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Fernweh, Heimweh und dazwischen
Der Saal bebt, das Publikum jubelt, auf der Bühne verbeugen sich die Schauspieler; dahinter fällt man sich in die Arme, klopft auf Schultern und schüttelt Hände.
Benno Bergmann beobachtet das Treiben von der Seitenbühne. Er sieht es fallen: die Anspannung, die Nervosität, den Erwartungsdruck. Seine Zähne zermalmen einen Hustenbonbon. Ein Erfolg, er spürt es, er weiß es, dafür steht sein Name. Willy, einer der Schauspielstudenten, kommt zu ihm, greift nach seiner Hand, zieht ihn mit auf die Bühne. Benno Bergmann muss sich verbeugen, das ist so üblich.
Hier vorn ist es heiß und stickig. Das Licht der Scheinwerfer brennt in seinen Augen. Die Zuschauer erheben sich von den Plätzen, die Kette der Verbeugenden löst sich, die Darsteller treten zurück. Benno steht allein an der Rampe und ertrinkt im Beifall. Ihm ist schwindlig, sein linkes Auge beginnt zu zucken, die Scheinwerfer so hell, die Luft so trocken. Noch vor einer halben Stunde am Monitor in der Kantine hat er geflucht, geschimpft, geschrien. Zu viele Fehler, ihm sind sie aufgefallen. Daran denkt er, während das Wiener Publikum klatscht, trampelt, pfeift.
Er wird das Wiener Hotelzimmer nicht vermissen. Endlich ist er zurück in Hamburg, zu Hause bei seiner Familie. Nathan, der alte Schäferhund, begrüßt ihn an der Tür. Kurz nur, dann läuft der Hund in die Küche und Benno folgt ihm. Annas Hände stecken in einer Schüssel voll Hackfleisch. Mit dem Unterarm streicht sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn und bietet Benno die Wange für den Willkommenskuss.
„Der Kaffee ist frisch.“ Annas Kopf deutet zur Thermoskanne.
„Für dich auch?“, fragt Benno, als er zu einer Tasse greift.
„Gern.“ Anna lächelt. Ihr Lächeln ist alt geworden, denkt Benno. Er stellt ihr den Pott zur Seite, lässt sich auf einen Stuhl fallen, betrachtet ihren Rücken, ihre Beine, ihren Hintern. Nathan hockt neben Anna und bettelt nach Hackfleisch.
„Wie läuft es bei deinen Proben?“, fragt Benno, während er Zucker in den Kaffee schaufelt.
„Geht so. Tolle Besprechung für die Wiener Premiere heute Morgen im Radio. Ein guter Abend?“
„Geht so.“
Der Kaffee ist heiß. Benno pustet kleine Wellen in die Tasse.
„Wo sind die Jungs?“, fragt er.
„Paul ist mit seiner Freundin an der Ostsee und Max hat ein Spiel.“
„Lohnt es sich noch hinzufahren? Zum Spiel meine ich.“
Annas Blick streift die Uhr. „Glaube nicht. Nein, es lohnt sicher nicht mehr.“
Natürlich käme er zu spät. Er würde seinen Jüngsten nicht mehr auf dem Platz erleben. So wie er nicht da war, als Max Fahrrad fahren lernte, mit sechs wieder ins Bett machte, als man ihm den Blinddarm heraus nahm. Nicht da, als Paul zum ersten Mal mit einem Mädchen am Frühstückstisch saß, seinen Suff in den Flur kotzte, durchs Abi flog. Er weiß nicht, welche Jeans die Jungs tragen.
Benno reibt sich die Augen, ist müde von den letzten Wochen. Und dann dieses Zucken, links.
„Wie sieht es bei Max in der Schule aus?“
„Im Fußball ist er besser.“
„Und die Nachhilfe? Bringt sie was?“
„Wenn er sich denn dort blicken lässt.“ Anna wirft Salz in die Schüssel.
„Was soll das heißen, wenn er sich denn dort blicken lässt?“
Wieder beginnt sie zu kneten. Mit den Händen. Mit den Fäusten. „Dass er dort nicht hingeht, soll es heißen!“
Sein Auge macht ihn wahnsinnig. Anna, wie sie die Masse bearbeitet. Ihre Vorwürfe, er will sie nicht hören, nicht jetzt. Er wird sie heute Abend mit den Frikadellen schlucken.
„Ich dreh noch eine Runde mit Nathan. Ich muss den Kopf frei bekommen."
Benno hatte Anna auf der Schauspielschule kennengelernt. Seit achtzehn Jahren spielt sie schon im Thalia. Wenige kleine Fernsehrollen, oft hatte sie Filmangebote abgelehnt. „Wegen der Jungs. Einer muss doch schauen, ob sie noch leben“, war ihr Standartspruch. Wenn kein Au-Pair bei ihnen wohnte, verbrachten die Jungs oft Stunden mit den Hospitanten im Zuschauersaal oder in der Requisite. Abends schliefen sie auf der Liege in Annas Garderobe, wo die Mutter ihnen übers Haar strich, während sie auf ihren Einruf wartete.
Auf die Au-Pairs haben sie verzichtet, seit Max zwölf ist. Paul hätte man in diesem Alter nicht allein lassen können. „Ein Kindskopf, der Bengel. Der macht die Stadt kaputt, wenn wir den allein lassen.“ Immerhin, sein Abitur hat er im zweiten Anlauf geschafft, den Zivildienst scheint er ernst zu nehmen und im Herbst wird er nach Berlin ziehen.
Max jetzt also auch, denkt Benno. Ich muss mit ihm reden. Heute. Morgen. Übermorgen sitze ich im Flugzeug nach Tokio. Bis dahin muss ich mit ihm reden. Die Schule, das ist doch wichtig. Das muss er doch begreifen! Nathan zieht ihn durch den Park, führt ihn an der Leine. Scheinbar ziellos irren sie umher, weichen Sportlern und Familien aus. „Wohin Nathan? Wo wollen wir eigentlich noch hin?“
Benno setzt sich auf eine freie Bank. Ein Frisbee landet vor seinen Füßen. Benno hebt es auf und reicht es dem jungen Mann, der zu ihm gelaufen kommt.
„Danke.“
Das gleiche Piercing wie Willy. Der Schauspielstudent, der ihn auf die Bühne zog, Willy, der es wagte auf einer Probe „Ist doch Bullshit“ zu sagen, seine Regieanweisung als „Bullshit“ zu betiteln. Widerspruch glaubte Benno schon auf der roten Liste, vom Aussterben bedroht. Der Anblick des Jungen, die weit aufgerissenen Augen, der Klang des Angriffes in seiner Stimme; es fühlte sich gut an.
„Ist doch Bullshit, die Freude mehr zu gewichten. Es ist dreckiges Geld. Da klebt Blut dran. Das weiß selbst der letzte Einwohner von Güllen, dass für dieses Geld jemand sterben muss.“
„Aber noch steht das Geld für ihre Hoffnungen, Träume, Wünsche. Das ist doch kein unangenehmes Gefühl, Willy. Dieses Geld steht für ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit.“
„Jeder kennt die Bedingungen, die daran gebunden sind. Freiheit, Unabhängigkeit, Autonomie, alles hat Grenzen, es fordert Opfer! Das kann man nicht ausblenden, wegdenken.“
Willys Worte brannten, schlugen Funken. Kein klarer Gedanke ließ sich aus dem Feuer herausziehen. Benno übergab die Probe an seinen Assistenten und ging in sein Wiener Hotel, setzte sich an die Bar und schluckte Whisky. Wann hat ihn die Unabhängigkeit vom Geld zum letzten Mal glücklich gemacht? Er versuchte sich zu erinnern. Spulte rückwärts, Wochen, Monate, Jahre.
Das Haus in Skagen. Der erste Urlaub in einem eigenen Ferienhaus. Die gemeinsamen Wanderungen auf der Landzunge, hoch zu dem Punkt, an welchem Ost- und Nordsee aufeinandertreffen. Die Nächte dort. Anna. Die Jungs, die in der Stube Sandburgen bauten. Vor sechs Jahren haben sie sich davon getrennt und ein Haus in Mecklenburg gekauft, ein Pferd für Anna und ein Motorrad für ihn.
Zurück zu Haus, stolpert Benno über die Sporttasche von Max. Einfach fallen gelassen. Mit dem Fuß schiebt er sie zur Seite, streift die Schuhe ab und befreit Nathan vom Halsband.
„Hey Großer, Sieg oder Niederlage?“, ruft Benno ins Haus.
Max kommt kauend aus der Küche „Sieg“ triumphiert er schmatzend. „Und selbst? Sieg oder Niederlage?“
„Sieg im Burgtheater.“
„Na dann, ist ja alles wie gehabt. Wie lange bleibst du?“
„Zwei Tage“, das väterliche Gewissen drückt auf seine Stimmbänder. „Hast du bis dahin mal Zeit für deinen Alten?“
„Vielleicht.“
Dieses vielleicht, es zieht ihm das Blut aus dem Schädel. „Schon ausgebucht, was?“
„Wie die Großen, so die Kleinen.“ Max' Blick ist fest auf seinen Vater gerichtet.
Bennos Knie werden weich und er sackt auf die alte Wäschetruhe. „Wir müssen reden.“
„Worüber?“ Max schiebt sich den Rest seines Brotes in den Mund.
Groß ist der Junge geworden. Das Zucken, wieder da, linkes Auge.
„Über dich“, kaum hörbar sind Bennos Worte.
„Über die Schule wolltest du sagen. Immer reden wir über die scheiß Schule!“
Der Junge hat recht.
Max greift nach seinen Schuhen, seiner Jacke.
Er wird gehen und mich hier einfach sitzen lassen.
„Auch. Auch über die Schule ... und über dich, über uns.“
Max verharrt einen Moment, den prüfenden Blick auf seinen Vater gerichtet. In Benno keimt ein Funken Hoffnung. Ganz kurz, ganz klein. Max schüttelt den Kopf, streift sich die Jacke über. Alles geht so schnell.
„Morgen vielleicht.“ Er geht und zieht die Tür hinter sich ins Schloss.
Annas Worte kommen ihm in den Sinn. Wenn er mehr Zeit mit ihnen verbringen würde ... Bald wird es soweit sein, er wird die Intendantenstelle am Schauspielhaus annehmen. Dann bleibt er bei ihnen, hier zu Haus.
„Dein Essen steht in der Mikrowelle“, sagt Anna. Auch sie zieht Schuhe und Mantel an. Sie muss los, ins Theater. Kurz denkt Benno daran, sie zu begleiten, aber er verspürt nicht die geringste Lust dazu.
„Schöne Vorstellung.“
„Danke. Macht euch einen netten Abend.“ Ihr Blick fällt auf ihn und Nathan, wie sie da beide hocken. Dann geht auch sie.
Er isst mechanisch, ohne Appetit, aus reiner Vernunft. Eigentlich hat er Annas Frikadellen sehr gern. Heute kaut er lustlos Bissen für Bissen, würgt sie in den Magen. Dort bleiben sie liegen. Das letzte Stück steckt ihm im Halse, er hustet bis der Brocken sich löst, wieder hochkommt. Nathan, kurz aufgeschreckt, legt seinen Kopf zurück auf sein rechtes Bein.
„Gut, dass du heute Abend nichts vorhast, alter Junge. Musst bald öfter mit mir das Sofa teilen. Macht dir doch nichts aus, oder? Intendant, Nathan, weißt du, was das heißt? Bürokratie! Als wäre ich ein Mensch fürs Büro. Verträge ... Klinken putzen für Gelder ... repräsentieren, stell dir mal vor, ich im Anzug … Sitzungen … ich hab eine Sekretärin … Was für ein Scheiß.“