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Falkenfraß

UJ

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21.08.2001
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Falkenfraß

Düster und trostlos wirkte der abendliche Himmel über Manhattan. Eisig kalter Wind strich durch das Gefieder des Wanderfalken, der einsam seine Runden über dem Lichtermeer der Stadt zog. Langsam ging er tiefer, näherte sich den dunklen Steinriesen, aus deren verspiegelten Fenstern millionenfacher Lichtschein drang. Noch weiter unten, fast schon am Boden, schlängelten sich Leuchtreklamen in verwirrter Geometrie an den Häuserzeilen entlang. Ein paar Meilen entfernt schob der Hudson River seine schlammige, giftige Brühe dem Meer entgegen.

Ein plötzlicher Windstoß trieb den Falken in die Nähe eines der Hochhäuser. Ganz oben, fast schon unter dem flachen Dach, zog sich ein Sims um das Gebäude. Der Falke wußte, daß sich hier oft die verwilderten Tauben der Stadt einfanden um hier die Nacht zu verbringen. Er verspürte beißenden Hunger in seinen Eingeweiden, und sein Instinkt riet ihm, auf dem Sims zu landen und nach einer lohnenden Beute Ausschau zu halten.

Er tat, was sein Überlebensmechanismus ihm befahl. Mit der Eleganz des geborenen Räubers landete er auf dem steinernen Vorsprung, ganz in der Nähe eines Fensters.

Helles Licht drang durch die Scheibe hinaus in die Düsternis des Abends. Der Falke fand dieses Phänomen, daß bei Nacht scheinbar kleine Sonnen in den Behausungen jener seltsamen zweibeinigen Wesen zu erwachen schienen, immer wieder interessant. Dies weckte seine Neugier, und er wandte sich dem strahlenden Schein zu, um zu sehen, was sich hinter diesem Licht befand.

***

Mit zitternden Fingern goß sich Greg Dobs noch einen Bourbon ein. In sich zusammengesunken hockte er auf der geblümten Couch. Vor ihm auf dem niedrigen Tisch stand ein überquellender Aschenbecher. Eine Kippe, die er nicht richtig ausgedrückt hatte, qualmte vor sich hin und verbreitet einen üblen Geruch, als die Glut den Filter erreichte.

Greg kippte den Bourbon hinunter wie Wasser. Er sah hinüber zum Fernseher, der sinnlos bunte Bilder zu sinnlosen und unbedeutenden Werbespots aneinanderreihte. Der Werbeblock ging dem Ende zu, und es folgte noch ein Hinweis darauf, daß am nächsten Tag auf diesem Sender "Kevin allein zuhaus" gesendet wurde. Eine sympathisch klingende Sprecherin fragte die Zuschauer, ob sie es übers Herz bringen könnten, diesen Jungen allein zu lassen, während Macaulay Culkin in einen Spiegel sang.

Greg bemerkte, daß sein Glas schon wieder leer war, schenkte sich erneut ein und wandte sich dann dem Fernseher zu.

"Blöde Frage", sagte er sarkastisch zu dem Gerät, "und ob ich den allein lassen würde. Und zwar mit einem Hundert-Dollar-Schein auf die Stirn genagelt. Mitten in der Bronx!"

Rauh lachte er auf, als er sich diese Szene bildlich vorstellte. Sein Lachen ging in einen keuchenden Hustenanfall über, während der Fernseher weiterhin teilnahmslos vor sich hin flimmerte.

Himmel, ich werde noch zu einem gottverdammten Zyniker, dachte Greg, als er endlich wieder Luft bekam. Beinahe schon angewidert stellte er das Glas auf den Tisch. Mit einer müden Bewegung nahm er seinen Kopf zwischen die Hände und starrte darauf hinab. Einige Tropfen Bourbon befanden sich noch auf dem Boden des Glases.

Ein starker Windstoß rüttelte an den oberen Stockwerken des Hochhauses, in dem Greg lebte. Das Glas auf dem Tisch wackelte leicht. Die Bourbontropfen glitzerten im warmen Licht der Deckenlampe, funkelten Greg an wie Raubtieraugen in der Dunkelheit. Dieses Glitzern erinnerte Greg an etwas. Aus dem kaum merklichen Funkeln wuchsen Scheinwerfer heran. Plötzlich befand er sich wieder in seinem alten Dodge an jenem Abend, an dem es passierte. Wieder passierte, wie schon so oft in seiner Erinnerung.


Er sah den anderen Wagen heranrasen, hörte das schrille Kreischen der Bremsen. Er sah sich selbst, wie er verzweifelt am Lenkrad kurbelte, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Der Dodge holperte über den Gehweg, und fast glaubte er schon, es geschafft zu haben.

Doch dann wuchs drohend der Schatten des geparkten Pickups vor ihm auf. Mit einem trockenen Knallen bohrte sich die Schnauze seines Wagens in den Kleinlaster hinein. Trotz seines Schreckens sah er hinüber zu Jill, die kreidebleich in ihrem Sitz hockte. Hinten auf dem Rücksitz schrie die kleine Judy vor Angst in ihrem Kindersitz. Die Gurte verhinderten, daß sie nach vorn durch die Scheibe geschleudert wurden. Mit einem schrillen Kreischen schoben sie den Pickup vor sich her. Dann löste sich etwas, das auf der Ladefläche gelegen hatte. Langsam, so unendlich langsam rutschte das lange Kupferrohr herunter, durchbrach die Windschutzscheibe. Greg starrte in Jills Augen, als das Rohr ihre Brust durchbohrte und sie an den Sitz nagelte. Er sah, wie ihr Blick brach, ohne daß sie überhaupt verstanden hatte, was mit ihr geschah.

Wie ein Fremder starrte er den leblosen Körper neben sich an. Dann wanderte sein Blick nach hinten, zu der Stelle, an der das Rohr wieder aus dem Sitz hervorkam. Direkt dahinter befand sich der Kindersitz. Greg sah das helle Blut auf dem bunten Sitz. Die kleine Hand, die immer noch die Plastikrassel hielt, hing schlaff herab.

Irgendwann glaubte er, das schrille Jaulen von Sirenen zu hören. Als man versuchte, ihn aus dem Wagen zu ziehen, brach er zusammen. Danach war da nur noch eine tiefe, endlose Schwärze.

Knisternd gab der Fernseher seinen Geist auf. Rauch quoll aus der zersprungenen Mattscheibe. Seltsamerweise war das Glas, das Greg in den Fernseher geworfen hatte, nicht zerbrochen. Völlig unversehrt lag es auf dem Teppich, in den die wenigen Tropfen Bourbon versickerten.

Als Greg endlich völlig klar wurde, daß er sich seit dem schrecklichen Unfall immer weniger unter Kontrolle hatte, daß sein Leben nie wieder so sein würde, wie es einmal gewesen war, lachte er laut auf. Ein letzter Rest seines klaren Verstandes registrierte den Schmerz, der in seinem Lachen mitschwang.

Und das alles nur wegen diesem dreckigen Straßenköter, dem der Fahrer des anderen Wagens versucht hatte auszuweichen! Seit damals hatte Greg versucht sich einzureden, daß solche Dinge eben geschahen, nicht nur ihm, sondern Tausenden von anderen Menschen auf der Welt ebenfalls. Tag für Tag spielten sich Tragödien ab, die so sinnlos waren wie das Universum selbst. Doch nun konnte er nicht mehr. Er konnte es nicht mehr ertragen, mit diesen Bildern zu leben, die sich immer und immer wieder in seine Gedanken drängten. Er wußte nicht, was er tun sollte, er wußte nicht, warum es ausgerechnet IHN getroffen hatte.

Plötzlich wurde ihm klar, daß irgend jemand dafür büßen mußte. Büßen für den Schmerz, den er erlitten hatte, für den Verlust, der unwiederbringlich war. Andy Carson fiel ihm ein, der Fahrer, der lieber Gregs Familie geopfert hatte, als einen räudigen Straßenköter über den Haufen zu fahren. Greg war sich nicht der Unsinnigkeit seiner Gedanken bewußt. Und er wollte es auch gar nicht. Er wollte nur, daß jemand anderes ebenfalls leiden sollte. Wie er selbst!

Er eilte hinüber zum Schrank, riß die Schublade auf und griff nach der Waffe. Früher hätte er nie gedacht, sie einmal benutzen zu müssen. Eigentlich hatte er das Ding immer gehaßt, doch immerhin lebten sie in New York. Und er hatte eine Familie gehabt, die er hatte schützen müssen. Doch nun klammerte er sich wie ein Ertrinkender an den kühlen Griff. Mit glänzenden Augen starrte er auf den matt schimmernden Stahl hinab.

***

Unbeweglich stand Greg im Schatten der alten Bäume, die das Grundstück um Andy Carsons Haus umsäumten. Es war ein nettes, freundliches Haus, weiß gestrichen, mit einer Veranda
und Blumen vor den Fenstern. Ein Haus, wie es auch Greg vorgehabt hatte zu bauen, mit einem Garten zum Spielen für Judy, ein richtiges Heim für Jill, nicht wie diese Etagenwohnung in dem anonymen Hochhaus, das sie bewohnt hatten. Doch nun war es zu spät dafür. Noch ein Traum, den er getrost begraben konnte. Und schuld war nur dieser Carson. Oh, sicher, er hatte Mitleid geheuchelt, damals. Doch Greg wurde sich immer sicherer, daß Carson mit Absicht diesen Unfall verursacht hatte. Hätte Greg auch nur noch einen Funken klaren Verstandes besessen, wäre ihm der Irrsinn in seinen Gedanken aufgegangen. Doch alles, was er fühlte, war nur eine unbeschreibliche Leere, und er glaubte, irgendwo in dieser Leere einen kleinen Lichtschein zu erkennen. Dies war seine eigene, ganz persönliche Wahrheit. Die schwere Waffe in seiner Tasche vermittelte ihm das sichere Gefühl, das Richtige zu tun.

Langsam trat er aus den Schatten hervor und näherte sich den erleuchteten Fenstern.

Er sah Andy Carson vor dem Fernseher sitzen, zusammen mit seiner hübschen Frau (Jenny? Mary? Er hatte einmal gewußt, wie sie hieß. Egal) und seinem kleinen Sohn.

Er zog die Waffe hervor, zielte durch die Scheibe auf den nichtsahnenden Mann, der in seinem beschaulichen Heim saß, ein Heim, wie Greg es nie wieder haben würde.

Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter. Sanft, beinahe zärtlich. Zuerst registrierte er die Person hinter sich überhaupt nicht. Erst, als sie ihn ansprach, wurde er sich ihrer Anwesenheit bewußt.

"Willst du das wirklich tun?", fragte ein sanfte Stimme. Eine Stimme, die er kannte! Eine Stimme, von der er geglaubt hatte, sie niemals wieder zu hören. Abrupt drehte er sich herum.

"Jill?", kam es ächzend über seine Lippen. "Was ... Wie ...?"

"Schsch", machte sie und legte ihren Finger auf seine Lippen. "Sieh hin", forderte sie ihn auf.

Er verstand nicht, was sie meinte, er verstand nicht wie sie hierher kam. Sie war doch tot! Oder etwa doch nicht?

"Sieh hin", wiederholte sie und zwang ihn, ohne daß er selbst hätte sagen können, wie sie es gemacht hatte, wieder durch die Scheibe zu sehen. Sein gepeinigter Verstand, seine schmerzende Seele fragte nicht nach der Absurdität der Situation. Und er sah hinein.

Er sah Andy Carson mit seiner Familie in der Küche sitzen. Anscheinend war Thanksgiving Day, denn auf dem Tisch stand ein großer, dampfender, gegrillter Truthahn. Er sah, wie die Familie die Hände zum Gebete faltete und Andy Carson mit inbrüstiger Stimme für ihren Wohlstand und ihr gutes Leben dankte.

Dann wechselte die Szenerie. Eine große, grüne Tanne stand im Wohnzimmer, festlich geschmückt mit Lametta und unzähligen Kugeln. Carsons kleiner Junge riß gerade irgendein Spielzeug aus seiner Verpackung. Er schien sich sehr darüber zu freuen, denn wie ein Gummiball sprang er auf und rannte die wenigen Schritte zu seinen Eltern hinüber, die ihn beim Öffnen des Geschenks beobachtet hatten. Carsons Frau lächelte glücklich, als ihr Sohn sie umarmte, und Greg sah die Liebe in den Augen des Jungen, als dieser seinen Vater ansah.

"Willst du es immer noch tun?", fragte Jill wieder.

Greg spürte nicht, wie sein Gesicht von Tränen benetzt wurde. "Nein", flüsterte er, "nein". Er ließ die Waffe sinken und drehte sich um. Doch Jill war verschwunden. Nur weit in der Ferne, in der Dunkelheit des Himmels schien ein Licht aufzuflackern und dann wieder zu vergehen, so unbemerkt und flüchtig wie ein schneller Blick über den Rand der Zeit hinweg.

Greg wandte sich ab und verließ das Grundstück. Schweigend ging er in die Nacht hinaus, die Waffe in der Hand.

***

Irgendwann unter dem Funkeln des Sternenhimmels über New York verlor sich ein Schuß in den öden Betonwüsten. Ungehört verhallte das Echo im Schmutz einer Gasse.


***

Nachdem das seltsame zweibeinige Wesen seine Behausung verlassen hatte, in der noch immer die unerklärlichen kleinen Sonnen schienen, verlor sich das Interesse des Falken. Er stieg hinauf in die versmogte Luft.

Irgendwann, später, fand er in einer unbelebten Gasse doch noch eine lohnende Beute. Eine Beute, die er noch nicht einmal töten mußte.

Er vertrieb einige Krähen und ein paar Ratten, die den leblosen Körper schon vor ihm gefunden hatten, und begann sein Mahl.

 

Gut, daß du es unterlassen hast, "Zombi- oder Gewissen(?)-Jill" nicht genauer zu beschreiben.

Eine kleine und feine, angenehm zu lesende (mit angenehm meine ich NICHT Absätze und son Zeugs!) Geschichte.

Eines noch: Die nervenden Kevin-Filme hießen im Amiland "Home Alone", aber das ist eigentlich auch wurscht!

So denn!

 

Hallöchen!

Man merkt, daß hier ein Könner am Werk war.
Ein echt starkes Stück!

 

Leute, SO funktionieren Geschichten!!!
Guter Einstieg, der nicht das Ende vorhernimmt, mit kurzen, präzisen Sätzen wird der Protagonist vorgestellt und erklärt warum er was zu machen gedenkt.

Und - wie schon Ponch anmerkte - der Autor vermeidet es, Jill ausführlich zu beschreiben. Der Schluss ist kurz und knallhart, wird durch den Falken vom Anfang der Geschichte abgerundet und schließt somit zum Einstieg an.

Eine wirklich gelungene Geschichte, die man sicher noch "schleifen" könnte, aber so wie sie hier steht ist sie flüssig zum Lesen und spannend - was will man mehr, angesichts so vieler "und das Fleisch hing ihm in Fetzen runter"-Geschichten in diesem Forum?

Ach so: Der Autor scheint sogar der eigenen Sprache mächtig zu sein! :D

 

Hallo UJ !

Ich finde die Geschichte auch brilliant. Aber das hab ich dir im ICQ ja schon mitgeteilt :-)

 

Hallo,

Auf Ponchers empfehlung hab jetzt auch mal den Falkenfraß gelesen.
Tja, was soll ich sagen. Sehr gut geschrieben, gute Struktur, nicht mehr als auch notwendig ist hineingetan (das ist immer mein wichtigstes Kriterium).
So richtig spannend war sie zwar nicht, aber es ist doch auch schon sehr angenehm etwas zu lesen, was ganz ohne Kettensägen und Gedärme auskommt.

 

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