Es war am 4. Juli - (1945)
Es war am 4. Juli
Rosemarie brühte sich echten Bohnenkaffee auf. Diesen Luxus verdankte sie, wie so vieles, Jim. Auch, dass sie nicht, wie ihre Freundinnen, mit dem Kajalstift Nähte auf die Waden malen musste, sondern echte Nylons trug, stets genug Zucker, Mehl und Brot hatte, sonntags ab und zu ein Stück Fleisch, ging auf sein Konto. Und dass sie es sich gönnen konnte, die Filterzigaretten zu rauchen statt sie auf dem Schwarzmarkt einzutauschen. Belebend zog der Duft des Kaffees durch die Küche, die sie sich mit seiner Hilfe notdürftig in einer Ecke des einzigen, intakten Zimmers eingerichtet hatte. Durch einen Vorhang abgetrennt stand das Bett in der anderen Ecke des Raumes, daneben die Babywiege. Und eine Truhe für die Kleider, die gleichzeitig als Tisch diente. Sie nahm sich den Becher mit Kaffee mit aufs Bett und beugte sich über die Wiege – alles in Ordnung, das Kind schlief friedlich. Es schien zu lächeln. Wie ein kleiner, schokobrauner Engel sah es aus mit seinen Löckchen und seinem Schmollmund. Sie lehnte sich zurück in die Kissen und nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. Sie blickte zur stark beschädigten Zimmerdecke hinauf und ließ ihre Gedanken den Mäandern des Zigarettenrauchs folgen. 4. Juli 1945 war’ s gewesen, kurz nach Kriegsende, da lud sie Trudi zum „Unabhängigkeitsfest“ in den amerikanischen Barracks ein. „Du kannst nicht immer nur schuften und drinnen sitzen“ hatte Trudi zu ihr gesagt, „und warten, dass Heinrich zurück kommt.“ Dieser Satz versetzte Rosemaries Herz einen Stich. Ihr Heinrich. Über ein Jahr war es her, dass sie den letzten Brief von ihm mit der Feldpost bekommen hatte. Aus Russ-land. Er deutete die Schrecken des Krieges an der Ostfront nur an, aber sie spürte, dass zwischen den Zeilen die nackte Todesangst mitklang. Und die Sehnsucht nach ihr, nach der Heimat. Nächtelang hatte sie danach denselben Albtraum: Sie sah ihn in Russland im Kampfgetümmel, die Granaten und Kugeln schlugen um ihn her ein, die entsetzlichen Schreie der Verletzten und Sterbenden umgaben ihn, er lag im Dreck, Seite an Seite mit seinen Kameraden, er sah schrecklich verändert und abgemagert aus. Plötzlich der Knall einer Granate, ohrenbetäubendes Pfeifen und ein blitzlichtartiges Feuer, an der Stelle, an der er zuvor gelegen hatte. Und stets erwachte sie schweißgebadet an dieser Stelle des Traums. Und weinte stille Tränen. Heute wollte sie nicht mehr länger an ihn, an diesen Albtraum denken. Sie wusste ja gar nicht, ob er noch lebte oder in Gefangenschaft war. Sie ging mit zum Fest bei den Barracks. Trudi kannte einige der GIs und machte sie schnell mit allen bekannt. Einer von ihnen, groß und schlank und dunkelhäutig, mit einem strahlenden Lächeln, forderte sie zum Tanz auf, als die Klänge der Jazzmusik ertönten. Schüchtern folgte sie ihm auf die Tanzfläche, sie kannte diesen Tanz noch nicht. Behutsam fasste er sie um die Taille und zeigte ihr einige Schritte und Drehungen. „My name is Jim“, stellte er sich vor. „I’m from Carolina“. Sie hatte keine Ahnung, wo in den USA das lag, aber der Name seiner Heimat gefiel ihr. „My mother’s name is Caroline“, stotterte sie. Später lud er sie auf einen Gin Tonic ein, dann einen Whisky Sour, dann – wusste sie nicht mehr, sie konnte sich die Namen all der Drinks, wie er diese nannte, nicht mehr merken. Sie tanzten die ganze Nacht, sie wurde immer ausgelassener und drehte sich immer wilder mit ihm, bis ihr schwindelig wurde. Besorgt führte er sie zu einem Stuhl. „Wanna go home?“ fragte er sie. Sie nickte. Er legte ihr die leichte Jacke über die Schultern und brachte sie, den Arm um sie gelegt, zu einem Jeep, in dem er sie nach Hause fuhr. Am Fuß der Treppe vor ihrem Haus angekommen, hob er sie lachend ganz auf seine Arme und trug sie das Treppenhaus hoch. Oben ließ er sie sanft auf das Bett gleiten. „Sweetheart“, seufzte er, als sie so da lag und küsste sie vorsichtig. Erstaunt erwiderte sie seinen Kuss, bis sie beide leidenschaftlicher wurden. An den Rest konnte sie sich nicht mehr erinnern. Nur, dass er in den folgenden Wochen stets am Wochenende mit seinem Jeep vor der Tür stand, sie zum Essen oder Tanzen einlud und all die schönen Dinge mitbrachte. Keine vier Wochen später suchte sie den Arzt auf und hatte Gewissheit: Sie war schwanger. Sie war zunächst verzweifelt, Jim ermutigte sie aber, das Kind zu bekommen. Wenn ihre Ehe mit Heinrich erst annulliert sei, würden sie heiraten und nach Carolina ziehen. Heute, ein Jahr später, wieder am 4. Juli, war er nicht da, er musste dringend nach Amerika, seiner Mutter gehe es sehr schlecht, hatte er gesagt. Sie seufzte. Würde er Wort halten? Draußen schlug die Tür. Der Wind, dachte sie. Jim musste mal bald die Scharniere festziehen. Die Treppenstufen knarrten. Sie bemerkte es kaum, so versunken war sie in ihre Träume von Jim und dem Leben in Carolina. Sie schaukelte die Wiege. Plötzlich merkte sie, dass jemand hinter ihr den Raum betreten hatte. Langsam drehte sie sich um – und erstarrte. Dort stand er, in seinem alten Wehrmachtsmantel. Mit genau demselben abgemagerten Gesicht wie in ihrem Albtraum: Heinrich! Er blickte sie mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an, trat näher, betrachtete das Kind, streckte wie ein Schlafwandler die Hand aus, legte sie sich vor die Augen, drehte sich um und stürzte hinaus. „Heinrich!“ schluchzte sie. Es war am 4. Juli. Danach war nichts mehr wie zuvor. © Heike van den Bergh