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Fensterladen auf, Fensterladen zu
Hoffentlich noch ein paar Minuten. Aus aller Welt. Lasst mich doch mit dieser Meghan und dem Rotkopf in Ruhe. Kaffee durch. Mist, Milch alle. Tja, ab in Keller. Nie mit leeren Händen … hab‘ ich gestern zwei Flaschen Rotwein gesoffen? Hä? Nee, puh - die eine war nur noch halb. Sehr gut. Muss morgen das Leergut wegbringen. Zwei Kartons voll. Was war gestern Nacht noch? Fernsehen? Buch? Filmriss. Ich darf einfach nicht soviel Alk trinken.
Treppe fege ich auch morgen. Oder nachher? Jetzt Zeitung.
Ein Knäckebrot dazu. Mit Honig. Die Bienen haben es grade gut bei der Wärme. Karel Gott.
Boing-Boing-Boing - der Flip hat sich witzig angehört. Muss noch nach dem Wespennest schauen. Im Baumarkt Spray kaufen.
Er ist aufgewacht. Schon vorbei. Nicht mal Todesanzeigen gelesen. Also los, Murmeltier. Rechtes Fenster. Oh, zackig aufgerissen. Das Quietschen vom Fensterladen, Herrgott, ich kann es nicht mehr hören.
Autowerkstatt, neue Reifen bestellen und Bremsen nachsehen. Wer ruft denn jetzt an? Ah, Annemarie!
“Mäusefallen? Drei hab ich, glaub, im Keller. Schau erst nachher, Anton kommt gleich zum Frühstück.“
Schmatzen, Kaffeetrielen.
„Nein, er ist beim ersten Fenster. Dauert noch ein paar Minuten. Dann will er doch noch zum Briefkasten.“
Leerer Kasten, schiefe Grimasse.
„Ach, Anne, ich leg dem auch am Sonntag was rein, weiß er ja eh nicht. Meld‘ mich wieder bei dir.“
Das Fenster im Bad. Oder? Ja, doch, dort ist er, der Laden ist geschmiert. Komm, Anton, noch den im Flur, dann hast du wieder dunkel. Ich dann leider auch. Glühwürmchen damals im Sommer. Deine Schulter war so breit. Quietsch. Ich häng die Dinger jetzt ab, Andreas, hilfst du mir bitte? Nein, Mama, in zwei Wochen macht Papa was anderes, glaub‘s mir. Halt noch durch. Kann der gut sagen, ist um die Zeit nie daheim.
Fensterladen auf, Fensterladen zu. Fensterladen auf, Fensterladen zu. ICH HALT DAS NICHT MEHR AUS.
Gerda, was macht Anton denn immer mit den Läden? Blöde Kuh. Siehst du doch. Sei froh, dass dein Reinhard schon 1,80 tiefer liegt.
Kühlschrank ist fast leer, muss morgen einkaufen. Teewurstzipfel. Reicht aufs Brot. Bäcker Fricke hat heute zu. Die Laugenwecken sind das Beste. Mit Salami. Magen knurrt. Noch nichts gegessen.
Banane. Mist, keine da. Einkaufszettel. Und Wurst.
Fenster auf, Läden auf. Luftholen. Er beim Briefkasten. Die Augen vom Postboten. Haha, viel zu jung. Badfenster noch aufreißen.
Ach, vom Briefkasten zurück. Gib den Schlüssel her. „Danke fürs Holen!“ Wer braucht denn schon so einen großen Grill? Ratenzahlung?
Teewasser kocht, Pfefferminztee, letzter Beutel. Einkaufszettel.
Er sitzt sicher im Sessel. „Frühstück, Anton!“ Oder geht er gleich an die Vorhänge? Tatsächlich. Fenster zu, Vorhang zu. Ich ersticke fast. Sein Arm ist knöchern. Suppenhuhn. Luftholen. Aber – es bringt nichts, ihm was vorzuwerfen. Lass es. Anton, du schaust mich an wie ein Dackel. Geh‘ doch bitte, bitte, bitte von den Fenstern weg.
„Anton, Frühstück!“ Ja, komm‘ mir wie ein Entchen hinterher. Will doch nicht. Tee hat gezogen.
„Hey Mum.“
„Andreas, du schon?“
„Ja, ich konnte früher aus der Schicht.“
„Er wird gleich zum Frühstück kommen. Vielleicht.“
„Ist er bei den Fenstern?“
„Ja, wo sonst?“ Was für eine blöde Frage, weiß er doch selbst. Ist mir keine Stütze.
Endlich. Ich brauch nicht schauen, das Geschlurfe ist eindeutig.
„Hey, Dad.“
„Hallo. Wir kennen uns. Ich weiß. Ich möchte dir gerne einen Witz erzählen.“
Zum dreihundertvierundzwölften Male. Mexiko. Sonne.
„Kommt ein Ballon geflogen und sagt: Kaktusssssssss“. Oh, tut das s weh. So scharf durch die Zähne. Andreas, hör auf, da immer noch zu lachen. Ich finde es NICHT MEHR ZUM LACHEN.
Er kaut wieder endlos an der Brotrinde. Gleich wird er meckern. Pah, wusst‘ ich es doch. Ab in Kompost. Aha, Bananenschalen. Hat er die gegessen?
Nächste Runde Fensterläden. Platze gleich. Gerda, hole tief Luft.
„Komm Mum, lass‘ ihn.“
„Nächsten Samstag kommen die Läden runter. Ich kann nicht mehr.“
„Vielleicht sollten wir jetzt doch mal darüber nachdenken, ob er ...“
„Nein, er bleibt hier. Was sollen denn die Leute denken, wenn ich ihn abschiebe?“
Ich seh sie: all die Weiber, die sich das Maul zerreißen. Undankbare Ehefrau. In guten wie in schlechten Tagen. Scheiß Pfaffe. Ich scheiß auf den lieben Gott.
„Anton, mach doch die Läden auf, es ist doch noch hell.“
Hamsterrad. Wie demütig er zusammenzuckt. Hund. Winsel doch noch. Was ist übrig von meinem Schatz?
„Siehst du, er macht sie wieder auf.“
„Andreas, in spätestens zehn Minuten sind dann dafür die Vorhänge wieder zu.“
„Ich kann dir nicht helfen, wenn du dir nicht helfen lässt.“
„Komm, Anton, ich habe dir tolle Musik aufgelegt, setz‘ dich doch ein wenig auf dein Sofa.“
Mäusefallen. Vier gefunden. Gleich noch Anne anrufen. Würde so gerne wieder mal mit ihr ausgehen. Saturday Night fever, fe-e-ver. Schweiß vom Tanzen, Lachen, laute Musik. Spaß. Hmm.
Hoffentlich ist sie gleich dran. Ah, gut.
„Anne, kommst du nachher kurz wegen den Fallen vorbei, er hat Friedhofszeit. Bis er die Runde gedreht hat, können wir reden.“
„Bin schon auf dem Weg!“ Ach schön. Abwechslung. Halb zwei mittags. Kann ich einen Sekt für uns zwei aufmachen? Sie hatte letzte Woche Geburtstag. Grund zum Trinken, fällt nicht auf.
Wie seh‘ ich aus? Mückenschiss auf dem Spiegel sollte ich mal wegwischen. Ach egal. Egal ist 88.
Nächste Woche Friseurtermin. Muss noch Frieder wegen Anton fragen. Antonsitter.
Das Gartentor. Anne schon hier.
„Hey, schön, meine Liebe, dich zu sehen!“ Anne sieht einfach immer gut aus. Wenn nur mein Arsch so knackig wäre.
„Gerda, das kann man wirklich keinem erzählen, wie lange wir uns nicht mehr gesehen haben.“
„Komm rein – und herzlichen Glückwunsch noch zum Geburtstag, wenn auch verspätet!“ Wie weich sie sich anfühlt, das Haar riecht gut. Der Sekt.
„Zur Feier des Tages könnten wir doch ein Glas auf dich trinken, was meinst?“
„Mitten im Mittag, Gerda?“
„Ja komm, sei nicht so. Setz dich, ich hol sie schnell. Schau, dahinten sind die Fallen, musst sie vielleicht noch auskochen.“
Was stinkt denn so im Kühlschrank? Muss nachher schauen. Flasche ist gut kalt, die Perlen im Glas sind so quirlig. Wann war ich das letzte Mal so? Hoffentlich kommt Andreas jetzt nicht.
„Auf dein Wohl, Anne! Ich wünschte, Anton bliebe eine Weile unterwegs, damit wir Zeit zum Quatschen haben.“
„Wie läuft es denn mit ihm?“ Wie‘s läuft? Er läuft von Fenster zu Fenster. Sonst läuft nichts.
„Haja, immer das Gleiche. Du weißt ja, er hat seine Rituale. Das ist schon anstrengend, das jeden Tag zu ertragen. Aber wer sollte denn für ihn sorgen, wenn nicht ich? Andreas spricht immer wieder vom Altenheim. Das kann ich doch nicht machen.“
„Gerda, du darfst dich aber nicht selbst aufgeben. Wer weiß, wie lange er noch so in Obhut leben muss? Willst du dich bis ans Ende deiner Tage aufopfern?“
Jetzt fängt die auch schon so an. Komplott oder was? Versteht mich keiner? Ihr könnt gut reden, ihr seid nicht in meiner Situation. Glas schon leer. Ob es auffällt, wenn ich schon für mich nachgieße?
„So ein Heim ist teuer. Das kann ich mir nicht leisten. Und ich bin seine Frau.“
Noch einmal springen die Perlen voller Lust durchs Glas, als ich es ein zweites Mal fülle.
„Boah, du hast ja heute einen guten Zug drauf, Gerda.“
„Gönn‘ mir ja sonst nichts.“ Wie wahr. Was gönn‘ ich mir denn? Ich hab einfach ein Scheißleben. Fenster auf, Fenster zu, Sprachlosigkeit. Aufpassen. Füttern. Schau mich nicht so an. Ich weiß, ich bin nicht mehr attraktiv.
„Geh doch wieder mal zum Friseur! Du hattest früher immer so peppige Frisuren, das vermisse ich an dir.“
„Nächste Woche habe ich Termin. Muss noch den Frieder fragen, ob er dann nach Anton schaut.“
Frieder. Dunkle Augen. Warmes Lächeln. Wenn du mal jemand zum Reden brauchst, sag es.
Hehe. Soll ich über seinen Bruder jammern?
„Wenn er nicht kann, sag mir Bescheid.“
„Danke. Aber als Bruder kann man ruhig auch mal was tun.“
„Es fällt ihm sicher schwer, das anzusehen.“
„Aha, und mir nicht, meinst du? Fenster auf, Fenster zu, Vorhang auf, Vorhang zu. Briefkasten auf, Briefkasten zu. Den ganzen Tag.“
„Gerda, das weiß ich doch. Gönn‘ dir doch wenigstens mal ein, zwei Mal in der Woche eine Tagesbetreuung. Vielleicht geht es dir dann besser und du bist ausgeglichener.“
Keiner versteht mich. Ein Schluck beruhigt. Mist, Glas schon wieder leer.
„Ausgeglichener? Ich? Wer ist hier denn schon seit Jahren so ausgeglichen, das überhaupt auszuhalten? Ich bin ausgeglichen. Pass auf, was du sagst.“ Was bildet die sich denn auf einmal ein? Ihr könnt alle so schön reden. Ihr seid nicht ich. Hoppsla, ein Hickser.
„Schwierig grade mit dir, du lässt nicht mit dir reden. Ich denke, es ist besser, ich gehe, bevor das hier noch ungut wird. Ich hol mir noch die Fallen. Pass auf dich auf.“
Hä? Was habe ich denn grade gesagt? War das so schlimm? Was hatte ich gesagt? Mist, weiß es nicht mehr.
„Tschüss Anne. Bis bald.“
Ihr Glas ist noch halb voll. Hm, war schon warm. Egal. Die Flasche noch ein Drittel gefüllt. Wenn Andreas das sieht, denkt er, ich hätte sie alleine aufgemacht und schon so viel getrunken. Am besten, ich mach sie leer, damit er sie nicht im Kühlschrank sieht. Anton auch noch nicht da. Jetzt geht es mir wieder besser. Eigentlich ist alles gar nicht so schwer. Noch ein Glas. Huch, schwanke ich? Flasche in den Keller. Muss noch Treppen fegen. Jetzt nicht, mir ist schummrig. Ich leg mich wohl besser mal auf das Sofa, bis Anton kommt.
Wer klingelt denn hier so lange? Wo bin … auf dem Sofa. Sekt mit Anne. Sekt ohne Anne. Anton.
„Anton, bist du hier?“ Wer klopft denn so laut?
„Moooooment, bin gleich da!“ Komischer Geschmack im Mund, ein Biss Apfel hilft.
„Gerda, mach auf." Frieder.
„Ja, sofort.“ Was ist denn los? Anton nicht hier? Wie lange habe ich geschlafen?
„Anton ist gestürzt, liegt hinten im Steinberger Feld. Martina hat mich gerade angerufen, die ist da vorbeigefahren. Komm, wir fahren hin.“
Frieders tolle Kutsche. Riecht immer wie frisch geputzt. Wie lange war Anton weg? Es wird dunkel. Mein Gott, ich habe Stunden geschlafen. Was ist denn passiert? Ich muss gleich spucken. Mir dreht sich alles. Ich bin schuld.
„Fahr schneller, Frieder.“
„Geht nicht. Aber wir sind gleich da.“
Blaulicht frisst sich in den Himmel. Ein Krankenwagen.
„Anton!“ Wer hält mich da zurück?
„Frieder, lass mich!“
„Lass die ihre Arbeit tun, du störst. Die sind am Beatmen.“ Bin ich im Film? Ich träume. Ich wache jetzt auf. Dieser Alptraum kann nicht wahr sein. Ich bin schuld.
Vielleicht stirbt er. Vielleicht stirbt er? Wie wäre es denn … Was machen die ganzen Leute hier? Gut, dass Frieder hier ist. Da liegt Anton einfach wie ein Käfer auf dem Rücken. Der Arzt hängt über ihm, bricht ihm alle Rippen. Augen zu. Ich kann es nicht sehen. In den Ohren surrt es. Oh, ich schwanke. Frieder, danke. Halt tut gut.
„Vitalfunktionen stabil.“ Der Arzt hört bei ihm auf. Was wurstelt der an dem Schlauch? Ah, Infusion. Ich will jetzt hin.
„Ich bin seine Frau! Kann ich zu ihm kommen, Herr Doktor?“
„Ganz kurz, ja. Er muss gleich abtransportiert werden.“ Nasses Gras, Steine. Da liegt er. Bleich. Das Hemd aufgerissen, die Augen halb zu.
„Anton, hörst du mich?“
„Wer sind Sie? Ich muss nach Hause.“
Wer fasst meinen Arm?
„Machen Sie sich keine Gedanken, er ist jetzt nur im Moment durch den Schock verwirrt. Das wird wieder.“
„Nein. Er ist immer so.“
Ich darf doch nicht wollen, dass du bald ganz weg bist. Fenster auf, Fenster zu. Es quietscht. Kaktussssssssssssss.