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Erste Liebe
Ich fiel die Treppe hinauf.
Die meisten fallen die Treppe hinunter, ich fiel sie hinauf und schlug mir dabei das Knie an der eisenbeschlagenen Treppenkante auf. Es war das rechte Knie mit der großen Brandnarbe auf der Kniescheibe. Der Schmerz ließ mich zusammenzucken und aufschreien. Das Blut schoss aus der Wunde, und ich wimmerte noch mehr. Eine fremde Hand ergriff meinen Arm und zog mich hoch. Ich blickte in das Gesicht eines jungen Mannes, der mich aufmerksam musterte und fragte: "Alles ín Ordnung? Kannst du laufen?"
Ich starrte ihn wie hypnotisiert an, verschluckte meine Tränen und nickte. Sprechen konnte ich nicht. Was er wohl von mir denken mochte? Wie sah ich nur aus? Das Gesicht verheult, die Augen dick und rot und dagegen er! Wie kann man als Junge nur so schöne Haare haben, dachte ich auf dem Weg zum Sekretariat, um mir ein Pflaster zu holen.
Es war mein erster Tag auf der Erweiterten Oberschule und ich verliebte mich unsterblich in diesen jungen Mann, einen Schüler der zwölften Klasse, wie ich später erfuhr.
Sein Name, den ich nach vielen Fragen rausbekam, war Rüdiger Mehnert, ein großer, schlaksiger Junge mit langem blondem Haar.
Ich ging gern zur Schule und von nun an noch lieber. In den Pausen, während wir die Klassenzimmer wechselten, versuchte ich immer, einen Blick auf ihn zu erhaschen. Ich glaubte, man sah mir an, wie sehr ich ihn mochte.
Er nahm keinerlei Kenntnis von mir.
Wenn wir Hofpause hatten und um den Schulteich marschierten, wollte ich in seiner Nähe sein, seine Blicke auf mich ziehen. Nichts, er sah mich nie an. Unentwegt redete ich von ihm. Meine Freundin Gabi verbot mir schließlich, den Namen in den Mund zu nehmen, wenn ich mit ihr zusammen war.
Jedes Jahr fand in der Schule im Treppenhaus ein 'Treppenfest' statt.
Ich freute mich darauf, aber die Frage der Kleidung wurde zu einem fast unüberwindlichen Hindernis.
Die Scheidung meiner Eltern lag in den letzten Zügen und meine drei jüngeren Geschwister hatten ebenfalls ständig irgendwelche Wünsche. Da brauchte ich mit dem Wunsch nach etwas Neuem zum Anziehen gar nicht erst kommen. Ich war uneinsichtig und bockig, so, wie man mit vierzehn Jahren ist.
Ein neues Kleid sollte es sein, eines, das mich älter aussehen ließ. Wieso ging das nicht? Ich konnte doch Rüdiger nicht in meinem Jugendweihekleid gegenübertreten!
Mit Gabi versuchte ich dieses Problem zu lösen. Von ihr passte mir nichts, da sie einen Kopf kleiner und sehr viel dicker war als ich. Sie meinte aber, ihre Mutter habe genügend Klamotten und sie würde nichts merken, wenn sie ein Kleid aus dem Schrank entwenden würde.
Gesagt, getan.
Das Kleid war viel zu weit, hatte aber hinten eine Naht und wir beschlossen, es einfach von oben nach unten enger zu nähen. Natürlich ohne Maschine! Von hinten sah es liederlich aus, von vorn ging es. Wir beschlossen, dass meine Freundin immer hinter mir stehen und ich mich möglichst in Wandnähe aufhalten sollte.
Als wir auf dem Fest ankamen, waren schon sehr viele der Schüler und Lehrer da. Mein Herz schlug bis zum Halse, als ich Rüdiger sah. Er schaute in meine Richtung und ich glaubte, er meinte mich. Endlich! Aber nein, sein Freund tauchte gleichzeitig mit uns auf. Ich himmelte Rüdiger an, immer bemüht, es keinen merken zu lassen. Wie gern hätte ich mit ihm getanzt! Obwohl, ich konnte gar nicht tanzen. Und wenn er mich berührt hätte, ach, ich hätte alles dafür gegeben! Die Musik begann zu spielen und es wurde relativ schnell getanzt. Päarchen, die man vom Schulhof kannte, tanzten sehr eng miteinander. Wie ich sie beneidete! Rüdiger tanzte nicht. Ein Mädchen mit langem Haar unterhielt sich mit ihm, was ihn aber nicht hinderte, sich nach anderen umzuschauen und Gespräche zu führen.
Ich litt still.
Gabi wusste um meine Sehnsucht, hatte sich aber auch verknallt und kümmerte sich deshalb nicht weiter um mich. Dass sie immer hinter mir stehen sollte, hatte sie längst vergessen. Auch sie buhlte um die Aufmerksamkeit eines Jungen aus den oberen Klassen.
Plötzlich hörte ich, wie jemand sagte: DAMENWAHL!
Damenwahl... Damenwahl... wie durch einen Schleier hörte ich es und dachte, oh Gott, das ist deine Chance! Jetzt oder nie! Du musst ihn auffordern... einfach hingehen, jetzt!
Wie im Trance ging ich zu ihm hin und bat mit total heiserer Stimme um den Tanz.
Die Gespräche um ihn verstummten, er schaute vollkommen verdutzt auf mich herunter, lächelte verlegen, schaute zur Seite, schaute mir wieder in's Gesicht und sagte:
"Gut, komm mit!"
Und dann tanzte ich mit ihm. Ich, die nicht tanzen konnte, bewegte mich wie eine, die meinte, tanzen zu können. Ich vergaß die liederliche Naht an meinem Rücken, vergaß meine Umwelt. Ich tanzte! Mit ihm! Er hielt die drei Titel durch und brachte mich dann zu meiner Freundin zurück. Ich war einfach nur glücklich.
Wenn wir uns später im Schulhaus trafen, schaute er sofort weg. Gerne hätte ich mit ihm gesprochen, über diesen Tanz, über irgendetwas, einfach nur sprechen. Mit fehlte der Mut für einen zweiten Anlauf und irgendwann war es vorbei mit meiner Schwärmerei.
Jahre später, als ich in Berlin an der Humboldt-Universität studierte und auf einem der seltenen Wege nach Hause war, traf ich ihn im Zug. Ich hatte ihn schon auf dem Bahnsteig gesehen, kurz überlegt, ihn anzusprechen, aber wozu?
Der Zug war brechend voll und ich bekam nur einen Stehplatz. Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter und instinktiv wusste ich: Das ist er!
Überrascht starrte ich ihn an, fühlte, wie meine Narbe am Knie pochte.
"Bist du nicht die Cordula Schreiber?" fragte er, fast ein wenig aufgeregt.
Ich nickte und blieb stumm. Dass er meinen Namen wusste, verwunderte mich total.
"Erinnerst du dich an das Treppenfest?", fragte er weiter. Ob ich mich erinnerte? Was für eine Frage!
"Ich war damals vollkommen überrascht, als du mich zum Tanzen aufgefordert hast. In meiner Clique wussten alle, dass ich Tanzen ablehne, ich mochte es einfach nicht, mich so zu zeigen. Aber wie dein Gesicht geglüht hat und deine Augen leuchteten, ich konnte gar nicht ablehnen, verstehst du? Und was hattest du bloß für ein komisches Kleid an?"
Ich schaute ihm weiterhin stumm in's Gesicht, als er fortfuhr:
"Kannst du dir vorstellen, dass ich bis zu diesem Tage noch nie getanzt hatte? Was meinst du, wie mich die anderen hinterher aufgezogen haben! Ich wollte dir das schon lange mal sagen. Immer, wenn ich an unserer 'Penne' vorbeilaufe, muss ich daran denken!" beendete er verlegen lachend seinen Monolog.
Ich beugte mich nach unten, rieb die Narbe an meiner Kniescheibe. Ob er sich auch daran erinnerte, dass er es war, der mir damals beim Aufstehen nach dem Sturz geholfen hatte? Ich könnte ihn fragen, jetzt, nur, wollte ich das? Nein, ich hatte meine erste Liebe, die doch nur eine Schwärmerei war, als meine Erinnerung abgespeichert, wollte ihn nicht mehr daran teilhaben lassen.
Langsam kam ich wieder hoch und stimmte in sein Lachen ein.