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Farben des Krieges
Aus dem Weltall betrachtet sieht die Erde friedlich aus. Doch sinkt man hinab, durch weiße Wolken in denen Schneestürme toben, werden aus blauen Ozeanen zerstörte Korallenriffe und man sieht karge braune Landschaften. Manch Einer würde nun schon längst wieder aufsteigen, weg von der kaputten Welt, die sich hinter schönem Schein versteckt.
Doch nehmen wir an, man lässt sich noch weiter hinab, fast wieder auf den Boden, den Boden der Tatsachen, dann sieht man die Welt in ihrer vollsten Schrecklichkeit.
Zerstörte Städte ziehen sich durch die Täler, auf den Feldern wachsen Hungersnöte. Zwischen Palästen aus Trümmern und Burgen aus Schutt huschen eilig Leute vorbei, in Gewändern grau vor Staub.
Die erschreckende Warheit hat etwas an sich, etwas magisches. Als wären abgebrochene Stahlpfeiler magnetisch geworden, ziehen sie einen an. Ziehen einen an, bis man sie berührt. Eine kalte, graue Oberfläche, wie die Welt selbst.
Wie sähe die Welt aus, wenn man die Warheit schon aus dem Weltall sehen könnte? Sähe man die Wolken oder düstere Orkane? Sähe man Wälder oder graue Felswände?
Ein kleiner Junge sah seine Stifte durch. Weiß und Grün hatte er nicht mehr. Er sah auf seinen schwarzen Stift. Dieser war immer der längste gewesen, doch nun war er so stumpf, dass er kaum noch malte. Braun hatte er am meisten. Aber was konnte man damit malen? Schutt und Trümmer waren zu kompliziert für ihn. Er war ja erst neun. Er dachte zurück, an die Zeit, als Mama und Papa und die große Schwester noch da waren. Sie hatten noch ein Kaninchen besessen, ein kleines Braunes. Vorsichtig begann der einsame Junge auf der Rückseite eines dreckigen Faltblattes die ersten Striche des Kaninchens zu zeichnen. Der Körper war wie eine seitlich liegende Acht: ein runder Bauch und ein runder Kopf. Er erinnerte sich, wie seine Schwester einst lauter solcher Achten gezeichnet hatte. Sie hatte geantwortet, das stände für Endlosigkeit.
Das Kaninchen bekam lange Ohren. Fast ein bisschen zu lang für Kaninchen, aber das erinnerte ihn an seine Freunde, wenn sie von dem alten Lehrer die Ohren lang gezogen bekommen hatten.
Dann zeichnete er die Nase, so wie die Stupsnase des schreienden Babys in der Nachbarschaft. In Gedanken sah er, wie seine Schwester das Baby auf den Arm genommen hatte, auf dem Klavierhocker hatte sie gesessen. Das Klavier, erinnerte sich der kleine Junge, hatte lustige Schnitzereien, vor allem an den Füßen. Sie hatten wie echte Löwenpranken ausgesehen und ein bisschen danach malte er jetzt die Pfoten des Kaninchens.
Das Kaninchen war fast fertig. Seiner Schwester hätte es bestimmt gefallen. Aber nun war sie nicht mehr da, so wie die Augen des Kaninchens ihn bislang leer anstarrten.
Hellblau waren sie gewesen, er erinnerte sich. Aber er hatte keinen hellblauen Stift mehr. Es war ihre Lieblingsfarbe gewesen, dass wusste er noch genau, und kurz vor ihrem Tod hatte er ihr den Stift gegeben. Eine Träne kullerte über seine Wange, fast hätte sie das Bild zerstört. Das hätte seine Schwester nie gewollt! Langsam drehte er seinen Kopf nach hinten, der Blick fixierte die Trümmer eines ganz bestimmten Hauses. Die Grundmauern standen sogar noch, es war ausgebrannt und die Tür war versperrt, aber er würde sich durch ein zersplittertes Fenster quetschen können.
An den gezackten Festerresten schnitt er sich die Hand auf. Ein kleiner Tropfen Blut fiel auf den braunen Boden. Ein ganz anderes Braun, als das Kaninchen hatte. Wie viel sagten Farben eigentlich tatsächlich aus? Er kroch bis zu ihrem reglosen Körper, direkt in der vordersten Tasche ihres Kleidchens steckte der Stift. Stattdessen tat er den Schwarzen hinein, den würde er nicht mehr brauchen, er war zu stumpf zum malen.
Das Kaninchen hatte einen schwarzen Fleck am Bauch gehabt, erinnerte er sich und dann sagte er zu sich selbst:
Schwarz steht nicht für den Tod, für mich nicht.