste Freundin Anne hat mich nach der Sorgerechtsverhandlung in diese Bar geschleppt. Wir sitzen am Tresen und ich stürze bereits den zweiten Caipirinha hinunter.
„Katie, mach langsam! Du sollst erzählen!“
„Was? Ach so, warum mein reizender Ex mir die Kinder wegnehmen konnte?“ Und schon rollen Tränen über meine Wange.
„Tobias war noch nie reizend. Mister Perfekt war nur anstrengend!“ Anne mochte Tobias schon vor der Scheidung nicht, und allmählich schließe ich mich ihrer Meinung an.

Ich versuche es mit dem harmlosen Anfang. „Na, wir waren doch im Mai zu diesem tollen Hamburg-Wochenende.“
„Ja, ich erinnere mich: perfektes Häuschen in Blankenese, viele Museen- und Konzertkarten und du hast immer nur genickt.“ Anne rückt das Cocktailglas aus meiner Reichweite.
„Aber Tobias hatte wirklich großartig geplant. Nur für die Kinder musste ich halt ein bisschen was Passendes einbauen. Da gab unser Vermieter den Tipp: Geht zu Strand!
„Wenigstens einer, der an die Kinder gedacht hat.“ Anne grinst.
Ich würge, beim Gedanken an die heutige Gerichtsentscheidung steigt ein Schluchzen in der Kehle auf. Der Barkeeper schiebt mir Taschentücher und einen neuen Cocktail zu. Ich schlucke die Tränen runter, lächle den Mann dankbar an.
„Ich hatte an alles gedacht, Mias neuen Bikini und Tobias Lesebrille. Als die Kinder Würstchen wollten, bin ich gesprungen und wir wären auch rechtzeitig fürs Konzert zurück. Wenn nicht …“
Anne legt ihre Hand auf meine. Offensichtlich hat der Typ neben uns mitgehört und grinst mich an. „Feines Frauchen, immer schön dem Manne recht machen.“
Während ich noch nach einer Erwiderung suche, zeigt Anne ihm den Mittelfinger.
„He, he, ich mag liebevolle Frauen.“ Anscheinend genießt er den Schlagabtausch.

Ich drehe mich zu Anne, senke die Stimme. „Erst waren wir auf dem Fischmarkt: Garnelen für Tobias und die Kinder, frisches gesundes Obst, teures Frühstück in der Auktionshalle.“
Auch dafür zeigt der Barkeeper mir den erhobenen Daumen. Ja, ich habe wohl alles richtiggemacht. Bis dahin.
„Aber du sagtest, ihr solltet zum Strand gehen. Gibt es so etwas überhaupt mitten in Hamburg.“
„Oh ja, und was für einen!“ Kurz spüre ich die Maisonne und den typischen Geruch nach Hafen, Sonnenöl und einer Brise nasse Socken. Du biegst um die Ecke der Promenade, ein Mauervorsprung, der weit in die Elbe ragt und vor dir öffnet sich eine weite Bucht. Weißer Strand, Liegestühle und Strandbars – richtiges Strandfeeling. Und das im Mai.“
„Das klingt aber doch, als wäre es ein toller Tipp, ein wunderbarer Ausflug gewesen?“ Anne wartet offensichtlich auf das Drama, was zum heutigen Super-GAU geführt hat. Und ich will es nicht erzählen, will es nicht noch einmal durchleben.
„Ihr habt euch also gesonnt und hoffentlich nicht in der versifften Elbe gebadet.“
„Paul wollte schon, aber Mia hatte ihm was von abfallenden Fingern erzählt. Und ja, es war herrlich, die erfrischende Brise, die Möwen, entspannte Menschen. Tobias war mit mir zufrieden.“ Ich verfalle in Schweigen, greife nach dem fast leeren Glas und halt mich daran fest.
Anne hebt die Augenbrauen, wartet.
„Es gab einen Menschenauflauf, Paul schrie von dem Promenadenpodest zu uns herunter, winkte aufgeregt. Tobias ist zu den Kindern hinauf und ich war halt auch neugierig.“ Ich schließe die Augen, sehe einen Rotschopf zehn Meter vom Ufer entfernt. Er dreht sich um sich selbst, wirkt orientierungslos.
„Ringsum herrschte Aufregung, Stimmengewirr. Von `Dummheit gehört aus dem Genpool gelöscht` bis `Hilf ihm doch jemand` war alles zu hören. Ich habe mich nach vorne durchgeschoben, wollte die Kinder aus diesem aufgewühlten Haufen herausholen.“ Anne wird mich nicht ums Erzählen drum herumkommen lassen. Sie glaubt, reden hilft.

„Da war also wer im Wasser?“, fragt Anne.
„Ja, im Nachhinein weiß ich, dass es der junge Mann war, der mich bereits auf dem Fischmarkt angerempelt hatte. Stark alkoholisiert, rotzfrech. Seine Kumpel johlten am Ufer. Er rief die ganze Zeit, dass es kalt sei und die anderen Weicheier.“ Ich schlinge die Arme um mich, versuche Wärme zu erzeugen. Das Entsetzen, als ich die Situation erkannte, holt mich auch heute wieder ein. „Am Strand war kein Rettungsschwimmer, keiner der Gucker machte Anstalten, etwas zu unternehmen. Es wurde fotografiert und gefilmt, aber niemand telefonierte, setze einen Notruf ab. Ich glaube, das war der Moment, ich bin einfach wieder in die Routine als Rettungsschwimmerin gerutscht: Situation einschätzen, Hilfe rufen, Hilfsmöglichkeiten analysieren.“
„Stimmt, du warst jahrelang aktiv. Was habe ich dich immer um den ganzen Monat in Warnemünde am Strand beneidet. Aber das ist doch Jahre her!“
„Vierzehn, seit ich mit Mia schwanger war. Aber es war alles da, alles antrainierte Abläufe. Ich hab mich durchgedrängelt, die 112 gewählt und dem Koordinator die Situation geschildert.“
„Richtig gemacht! Und dann haben die Hilfe losgeschickt.“ Anne hängt an meinen Lippen, der Typ neben mir versucht gar nicht mehr zu verbergen, dass er lauscht und auch der Barkeeper ist voll dabei.

„Ja! Die Hilfe sollte in fünf Minuten eintreffen.“ Wieder sehe ich den Kopf des jungen Mannes versinken, seine Bewegungen sind langsam, zäh. Rufen tut er schon nicht mehr.
„Ich antwortete: ‚Die hat er nicht, ich geh rein.‘ So selbstsicher das klang, würgte ich an der Säure im den Hals. Ich hatte schon Übungen in Flüssen, wusste, was auf mich zukäme. Mit einmal war Tobias da. Seine Hand schwer auf meinem Arm und er sagte: ‚Das kannst du nicht tun!‘
Ich zog mich aus, nach kurzem Zögern stand ich in Unterwäsche und Shirt auf der Promenade.
Tobias schüttelte mich: ‚Du gehst da nicht rein! Das ist lebensgefährlich!‘
Und ich hab ihn angefaucht: ‚Ja, wenn ich jetzt nicht hinterherschwimme, hat er keine Chance.‘
Tobias baute sich vor mir auf, umklammerte meinen Arm, tat mir weh. ‚Du ertrinkst dort drin und wofür? Für einen besoffenen Idioten!‘
Ich verharrte, war sprachlos. Und alles was ich antworten konnte war: ‚Ich bin Rettungsschwimmerin! Ich muss!‘
Tobias zehrte mich zu den Kindern, seine Stimme überschlug sich: ‚Der ist dir wichtiger als die Kinder und ich?‘ Erst da realisiere ich, wie verstört meine Kinder wirken. Mias Augen glänzten, die für sie so typischen Flecken überzogen den Hals. Sie kaute auf den Nägeln, der erste Finger blutet bereits. Das hatte sie seit Jahren nicht mehr gemacht.
Und Paul! Er schluchzte, wimmerte. Ich habe mich hingekniet, wollte ihn trösten. Er schaute mich mit schreckgeweiteten Augen an, die Hand fest um die Finger seiner Schwester gekrallt. ‚Papa sagt, du wirst sterben!‘ Er hatte solche Angst. Ich wusste nicht, was ich tun soll, aber eigentlich stellte sich die Frage nicht.“

„Und dann hast du den Typen ertrinken lassen und daher ist jetzt alles so durcheinander?“ Anne hält die Spannung nicht mehr aus. Ich hatte bisher nicht darüber sprechen können. Auch jetzt wird mir übel.
„In dem Falle könnte ich die Gerichtsverhandlung wohl verstehen. Nein! Ich bin reingesprungen, hab den Rettungsring mitgeschleppt und bin so schnell geschwommen, wie meine untrainierten Arme es hergaben. Es war kalt, das Wasser zog an mir, das doofe T-Shirt schlapperte um mich und störte. Der Abstand war gewachsen, ablaufendes Wasser, Unterströmung. Mir war schnell klar, dass ich da nicht gegenanschwimmen könnte, aber einmal musste ich ihn ja erreichen. Und dann war er weg! Verschwand unter einer Welle.“ Ich schlucke, sehe die versinkende Hand vor mir.
„Musstest du tauchen?“
Während ich nicke, schmecke ich die Panik des Moments. In der Elbe zu tauchen war wie ein Darkroom. Nur Finsternis, nichts zu erkennen. Plötzlich griffen Hände nach mir. „Er kam wieder hoch, klammerte sich fest, versuchte auf mich zu klettern. Er zerkratzte mir die Schulter, das Gesicht, alles brannte.“
„Ah, bei sowas dürft ihr den zu Rettenden ausschalten, oder?“ Annes Augen leuchten fasziniert.
Ich muss mehrfach ansetzen, um weiterzusprechen. Bin wieder in der Angst der Rettungsaktion gefangen. Spüre die müden Muskeln, die zäher werdenden Bewegungen, die Angst, es nicht zu schaffen. Mit monotoner Stimme erzähle ich den Rest.
„Ich habe auf ihn eingeredet, meine Kraft war zu Ende, die Tiefe der Fahrrinne zog uns runter. Er war schon so fertig, ich konnte ihn mit dem Rettungsring auf Abstand drücken und sichern. Irgendwie bin ich mit der Strömung schräg zum Ufer geschwommen. Das Rettungsboot kam, keine Ahnung, wie lange das alles gedauert hat.“
„Also alles gut, du hast ihn gerettet und dir ist nichts passiert. Was soll das ganze Theater dann?“

Ich schüttle nur den Kopf. Den jungen Mann haben sie am Ufer reanimiert, im Krankenhaus ist er fast gestorben. Das passiert viel zu oft, alles umsonst.
„Am Ufer stand Tobias und hat mich aus kalten Augen gemustert. Er hat Paul festgehalten, ihn nicht zu mir gelassen. Ich sei verantwortungslos, keine Mutter. Nur Mia strahlte, sagte, ich wäre eine Heldin.“

Schwankend stehe ich auf, klammere mich an der Theke fest. „Und jetzt“, ich brauche zwei Anläufe, um den Satz richtig zu sortieren, „und jetzt hat Tobias vorerst das alleinige Sorgerecht, weil ich so verantwortungslos bin.“ Ich schluchze, aber mir ist alles egal. Anne nimmt mich in den Arm, der Barkeeper schaut verstört, die Umstehenden schütteln den Kopf. Keiner verflucht mich, so wie Tobias in der letzten Zeit.
Langsam schwanke ich nach draußen und lalle: „Wenn Euch einer sagt: Geht zum Strand! – entscheidet Euch anders, sonst ist das Leben im Arsch!“ Ein letztes Umdrehen meinerseits. „Aber auch das werde ich noch retten!“

 

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