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Es sind die Fische

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02.01.2011
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Es sind die Fische

Sie klopft ans Fenster, öffnet die Wagentür. Regen prasselt auf die Windschutzscheibe. Er stellt das Radio leiser. »Komm rein«, sagt er.
Sie steigt in den Wagen, zieht sich die Kapuze ihres Pullis vom Kopf. »Ist das ein Regen, Papa«, sagt sie.

Vor dem Haus hält er am Bordstein. Der Himmel olivschwarz, Straßenlaternen gießen gelboranges Licht. Der Asphalt nass und glänzend.
»Komm noch mal mit rein«, sagt sie. Ihr Gesicht, ihr kastanienbraunes Haar.
»Ich weiß nicht«, sagt er. Schaut auf die Straße, dann durchs Seitenfenster hoch zum Haus.

Hat seine Stiefel ausgezogen. Trägt noch die schwarze Bomberjacke – auf der Rückseite, in großen, gelben Buchstaben: ›WSDS – Sicherheit‹.
Klopft dreimal an die Wohnzimmertür. Drückt den Griff nach unten und öffnet die Tür einen Spalt breit. Hört den Fernseher laufen. »Guten Abend«, sagt er.
Seine Frau liegt unter einer hellblauen Stoffdecke auf der Couch, mit dem Kopf auf dem Bauch des anderen Mannes.
»Ich wollte nicht stören«, sagt Toni. »Sie wollte mir nur noch was zeigen«, sagt er.
Lotte setzt sich auf, fährt sich durch die Haare. Der Mann neben ihr nimmt die Fernbedienung in die Hand und schaltet die Lautstärke herunter.
»Ist okay«, sagt Lotte. Setzt sich jetzt komplett auf, stellt die Füße auf den Boden und fährt sich durch das dunkle, lange Haar. Noch in die Decke gehüllt. »Es sind die Fische«, sagt sie.
»Ja«, sagt er, »genau.«
Der Mann mit der Fernbedienung in der Hand blickt ihn an. Dunkles Haar, Fleece-Pulli. Etwa in seinem Alter. Achtunddreißig. Der Mann nickt leicht, sagt: »In Ordnung.«

»Der Blaue ist ein Panzerwels«, sagt seine Tochter. Das Aquarium steht auf ihrer Holzkommode. Ihr Zimmer mit hellblauen Wänden. Schrank, Bett, Schreibtisch, Teppich. In der oberen Ecke schwarzer Schimmel; die Dachschräge so, dass er gebückt gehen muss.
»Und der Rote mit den langen Flossen ein Skalar«, sagt sie, blickt zu ihm und lächelt.
»Schön«, sagt er. Sein Rücken schmerzt; wieder die Kopfschmerzen. Manchmal helfen die Tabletten nicht mehr, dann zieht der Ischias bis hinter die Stirn, hinter die Augen. Von unten hört er den Fernseher laufen.

Draußen ist der Regen noch stärker geworden; silberne Tropfen, die im Dunkel des Abends vom Himmel fallen.
»Na dann«, sagt er. Dreht sich unter dem Vordach von der Straße zu seiner Tochter; sie steht in der Haustür, in Plastiksandalen, blauer Jogginghose, waldmeistergrünem, weitem Kapuzenpulli. Die Haare zum Pferdeschwanz.
Er greift in die Brusttasche seines Flanellhemdes, zieht eine Pall Mall aus der Schachtel. Zündet sie an. Seine Tochter kommt zu ihm und umarmt ihn. Er legt den Arm um sie und küsst sie in ihr Haar.
»Du weißt, dass ich dich lieb hab?«, sagt sie, mit dem Gesicht vergraben an seiner Brust.
»Weiß ich«, sagt er.
»Dass du immer anrufen kannst, wenn was ist.«
Er zieht an der Kippe. Sie löst ihr Gesicht von ihm, blickt hoch zu ihm, lächelt leicht.
»Mach dir um mich mal keine Sorgen«, sagt er. Streicht ihr mit der Hand über den Kopf, sieht ihr in die Augen, nickt.

In seiner Wohnung setzt er sich mit noch nassen Klamotten aufs Bett. Regen prasselt aufs Fenstersims. Trägt noch Bomberjacke, schwarze Arbeitshose, Boots. Seine kinnlangen Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Schaltet den Fernseher ein. In der Wohnung unter ihm lachen Männerstimmen, Stühle werden gerückt. Zieht sich eine Pall Mall aus der Brusttasche seines Hemdes. Legt seinen Kopf einen Moment in seine Hände. Seine Statur über eins neunzig. Hundertzwanzig Kilo. Kräftige Unterarme. ∆, □ und ○ auf die Fingerrücken seiner rechten Hand tätowiert. Aus den Boxen des Röhrenfernsehers die überdrehte Stimme des Nachrichtensprechers. Überschwemmungen in Sachsen. Menschen in gelben Warnwesten. Sandsäcke, Feuerwehr, technisches Hilfswerk. In Norddeutschland drohen Dämme zu brechen.

Parkt mit dem Volvo direkt auf der Baustelle. Im Heckfenster in großen, gelben Buchstaben: WSDS – Sicherheit. Links und rechts von ihm fünfstöckige Rohbauten; Sozialwohnungsbau. Zieht sich die Regenjacke über, Kapuze. Die Keller laufen jetzt voller Wasser. Läuft einmal die matschige Straße entlang, die Hände in den Jackentaschen. Kühler Nieselregen auf seinem Gesicht. Er kontrolliert, ob die Türen verschlossen sind. Kupferbrüche, Werkzeugklau – häufiger, als man denkt. Trägt nicht mal CS-Gas in der Jacke. Ein Nokia in der linken Beintasche, Kurzwahl 1 der Chef, Kurzwahl 2 die Polizei. Das war’s.

Er erinnert sich an Lottes Anruf. Kurz nach Weihnachten vor drei Jahren. Er hörte, dass sie getrunken hatte. Sie brauchte nur »Hallo« zu sagen und er wusste, wenn sie getrunken hatte. Sie sagte, sie sage es ihm am Telefon, weil sie nicht wüsste, ob sie es anders könne; ob sie es ihm dann wirklich sagen würde. Ob ihr dann nicht die Kraft dafür fehlen würde. Sie sagte, sie wüsste nicht, was sie empfinden würde, wenn sie ihn vor sich sähe. Dass sie glaube, es nicht zu schaffen, wenn sie jetzt keinen Schlussstrich ziehen würde.
Sie meinte, sie hätte ihn in einer ihrer Therapiesitzungen kennengelernt. Dass sie sich seit ein paar Monaten mit ihm treffe. Dass er ihr gut tue. Dass er noch nie einen Tropfen Alkohol in seinem Leben getrunken hätte.
Er sei Vorarbeiter bei Bosch-Rexroth. Er sei geschieden, kinderlos, und hätte ein Haus. Anna war damals zwölf.

Zuhause klingelt das Telefon.
»Ich bin’s«, sagt Lotte.
Er fährt sich mit Daumen und Zeigefinger über die Unterlippe, sieht einen Moment auf die graue Tapete des Flurs. »Alles in Ordnung?«, fragt er.
»Ja«, sagt sie. Sie atmet tief ein und aus. Atmet so, wie sie atmet, wenn sie sich durch die Haare fährt. »Nein. Es ist ...«
Ein Moment Stille.
»Ich kann’s dir nicht am Telefon sagen«, sagt sie. Hinter Lotte spricht eine Männerstimme, sagt ein paar Worte. Lottes Atem im Telefonhörer. »Es ist blöd, dir das am Telefon zu sagen«, sagt sie. »Aber ich denke, du solltest es erfahren.«

Tief hängende, schwere graue Wolken. Nieselregen. Klamme Kälte, die direkt unter die Haut kriecht. Steht mit dem Wagen am Bordstein vor ihrem Haus. Regentropfen platzen auf der Windschutzscheibe. Reibt sich die Hände. Blickt durchs Seitenfenster seines Volvos. Der andere Mann öffnet die Haustür. Jägergrüne Regenjacke, graue Stoffhose. Seine dunklen Haare wie Kohlstücke, die in feuchte Erde gerieben wurden. Der Mann steht in der Tür und zieht sich seine Schuhe über. Lotte kaum wahrnehmbar hinter ihm. Er dreht sich ins Haus, sagt etwas, nickt. Blickt zu Tonis Wagen. Schließt die Haustür. Läuft mit geradem Rücken über das kleine Stück Rasen zur Straße. Zieht sich dabei den Kragen zurecht. Öffnet die Mechanik der Beifahrertür; steht einen Augenblick regungslos mit der Hand am Griff draußen neben dem Volvo. Dann öffnet er die Wagentür, bückt sich und blickt mit zusammengekniffenen Augen in den Innenraum. »’n Tag«, sagt er. Steigt in den Wagen. Schließt die Tür. Blickt aus dem Beifahrerfenster. »Was ’n Sauwetter heute«, sagt er.
Toni nickt. Greift die Schachtel Pall Mall von der Mittelkonsole, öffnet sie und hält sie dem anderen hin. »Zigarette?«, sagt er.
Der andere Mann dreht sich um, sieht einen Moment auf die Schachtel. »Wieso nicht«, sagt er.
Gibt erst dem anderen Mann Feuer, dann sich selbst. Der andere zieht an der Kippe, pustet den Rauch aus. Schaut auf die Glut des Tabaks, dann auf das Armaturenbrett. Seine Hände dreckig, schwarz und in den Innenflächen leicht ölverschmiert. Seine Hände dick und rau, wie sie nur Leute haben, die täglich mit ihnen arbeiten. Ein blauschwarzes, verlaufenes Tattoo am Handgelenk unter seinem Jackenärmel.
»Ich will, dass du eins weißt«, sagt der Andere. »Dass ich ’nen verdammten Respekt vor deinen beiden Damen habe.« Er zieht an der Zigarette, pustet den Rauch aus den Backen. Lehnt mit dem Ellbogen am Fensterrahmen. Fährt sich mit der Hand über den Kopf. »Dass ich ’nen verdammten Respekt vor Familie habe. Familie ist alles«, sagt Andreas.
»Ja«, sagt Toni. Er zieht am Filter, lässt Rauchsäulen durch seine Nasenlöcher entweichen. Die eine Hand auf dem Lenkrad, die andere auf seinem Hosenbein.
»Die Kleine ist für mich jetzt auch Familie«, sagt Andreas. Sein Gesicht kernig und wettergegerbt. Von feinen Falten durchzogen. Seine Lippen dünn, seine Wangen glattrasiert. Seine Haare nach hinten gekämmt. Geheimratsecken. »Und wer sich mit meiner Familie anlegt –« Seine Augen blau wie Frostschutzmittel. Presst die schmalen Lippen zusammen. Atmet durch die Nase. Dreht den Kopf zum Beifahrerfenster. Fährt sich mit der Hand den Oberschenkel auf und ab. Zieht an der Zigarette.

Hohe Bäume in saftigem Grün, die vom Wind geschüttelt werden. Rechts von ihnen ein Fahrrad-Verkehrsgarten für Kinder. Dahinter die grauen Fassaden eines Gymnasiums. Weiter vorne die hohen Maschendrahtzäune eines Bolzplatzes.
»Ja«, sagt Andreas. Blickt aus dem Seitenfenster. »Hier.«
Zieht die Handbremse. Dreht den Motor des Volvos ab. »Gut«, sagt Toni. Wolkendecke grau, die Luft klar und feucht.

Gehen den Sandweg der Parkanlage entlang. Andreas einen Schritt vor ihm. Andreas’ Rücken gerade, seine Schritte groß. Jägergrüne, lange Regenjacke. Die Arme steif und gerade herabhängend, die Hände fest geballt.

»Bingo«, sagt Andreas. Blickt zu Toni und nickt vor zur Parkbank. Einer sitzt auf der Rückenlehne. Zwei tragen dunkle Caps, der Dritte an den Seiten abrasiertes, zur Seite gekämmtes, rabenschwarzes Haar. Ihre Haut sandfarben dunkel. Nicht älter als fünfzehn. Blaue und rote Adidas-Trainingsjacken. Helle, ausgewaschene Jeans, die sie bis zu den Knöcheln hochgeschlagen haben. Jogginghosen von Nike. Zigaretten in ihren Händen.
Der mit dem gekämmten Haar auf der Parkbank – sein Blick auf ihm und Andreas. Sein Blick, als ob er auf etwas Großes sehen würde: einen Felsen, eine Raubkatze, eine Lawine oder Berg.
Seine Freunde drehen sich jetzt auch. Blicken auf Toni, als ob sie auf etwas Zerfallendes blicken würden; als ob sie einen Mann stürzen oder Schnee fallen sehen würden.
»Bist du Enis?«, sagt Toni lautstark im Schritt; hält einen halben Meter vor der Parkbank an. Die Daumen seiner Hände in die Gürtelschlaufen seiner Jeans gesteckt. Schulter an Schulter mit einem der Stehenden.
»Was is’?«, sagt Enis; blickt über Tonis Schulter zu Andreas, dann wieder zu Toni.
»Was ist dein scheiß Problem, Alter?«, sagt einer der Cap-Träger.
Toni schiebt ihn mit der Hand eine Armlänge von sich. »Geht dich nichts an«, sagt er. »Geht nur mich, ihn und meine Tochter was an!«
Enis’ Augen rostbraun wie ein gesunkener, am Grund eines Meeres liegender Tanker. Wie Dellen in einem Auto.
Andreas fast geräuschlos, mit wenigen Schritten von hinten. Packt Enis in den Schwitzkasten. Enis schreit auf. »Ah!« Die beiden gehen zu Boden. Das Geräusch ihrer Schuhe, die auf dem Sandweg entlang rutschen. Der Geruch von Enis’ leichtem Parfum.
»Ey!«, schreit einer der beiden Stehenden. Wollen an Toni vorbeigehen, zu Enis und Andreas. Toni stößt beide nacheinander mit den Händen zurück. Einer fällt mit dem Rücken auf die Wiese.
»Was soll die Scheiße?«, schreit der Stehende mit der Cap. Klopft sich mit den Händen auf die Brust, streckt sie aus.
Hört Enis röcheln. Enis’ Kopf rot; schwarzer Flaumbart unter seiner Nase.
»So regeln wir das hier«, sagt Andreas. Hält Enis im Schwitzkasten, auf dem Sandweg. Dreht Enis’ Kopf. Packt ihn an den Haaren und drückt sein Gesicht auf den Sandweg. »Friss das«, sagt Andreas. »Du weißt, wofür das ist?«, sagt er. »Mach dein Maul auf!«

Schließt die Wagentür. Andreas auf dem Beifahrersitz, schnauft. Der Geruch von Blut, Erde und Regen. Andreas’ Hände rot, die Haut seiner Fingerknöchel aufgeschürft. Seine frostschutzblauen Augen weit aufgerissen.
»Alles klar?«, fragt Toni und schaut in den Rückspiegel.
»Ja«, sagt Andreas. Schnieft mit der Nase. »War nie besser.«
Schweigen einen Moment. Schnaufen. Andreas fährt sich mit der Zunge über die Unterlippe, mit der Hand durch sein Haar.
»So regeln wir das hier«, sagt Andreas.
»Ja«, sagt Toni.
Dann: »So haben wir’s hier schon immer geregelt. Jetzt wissen sie, wie wir das hier regeln. Da hilft nichts«, sagt Andreas. »Wenn du wüsstest«, sagt Andreas. Er schüttelt den Kopf, schweigt einen Moment. »Diese Nigger verstehen nur eine Sprache«, sagt er.
Toni mit dem Lenkrad in der Hand. Nickt. Dreht sich zur Rückbank, greift eine Dose Carlsberg aus dem Sechserträger im Fußraum. Blickt aus dem Seitenfenster. Nimmt die Dose zwischen die Beine, drückt den Verschluss ein.
Andreas’ Blick auf der Dose. Auf Tonis Gesicht. Dann wieder auf der Dose.
Trinkt einen großen Schluck. Kaltes, würziges Bier. Dann noch einen. Fährt sich mit dem Ärmel über den Mund.
Andreas atmet. Sein Blick auf Toni. Andreas fährt sich mit der Zunge über die Unterlippe. Mit der kräftigen, breiten Hand über die glattrasierten, wettergegerbten Wangen. Hebt die Augenbrauen hoch, zischt mit der Zunge, dreht sich zum Seitenfenster, legt die Hand auf den Oberschenkel und schüttelt den Kopf.

Vor dem Haus dreht Toni den Motor ab. Die linke Hand hat er noch am Lenkrad. In der rechten, auf seinem Oberschenkel, die Dose Carlsberg. Er blickt vor sich durch die Windschutzscheibe.
Andreas auf dem Beifahrersitz. Sitzt mit geradem Rücken da. Fleece-Pulli. Darüber die geöffnete, jägergrüne Jacke. Nieselregen prasselt auf das Autodach.
»Na dann«, sagt Andreas.

Toni blickt durch die Windschutzscheibe. Sagt kein Wort.
Andreas wischt sich mit der Hand unter die Nase. Schnieft. Sieht noch zu Toni, nickt; dreht seinen Kopf, blickt durch das Beifahrerfenster. Öffnet die Wagentür einen Spalt breit; sitzt da und hält den Griff einen Moment regungslos in der Hand. Blickt aus dem Beifahrerfenster. All der Regen. All das Wasser. Die Lichter im Haus des anderen Mannes brennen; schimmern goldgelb durch die Fenster, in die Dunkelheit des anbrechenden Abends.
Dann öffnet Andreas die Tür, steigt aus und schlägt die Tür zurück in die Karosserie.
Toni blickt durch das Beifahrerfenster. Der andere Mann geht im Regen über das Stück Rasen. Geht mit großen Schritten, aufrechtem Haupt. Die Hände vergraben in den jägergrünen Jackentaschen.

Er sitzt im Wagen. Steckt sich eine Pall Mall aus der Packung in der Mittelkonsole an. Der herbe, nach Schweiß und Holzspänen riechende Geruch des anderen Mannes noch im Innenraum. Er inhaliert den Zigarettenrauch. Pustet ihn langsam durch Nasenlöcher und Mund aus. Die Dose Carlsberg in der Rechten, auf seinem Bein. Die andere Hand am Lenkrad gelehnt. Er trinkt. Fünf, sechs, sieben große Schlucke. Stellt die leere Dose zurück in den Fußraum des Rücksitzes. Greift sich ein neues Bier, drückt den Verschluss der Dose ein. Bückt sich, blickt durchs Seitenfenster hoch zum Haus. Sieht Lotte mit verschränkten Armen an einem der Fenster im Erdgeschoss stehen, zu ihm blickend. Lotte dreht sich weg, und das Gesicht des anderen Mannes erscheint im Fenster, blickt ihn an.
Regentropfen prasseln auf die Motorhaube, die Windschutzscheibe und das Dach. Schwarze, tief hängende Wolken über dem Viertel.
Trinkt noch einen Schluck. Steckt sich noch eine Zigarette an. Sieht die Haustür sich öffnen. Sieht Lotte dort in der Tür stehen, unter dem Vordach, mit verschränkten Armen. Trägt Jogginghose, Hausschlappen und rosa Sweatshirt. Das Gesicht des anderen Mannes im Gang hinter ihr. Sie steht einen Moment da; dann blickt sie nach links und rechts, die Arme verschränkt, und läuft durch den Regen über den Rasen. An der Straße klopft sie am Beifahrerfenster. Er kurbelt die Scheibe herunter. Sie bückt sich, blickt mit zusammengekniffenen Augen in den Innenraum. Hebt grüßend die Hand. Die Arme verschränkt. »Hallo«, sagt sie.
»Hi«, sagt er.
Sie atmet tief ein. Ihr Haar feucht vom Regen. Kälte zieht in den Wagen.
»Du stehst noch hier«, sagt sie. »Vor dem Haus.«
»Ja«, sagt er. Blickt einen Moment durch die Windschutzscheibe, dann wieder zu Lotte. Schweigen einen Augenblick.
»Alles in Ordnung?«, fragt sie.
Er fährt sich über die Nase, legt die Hand vom Lenkrad auf sein Bein. »Sag du’s mir«, sagt er. »Sag du mir, ob alles in Ordnung ist.«
Sie hebt ihren Kopf aus dem Beifahrerfenster, lacht leicht, schüttelt den Kopf, dann bückt sie sich wieder. Der Regen so laut, dass sie beinahe schreien müssen. »Ich lass mich darauf nich’ ein«, sagt sie. »Ich bin durch damit«, sagt sie.
Er dreht seinen Kopf, blickt durch die Windschutzscheibe.
»Fahr nach Hause«, sagt sie. Hebt ihren Kopf. Bückt sich wieder, blickt durch das Fenster in den Wagen und hat Tränen in den Augen. »Bitte! Mach’s nicht noch schlimmer, als es ohnehin schon ist.«
Sie hebt wieder den Kopf. Dreht ihm den Rücken zu. Ein paar Kilometer entfernt ein Donnerschlag. Regen prasselt vom Himmel, dicke Tropfen platzen auf der Windschutzscheibe. Sie steht mit verschränkten Armen auf dem Gehsteig, neben dem Volvo. Dann geht sie mit großen Schritten über das Stück Rasen zum Hauseingang. Der andere Mann steht noch dort; mit geradem Rücken, im Fleece-Pulli. Blickt zu Toni. Ein Blitz am Himmel. Sie schließen die Haustür. Lottes Gesicht erscheint in einem der beleuchteten Fenster. Dann das Gesicht des anderen Mannes. Sehen ihn an. Toni zündet sich eine neue Zigarette an. Fährt sich über den Kopf. Schließt die Augen. Legt seinen Kopf in den Nacken. All die Keller, die jetzt voller Wasser laufen. All die Dämme, die zu brechen drohen. All die Menschen in gelben Warnwesten.

Sieht seine Tochter von der Haustür über den Rasen gehen, durch die silbernen, dicken Regentropfen. Er kurbelt das Beifahrerfenster herunter. Ihre Hände stecken in den Jackentaschen, sie trägt eine Jogginghose und Plastiksandalen.
»Papa«, sagt sie und lächelt. »Wie lange stehst du schon hier draußen?«
Er sieht das blaue Feilchen an ihrer rechten Wange.
»Komm rein«, sagt er, »es regnet.«
Greift sich eine neue Dose Carlsberg aus dem Fußraum der Rückbank. Drückt die Zigarette in den Aschenbecher der Mittelkonsole.

»Nein«, sagt sie, »das macht mir nichts.« Sie legt ihren Kopf in den Nacken, öffnet den Mund und streckt die Zunge heraus. Bückt sich wieder zum Beifahrerfenster. Sie kaut auf einem Kaugummi. Trägt grüne Regenjacke. Süßer Cola-Geruch in ihrem Atem.
»Eine meiner Fische ist gestorben«, sagt sie und sieht ihn an. »Ich hab ihn Rusty genannt.«
»Rusty«, sagt er.
»Ja«, sagt sie.
Er trinkt vom Carlsberger. »Was hast du mit ihm gemacht?«, fragt er. »Mit Rusty?« Dann: »Hat ihn Andreas weggeschmissen? Oder Mama?«
»Nein«, sagt sie. Sie zieht ihre Hand aus der Jackentasche und hält einen mit Wasser gefüllten Klarsichtbeutel in der Hand. Roter, schmaler Fisch mit prächtigen langen, segelgleichen Flossen treibt regungslos darin.
Ihre Augen plötzlich rot, tränengefüllt. »Ich weiß nicht, wie ich ihn begraben soll«, sagt sie. »Ich will ihn nicht ins Klo spülen oder so.« Sie schnieft. »Krieg ich ’ne Zigarette, Papa?«
Er greift nach seiner Schachtel, öffnet sie und hält sie ihr hin. Sie zieht eine Zigarette heraus, schnieft und fährt sich mit dem Handrücken über die Augen. Er hält ihr mit beiden Händen das Feuer hin. Sie raucht, fährt sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Es war Rusty«, sagt sie.
»Ja«, sagt er.
»Ich hab ihn so lieb gehabt«, sagt sie.
»Ja«, sagt er. »Ich weiß.«
Sie raucht. Senkt den Kopf, hält sich die Hand vor ihren Augen; ihr Brustkorb bebt für einen Moment. Ihr Mund vom Weinen verzogen. Tränen mischen sich mit Regentropfen.
»Gib ihn mir«, sagt er. »Gib mir Rusty. Ich mach das.«
»Okay«, sagt sie. Fährt sich über die Augen. Sieht ihn an, schnieft. Reicht ihm den Klarsichtbeutel. »Du kümmerst dich um ihn, versprochen?«
»Ich werde ihn anständig begraben«, sagt er. »Er wird ein Grab bekommen, so wie es Rusty verdient hat.«
Sie fährt sich über die Augen. »Ja«, sagt sie. Sie steht da, sieht ihn an: gebückt, durchs Beifahrerfenster blickend; der Regen glänzend auf ihren haselnussbraunen Haaren, ihrem Gesicht, den Sommersprossen, der kurzen, spitzen, nach oben gebogenen Nase. Die dünnen Arme, die großen, blaugrünen Augen.
»Geh jetzt wieder rein«, sagt er.
»Okay«, sagt sie. Zieht an der Zigarette. »Du weißt, dass ich dich lieb hab, Papa?«, sagt sie. Ihre Augen wieder tränengefüllt. Das Zucken ihres Mundes.
»Ja«, sagt er und sieht sie an. »Ich dich auch. Ich liebe dich auch.« Er sagt: »Es gibt niemanden, den ich mehr liebe wie ich dich liebe.« All das Wasser, das vom Himmel fällt. Er sieht sie an, fährt sich über den Mund. »Aber geh jetzt wieder rein, Kleines«, sagt er.
Dann sieht er sie in großen Schritten über den Rasen gehen, zurück zum Haus. Gelbes Licht fällt durch die Fenster hinaus in die Dunkelheit. Tief hängende, grauschwarze Wolken, aus denen all das Wasser bricht. Unter dem Vordach bleibt sie stehen, dreht sich in der Regenjacke noch einmal zur Straße und hebt grüßend die Hand. Auf dem Beifahrersitz liegt der wassergefüllte Klarsichtbeutel mit dem regungslos darin treibenden roten, schmalen Fisch, mit den prächtigen, langen, segelgleichen Flossen. Kurbelt das Fenster wieder hoch.
Der aufschlagende Regen so laut, als hätte er selbst eine Stimme. Als würde er selbst zu ihm sprechen.
Er atmet tief ein und aus, fährt sich über den Kopf und legt anschließend sein Gesicht einen langen Moment in seine Hände.
Und dann, als er wieder hoch zum Haus blickte, sah er es. Er sah, wie der andere Mann an einem der beleuchteten Fenster des Hauses stand, im weißen T-Shirt, zu ihm hinausblickte und an einem orangenen Wassereis leckte. Daneben, im Fenster der Küche, sah er seine Tochter und seine Frau; wie sie nah beieinander standen, Worte zueinander sagten und sich umarmten; wie seine Tochter ihren Kopf in die Brust seiner Frau vergrub. Und im Nebenzimmer wieder der Kopf des anderen Mannes: Wie er hinter der Fensterscheibe stand, im Warmen, und mit seinen Lippen das Stieleis umschloss. Wie er sich das Eis rein und raus in den Mund schob, daran leckte. Wie er mit geöffnetem Mund seine Zungenspitze über die Ränder des Eises führte. Und ihn, der draußen im Wagen saß, dabei nicht aus den Augen ließ.

 

@wörtherr

Ah, okay. Ich kenne solche Situationen bzw. hatte sie vor Augen, wenn man mit jemandem, der im Auto sitzt, reden möchte; man geht zum Fenster und derjenige meint: Komm, steig doch ein, es regnet doch wie verrückt. Sowas hatte ich vor Augen. Aber vielleicht ist es ein wenig seltsam ausgedrückt. Ich werde es mir mal notieren und drüber schauen, wenn ich ein wenig Abstand zum Text bekommen habe.

Danke für deine erneute Rückmeldung!
zigga

 

Hallo @zigga

Ich weiß, dass mit dem Stileis wurde schon diskutiert und von einigen für gut befunden.

Mich persönlich hat diese Szene extrem gestört.
Machtdemonstration ja. Sexuelle Machtdemonstration nein.
Warum?
Der Andere hat ihm die FAMILIE weggenommen. Ich fände es viel stärker, wenn der andere seine beiden Frauen tröstend in den Arm nimmt. Er sieht durch das Fenster nur die Rücken der Mädels und der Andere sieht ihm direkt in die Augen (das ist jetzt MEINE).
Ich fände diese Eismetapher passend, wenn eine Bitch versuchen würde, ihren Ex eifersüchtig zu machen. Aber die Frau ist ja nicht mehr interessiert.
So wirkt es auf mich schwul oder auf das sexuelle beschränkt.
Glaube Toni ist es wurscht, dass die beiden jetzt Sex haben.
Er will seine Familie.

Sonst super tolle Geschichte. Kann mich da total einfühlen. War selbst mal die Neue.

Das Stakkato hat mich insbesondere im Auto nach der Parkszene gestört. Sonst fand ich es ok. So schön Baubude Style.

Liebe Grüße
FräuleinWarum

 

Hallo @FräuleinWarum,

herzlichen Dank fürs Lesen und Kommentieren meiner Story und willkommen in unserem Forum!

Ich weiß, dass mit dem Stileis wurde schon diskutiert und von einigen für gut befunden.
Das macht doch nichts. Konträre Meinungen sind hier sehr willkommen und sind für den Autoren auch immer sehr interessant

Mich persönlich hat diese Szene extrem gestört.
Machtdemonstration ja. Sexuelle Machtdemonstration nein.
Aber ich finde, wenn es für dich als Machtdemonstration funktioniert bzw. du das so gelesen hast, ist doch alles in Ordnung? Also, für mich war das auch eine reine Machtprovokation. Oder anders: Ich finde, dass die Story gut funktioniert, wenn das Eisessen zum Schluss vom Leser als Machtdemonstration ggü. Toni gesehen wird. Oder meintest du, dass du eine Machtdemonstration gut fändest an dieser Stelle, aber keine "sexuelle"?

Der Andere hat ihm die FAMILIE weggenommen. Ich fände es viel stärker, wenn der andere seine beiden Frauen tröstend in den Arm nimmt. Er sieht durch das Fenster nur die Rücken der Mädels und der Andere sieht ihm direkt in die Augen (das ist jetzt MEINE).
Ja, so könnte man es auch gestalten. Ich finde die Idee nicht schlecht, aber ich muss auch sagen, dass sie etwas "abgeschmackt" ist - zumindest in der Form, wie ich sie mir gerade vorstelle. Also das wäre eine Szene, genau so wie man sie erwarten und "Ich habe dir deine Familie weggenommen" als Szene übersetzen würde. Klar, das Eisessen ist ein wenig gewagt von mir als Schreiber oder von der Story eben selbst. Hmm.

Ich fände diese Eismetapher passend, wenn eine Bitch versuchen würde, ihren Ex eifersüchtig zu machen.
So wirkt es auf mich schwul oder auf das sexuelle beschränkt.
:D Ja, du hast Recht. Da würde es auf jeden Fall 1A passen. Hier, mit dem Mann, hmm ...

Ich hatte halt durchaus einen Mann vor Augen, aber manchmal essen ja Leute Dinge richtig widerlich, sabbern dabei oder lecken eklig daran. So hatte ich das vor Augen beim Schreiben. Aber wenn es bei dir falsch rübergekommen ist oder einfach nicht passend für dich ist, ist das ein Problem des Textes.

Glaube Toni ist es wurscht, dass die beiden jetzt Sex haben.
Er will seine Familie.
Das denke ich auch!

Sonst super tolle Geschichte. Kann mich da total einfühlen. War selbst mal die Neue.
Super, danke!

Das Stakkato hat mich insbesondere im Auto nach der Parkszene gestört. Sonst fand ich es ok. So schön Baubude Style.
Baubuden Style :D Ja, schon ein wenig. Alles klar, ich werde mal über die Parkszene schauen beim Überarbeiten, ist notiert.

Vielen Dank für deinen Kommentar. Ich finde verschiedene Meinungen - auch zu einzelnen Szenen - immer sehr interessant und wichtig und deswegen danke ich dir für deine ehrliche Einschätzung. Freuen tut mich natürlich, dass dir die Story im Großen gut gefallen hat. Bin gespannt, auch mal etwas von dir zu lesen hier im Forum.

Schönes Wochenende!
zigga

 

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