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Ferdinand
Nach einer fast wahren Begebenheit
Siggi fühlte sich gut. So gut wie schon lange nicht mehr. Saugut! Aus den Boxen dröhnte Heavy Metall, die Membrane vibrierten gefährlich dicht vor dem Kollaps und die Bässe rissen ihm fast den Magen auf. Aber das war ihm egal. Siggi war prinzipiell alles egal. Nun, er war erst vierundzwanzig. Erwachsen werden konnte er immer noch. So mit dreißig, dachte er sich. Noch wollte er das Leben genießen.
Jetzt war er nach dem anstrengenden Regensburger Nachtleben auf der noch taufrischen Autobahn unterwegs Richtung Straubing, in seinem alten, himbeerroten Triumph, den ihm sein Alter vermacht hatte. Wenn der wüsste! Im Grabe würde er sich umdrehen! Gehegt und gepflegt hatte der den Wagen, über Jahrzehnte hinweg. Siggi hielt nichts von Wagenpflege. Hauptsache die Boxen dröhnten.
Siggis Kopf wirbelte passend zu den kreischenden Klängen der E-Gitarre auf seinem dünnen Hals herum, die langen, fettigen Haare klatschten Ferdinand bei jeder Drehung ins Gesicht. Mit den flachen Händen trommelte Siggi auf das Lenkrad und machte dem Schlagzeuger Konkurrenz. Bruchstücke des kaum verständlichen Textes tanzten über seine spröden Lippen, der letzte Joint rauchte noch in seinem Hirn. Ja, Siggi fühlte sich saugut.
„Hey, Alter!“, schrie er über den Lärm hinweg. „Saugeile Mucke, Alter! Saugeile Mucke!“
Ferdinand ließ den Lärm gelassen über sich ergehen. Ihm war ebenfalls alles egal. Stur blickte er auf die Fahrbahn vor sich. Ein Morgen nach seinem Geschmack. Nebel lag über dem Dunkel des Waldes, kroch über die Fahrbahn und wich nur langsam der aufgehenden Sonne. Siggis rasanter Fahrstil ließ Ferdinand ebenso kalt wie laute Musik oder entsetzte Blicke. Die Zeiten, wo er sich über solche Nichtigkeiten aufgeregt hatte, waren längst vorbei.
Siggi beugte sich zu ihm rüber und öffnete das Handschuhfach. Eine leere Bierdose, ein paar CDs, ein gebrauchtes Kondom von letzter Nacht und jede Menge anderer Müll kam ihm entgegen. Er fummelte eine verspiegelte Sonnenbrille hervor und setzte sie auf. Eine zweite, recht ramponierte, drückte er Ferdinand rabiat aufs Nasenbein.
„Hier, Alter!“ Er grinste. „Mit deiner natürlichen Bräune eines Kalkeimers holste dir ja nur ‘nen Sonnenbrand!“
Der Song war zu Ende. Siggi wechselte die CD ebenso wie die Fahrspur und gab Gas, als ACDC die Boxen malträtierte. Hände wie Haare übernahmen den Rhythmus. Ferdinand blickte stoisch aus dem Fenster.
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„Herrgottnochmal! Sehe ich das richtig?!“ Polizeihauptkommissar Lüders warf seinem Kollegen einen irritierten Blick zu. „Fahr noch näher ran!“
Polizeioberkommissar Körner trat aufs Gas, rammte fast den Mercedes auf der Überholspur, und setzte sich hinter den alten Triumph. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Also, wenn du das siehst, was ich sehe, dann ist der Kerl da vorne eindeutig zu alt zum Fahren.“
„Wir machen den Job schon zu lange.“ Lüders seufzte und strich mit den Händen über seinen stattlichen Bauch. Das üppige Frühstück lag ihm plötzlich schwer im Magen. „Das liegt am Wetter.“
„Fata Morgana?“ Körner kratzte sich den fast kahlen Schädel.
„Der Nebel. Halluzinationen.“ Lüders beugte sich schnaufend vor und kramte die Kelle aus dem Handschuhfach. „Fahr mal vorbei. Den muss ich mir aus der Nähe ansehen. Und so was kurz vor Feierabend!“
Körner trat aufs Gas und zog auf gleiche Höhe.
Lüders riss die Augen weit auf und atmete pfeifend ein. Entsetzt starrte er auf den Fahrer des Wagens neben sich. „Da-dada-das glaube ich nicht! Ha-haha-halten Sie an!“
„Du musst ihm schon die Kelle zeigen.“ Körner seufzte und schüttelte den Kopf.
„Wie? Ach so, ja!“ Lüders wurde langsam zu alt für den Job. Er öffnete die Seitenscheibe und winkte mit der Kelle.
Der Fahrer reagierte nicht. Körner setzte den Wagen vor den Triumph und drückte ein paar Knöpfe. Das war sonst Lüders’ Job, aber der starrte in den Rückspiegel und bekam den Mund nicht wieder zu. Auf der Heckscheibe blinkte in großen, roten Buchstaben: Polizei - bitte folgen!
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„Hey, Alter, was soll der Mist denn jetzt?“, rief Siggi ärgerlich. „Ach, Scheiße!“
Er ging vom Gas und folgte dem Zivilwagen der Polizei auf den nächsten Rastplatz.
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Lüders kramte seine Waffe aus dem Handschuhfach. Sie dort aufzubewahren verstieß zwar gegen die Vorschriften, aber die Waffe drückte beim Sitzen immer so in die Seite.
Körner schüttelte den Kopf. „Was willst du denn damit?“
„Na - ich weiß nicht.“ Lüders’ Hände zitterten, als er die Waffe überprüfte. „Ich traue dem Kerl nicht.“
„Und womit willst du schießen? Mit Silberkugeln?“
Lüders schnaubte und stieß die Beifahrertür auf. Mühsam schälte er sich aus dem Sitz und verschanzte sich hinter der Tür.
Körner seufzte und stieg aus. Vorschriftsmäßig, mit der rechten Hand an der Waffe, zog er seinen Dienstausweis mit der linken aus der Hemdtasche und ging langsam auf die Fahrerseite des verdächtigen Fahrzeugs zu.
„Ich gebe dir Deckung!“, rief Lüders hinter der Wagentür.
Körner reichte ein Blick, um die Situation zu erfassen. „Allgemeine Fahrzeugkontrolle. Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte.“
Die Scheibe wurde heruntergekurbelt, und von dem rechten Sitz streckte ihm jemand die gewünschten Unterlagen entgegen.
„Danke.“ Körner prüfte die Papiere, während Lüders in sicherer Entfernung die Stellung hielt. „Haben Sie etwas getrunken, Drogen genommen oder Waffen dabei?“
Siggi schüttelte den Kopf.
„Und Ihr Begleiter? Hat der auch Papiere bei sich?“
„Glaub kaum, dass der noch welche braucht.“
„Name?“
„Ferdinand.“
„Nachname, Adresse?“
„Keine Ahnung. Hab ihn neulich mitgenommen. Stand ganz verwaist am Straßenrand, der arme Kerl.“
„Wo war das?“
„Bei mir um die Ecke. Stand zwischen den Müllcontainern.“
Körner schüttelte den Kopf und gab Siggi die Papiere zurück. „Was die Leute auch alles so wegwerfen!“
Er blickte sich zu seinem Kollegen um. „Lüders - nun komm schon her! Keine Gefahr!“
Lüders lugte vorsichtig um die Tür. Körner winkte ihn zu sich. Vorsichtshalber behielt Lüders die Waffe im Anschlag und ging zögernd auf den Wagen zu.
„Darf ich vorstellen - Ferdinand“, grinste Körner und schob seinen Kollegen ans Fenster.
„Da-dada-das ist doch wohl die Höhe!“, japste Lüders. „Das ist Irreführung der Polizei, junger Mann! Das kommt Sie teuer zu stehen! Sie können doch nicht mit einem toten Skelett am Steuer durch die Gegend fahren!“
Siggi beugte sich über den Schoß seines Beifahrers, griff sich dessen knochigen Unterarm und wedelte mit der ebenso knochigen Hand vor Lüders hochrotem Gesicht herum. „Sehen Sie, Mann, Sie können mir gar nichts. Meine Papiere sind in Ordnung, wir sind beide angeschnallt und zu schnell war ich auch nicht. TÜV hat die Karre auch noch bis September. Ist übrigens ein Rechtslenker. Haben Sie sicher schon geschnallt. Hat mein Alter von der Insel mitgebracht, als er noch jung und knackig war. Der gute, alte Ferdinand macht nur den Beifahrer. Ist doch echt cool, Jungs!“
Körner winkte ihn weiter. Siggi drehte die Anlage auf. Die Bässe dröhnten in Lüders’ vollem Magen. Ihm war schlecht. Drei Monate noch, dann wartete der schwer verdiente Ruhestand auf ihn.
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Siggi gab Gas und fuhr der Sonne entgegen. Ferdinands Kiefer schlugen höhnisch klappernd aufeinander.
„Geile Mucke, Alter!“, jauchzte Siggi. „Saugeile Mucke!“
Ja, Siggi fühlte sich gut heute. Saugut!