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Flucht mit der S-Bahn
Oswald konnte es kaum noch erwarten, seiner Frau den Schatz zu zeigen, den er gerade von seinem Bruder bekommen hatte. Ein wichtiges Hilfsmittel, um ihren gewagten Plan in die Tat umzusetzen. Er sprang über die bis zu einem halben Meter tiefen Löcher im Asphalt. Etliche Sträucher und Bäume hatten den Irrsinn der so genannten Zivilisation erobert und überwucherten die Trümmer mit duftenden Frühlingsboten. Doch er achtete ebenso wenig darauf wie auf die vielen Einschusslöcher in den mit Ruß überzogenen Mietskasernen. Dreizehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren die Wunden noch lange nicht geschlossen; weder an den Häusern, den Straßen noch in den Menschen. "Rokitnica" stand seit 1945 am Eingang zu dem Ort im südöstlichen Oberschlesien, der vorher Martinau hieß und in dem sich nicht nur der Name geändert hatte. Ein riesiger Flüchtlingsstrom war kurz vor Kriegsende nach Westen gezogen. Dafür waren später andere Menschen aus dem Osten eingewandert. Und jene, die wie Oswald hier geboren waren, wurden jetzt als Besiegte bezeichnet. Verlierer in dem endlosen Spiel von Unrecht und Rache, das Erwachsene gespielt hatten, als er selbst noch ein Kind war. Aber auch er musste den Preis dafür zahlen. Und als wäre es nicht genug, was die Menschen sich gegenseitig antaten, senkte sich die Erde wie unter Schmerzen ächzend immer wieder, hinterließ Risse an den noch intakten Häusern und gähnende Löcher in den Straßen. Wie die meisten hier hatte auch Oswalds Vater im Kohlebergbau gearbeitet. Bis eines Tages zu viel von dem feinen Staub die Bläschen seiner Lunge verstopft hatte. Er war nur vierundfünfzig Jahren alt geworden. Oswald hatte schon als Kind von einem besseren Leben geträumt. Deshalb hatte er nach seiner Schlosserlehre in einer Abendschule für das Ingenieurdiplom gebüffelt. Aber nachdem sein Ingenieursgehalt vor ein paar Monaten halbiert worden war, arbeitete er doch unter Tage. Schließlich hatte er bald eine Familie zu versorgen. Seit 1953 hatte es in der DDR, in Ungarn und auch in polnischen Städten wie Posen nach der Erhöhung der Normen Unruhen gegeben. In Oberschlesien beschränkten sich die Menschen darauf Witze über die schlechte Versorgung zu machen: "Ein Glück, dass die Straßenbahn so langsam fährt, da fällt uns wenigstens nicht der Zucker vom Brot!" Wie die meisten politischen Witze, war das natürlich übertrieben. Zwei Stufen auf einmal nehmend hastete er die vier Etagen zu seiner kleinen Dachgeschosswohnung hoch. Sein Herz klopfte ihm bis zum Halse. Nicht nur wegen der Anstrengung.
Sie hörte ihn schon rufen, bevor er die Wohnungstüre hinter sich geschlossen hatte: "Margarethe, hier schau nur, Gotthard hat meinem Bruder tatsächlich den Stadtplan von Berlin geliehen."
Ihr Herz machte einen Sprung.
"Wirklich? Oh, wunderbar!"
Sie schaltete schnell den Herd aus, wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und lief ihrem Mann entgegen.
"Wie hat Rudolf ihm die Karte denn bloß abgeluchst?", fragte sie.
"Er hat einfach behauptet, er wolle sich ansehen, wie jetzt die Grenze mitten durch Berlin läuft."
Er setzte sich eilig, schob mit einer Handbewegung die sauberen Teller und das Besteck beiseite und breitete den Plan auf dem kleinen Küchentisch aus. Den würzigen Duft von Zur, dem oberschlesischen Eintopf aus gesäuertem Roggenschrot, Stampfkartoffeln und Speck, nahm er gar nicht wahr. An Essen war jetzt nicht zu denken.
"Dass sie ausgerechnet Gotthard nach Berlin geschickt haben!" Margarethe setzte sich eng neben ihren Mann. Ihre Beine fühlten sich an wie Pudding.
"Na ja, er und Rudolf waren damals Klassenbeste, sie haben während des Krieges ihre Ausbildung in Berlin gemacht. Beim Kauf einer Werkzeugmaschine sind seine Sprachkenntnisse natürlich ein Vorteil. Außerdem ist er sehr parteitreu und seine Frau ist natürlich hier geblieben." Endlich hatte Oswald gefunden, was er suchte und redete immer schneller.
"Aber, schau nur, er hat es mir erklärt, da sind die S-Bahnlinien. Jeden Tag pendeln Tausende von Ost nach West und etliche flüchten. Das hört man ja immer wieder im Deutschlandfunk."
Margarethe dachte an die dreißig Meter lange Radioantenne, die er vom Dach aus quer durch den Garten gespannt hatte um 'Lange Welle' empfangen zu können und sie musste lächeln.
"Da werden wir nicht auffallen. Hier, ich zeige dir, welche S-Bahn wir nehmen." Er fuhr mit dem Finger über die bunten Kästchen und Linien als wäre er schon da. "Die Nummer eins fährt vom Berliner Ostbahnhof nach Potsdam und hält zwischendurch in Westberlin. Diese Strecke könnten wir nehmen ohne Verdacht zu erregen und dann im Westen einfach irgendwo..."
Einfach! Als wäre das ein Spaziergang. Dachte er gar nicht an die Gefahren? Sie könnten für Jahre ins Gefängnis kommen. Was würde dann aus dem Kind werden? Für ihn schien immer alles ganz einfach zu sein. Aber genau diese Zielstrebigkeit, die alles andere ausblendete, bewunderte sie auch an ihm. Und er sah fast so gut aus wie einer der modernen Schauspieler. Als er sie vor vier Jahren gebeten hatte, einen Fahrschein für ihn zu kaufen, war sie ausnahmsweise richtig glücklich darüber gewesen, dass man sich in der überfüllten Straßenbahn nur so viel bewegen konnte um das Kleingeld zum Schaffner weiter zu reichen. Was hatte er da gerade gesagt?
"... zum Beispiel in Charlottenburg aussteigen."
"Charlottenburg! Charlotte! Du Oswald, das wäre doch ein schöner Name, falls es ein Mädchen wird!", rief sie und legte unwillkürlich eine Hand auf ihren Bauch, der bald runder werden würde.
Nur langsam löste er seinen Blick von dem Plan und schaute sie an. Obwohl sie schon zwanzig war, flocht sie jeden Morgen ihr langes, dunkelblondes Haar zu den dicken Zöpfen, die so gut zu ihren grünen Augen und ihren breiten Gesichtszügen passten. Nur traurig sah sie immer aus. Zwischen ihrem fünften und siebten Lebensjahr hatte sie oft im Luftschutzkeller gehockt. Danach waren der Hunger gekommen - und die Russen. Jedes Mal, wenn einer dieser Soldaten in der fremdländischen Uniform eine Wohnung betreten hatte und "Fräulein" gerufen hatte, waren alle Kinder des Sechsfamilienhauses schreiend ins Schlafzimmer gelaufen und aufs Bett gesprungen. Die junge Frau unter den Federbetten wäre manchmal fast erstickt. Aber der Mann ging wieder. Viele Kinder waren für die Russen ein Indiz für Armut, also waren dies nicht die verhassten Kapitalisten, an denen sie das vermeintliche Recht des Siegers auskosten wollten. Warum sie es taten, hatten die Kinder damals nicht verstanden; genauso wenig wie dieses Flackern in den Augen der Russen. Sie erfuhren auch nie, was deutsche Soldaten der Familie dieses Fremden angetan hatten. Aber selbst Margarethes jüngster Bruder, gerade ein halbes Jahr alt, hatte jedes Mal sofort angefangen zu weinen. Ein weiteres halbes Jahr später lag sein ausgemergelter, kleiner Körper leblos in der Wiege. Das alles würde sie nie vergessen. In den Jahren danach hatte sie neben der Schule für ihre drei jüngeren Schwestern gekocht und den halben Haushalt gemacht. Ihre Mutter musste in der Fabrik arbeiten und ihr Vater war in Kriegsgefangenschaft gewesen.
"Ja, Charlotte! Schön. Das ist doch ein französischer Name! Na, dagegen können die polnischen Behörden sicherlich nichts sagen. Polen und Frankreich sind schließlich Verbündete." Er versuchte, sich nicht wieder darüber zu ärgern, dass man bei der Musterung versucht hatte ihn zu zwingen, seinen deutschen Vornamen aufzugeben. Damals hatte er einfach erklärt, der Name Oswald sei skandinavisch. Sein Bekannter Gotthard Zug hatte sogar behauptet, dass sich sein Name auf zwei Schweizer Berge bezieht. Diese Dreistigkeit hatte sich gelohnt.
"Wo ist mein Fotoapparat?" Oswald eilte ins Schlafzimmer und kam kurz danach mit seiner Kamera wieder.
"Was, willst du mich etwa ausgerechnet jetzt fotografieren?", fragte sie.
"Nein, heute nicht dich, Schatz", er lächelte sie flüchtig an und hantierte dann wieder mit dem Belichtungsmesser herum. "Den Plan. Ich muss ihn morgen zurückgeben. Ich werde heute Abend noch die Bilder entwickeln, wir werden uns dann daran orientieren."
"Aber wir dürfen die Fotos nicht mitnehmen!"
Vor Schreck hielt sie eine Hand vor den Mund. "Am besten lernen wir alles Wichtige auswendig und verbrennen die Bilder, bevor wir fahren!"
Er blickte von seinem Apparat auf.
"Mensch Grete, du bist ja ausgefuchst wie ein Geheimdienstagent!"
Vor Erstaunen hielt sie die Luft an, sie war es nicht gewohnt, gelobt zu werden. Viel zu früh hatte das Leben viel zu viel von ihr verlangt. Und Oswald erwartete von jedem den gleichen Ehrgeiz und Fleiß, der für ihn selbstverständlich war. Nachdem sie sich kennen gelernt hatten, hatte er seiner Schwester von ihr vorgeschwärmt: 'Endlich habe ich ein Mädchen getroffen, das so ordentlich ist und so schöne Handarbeiten machen kann, wie du!' Das hatte Margarethe von ihrer Schwägerin während der Hochzeitsfeier erfahren. Um ihm bei seiner Diplomarbeit zu helfen, hatte sie wochenlang jeden Abend eine Schreibmaschine vom Büro nach Hause geschleppt und bis in die Nacht hinein getippt. Bis ihr Chef es gemerkt hatte. Der hatte Mitleid mit seiner zuverlässigsten Sekretärin und lieh ihr eine Schreibmaschine. Oswald und sie passten gut zusammen, gemeinsam würden sie alles schaffen, was sie sich vornahmen. Doch das, was sie jetzt vorhatten, hing nicht nur von ihnen ab.
"Wenn bloß alles so klappt, wie wir es uns überlegt haben! Wenn bloß die Reisegenehmigung bald kommt! Ich will das Kind schließlich nicht im Zug bekommen. Wenn die rauskriegen, dass Tante Martha gar nicht meine Schwester ist....", gab sie zu bedenken.
"Ach, kannst du dir vorstellen, wie viele Anträge für einen Besuch in die DDR sich da jeden Tag stapeln? Die können doch unmöglich jedes Verwandtschaftsverhältnis überprüfen! Diese aufgeblasene Organisation richtet sich ja selbst zugrunde." Seine Stimme wurde unwillkürlich lauter.
"Pst! Die Wände haben Ohren!", flüsterte Margarethe. Direkt hinter der dünnen Wand wohnte ausgerechnet ein Busfahrer, von dem es hieß, dass er für die Staatssicherheit spioniere. Kein Mensch durfte etwas erfahren. Ihr Plan stand auf so vielen wackeligen Beinen. Am schwierigsten würde es werden, von Ost- nach Westberlin zu kommen. Sie schluckte heftig und schwieg. Es nützte nichts, sich verrückt zu machen. Sie mussten sich gegenseitig Mut zusprechen. Endlich war der Fotoapparat richtig eingestellt und Oswald suchte einen günstigen Kartenausschnitt. Seine Hände zitterten.
**
Nach einem harten Arbeitstag in der Hitze und dem Staub unter Tage schmerzten Oswald ohnehin schon alle Knochen und dann war die Straßenbahn mal wieder entgleist, so dass er die letzten drei Kilometer nach Hause laufen musste. Die Bäume hatten sich schon längst von den meisten Blättern getrennt, als wären sie ihnen lästig, doch die ersehnte Reiseerlaubnis war immer noch nicht da. Dafür war Charlotte vor zwei Wochen geboren worden. Seine Tochter. Er konnte es immer noch nicht fassen, fühlte sich hilfloser als dieses zarte Wesen. Und war unglaublich stolz. Doch der Glückstaumel wurde schnell von seinen Bedenken überschattet. Würde die Reiseerlaubnis überhaupt noch kommen? Sie warteten jetzt schon ein halbes Jahr darauf und hatten angefangen zu überlegen, wie ihr Leben aussehen würde, wenn sie für immer in Polen bleiben müssten. Und selbst wenn das heiß ersehnte Papier bald kommen würde, er wusste, wie dieses Formular aussah. Es gab ein Feld mit der Überschrift "Kinder". Wenn an dieser Stelle nur ein Strich wäre, könnten sie alles vergessen. Er hatte den Antrag gestellt, seine schwangere Frau zu ihrer Schwester zu begleiten. Reisen in die DDR wurden höchstens Familienangehörigen ersten Grades gestattet, Reisen in die BRD natürlich überhaupt nicht. Charlotte hatte ihm die Reisegenehmigung nur ermöglichen können, solange sie noch nicht auf der Welt war.
Diese Sorgen hatte er für sich behalten, damit wollte er seine Frau lieber nicht belasten. Würde sich jemals noch so eine Gelegenheit bieten? Im westdeutschen Radio wurde darüber spekuliert, ob Ostdeutschland den bislang freien Grenzübergang schließen würde. Seine S-Bahnstation wäre vielleicht schon sehr bald kein Weg in die Freiheit sondern eine Geisterstation. Er war diese Diskriminierung so Leid, konnte sich noch zu gut daran erinnern, wie in der Schule alle, die "von da sind" aufstehen mussten, wie er als Klassenbester in Mathematik eine vier bekam, nur weil er bei der Frage nach Stalins Geburtstag passen musste. Als er auch Hitlers Geburtstag nicht kannte, war dies mit Hohn abgetan worden. Das und vieles andere hatte er gelassen ertragen, er lernte schließlich fürs Leben und nicht für die polnischen Lehrer. Aber als er für die Zulassung zum Studium eine Bescheinigung erbringen sollte, dass er Pole sei, war er wirklich wütend geworden. Schließlich hatte er doch die polnische Staatsangehörigkeit. Am Amtsgericht war er auf einen Rechtspfleger gestoßen, der ihm nicht nur ein entsprechendes Papier ausstellte, sondern ihm auch bestätigte, dass in seinen Akten ein N vermerkt war für 'Niemec'. Das bezog sich auf die deutsche Volkszugehörigkeit. Aber eine Bemerkung hatte der Beamte sich nicht verkneifen können: 'Bei euch galt ein J oder ein P im Pass als Makel, um klar zu machen, wer in Deutschland keine Chance hatte. Jetzt sollt ihr einmal spüren, wie das ist!' Das alles wollte Oswald seinen Kindern unbedingt ersparen. Mühsam schleppte er sich die Treppe hoch, seine Beine waren schwer wie Blei.
Kaum hatte er die Tür geöffnet, lief Margarethe ihm entgegen. Sie hatte immer noch dunkle Ringe unter den Augen, die Geburt war schwer gewesen. Aber jetzt strahlte sie.
"Oswald, hier schau nur, die Reiseerlaubnis ist endlich gekommen!", sie reichte ihm ein erstaunlich gewöhnlich aussehendes Papier.
"Endlich!", er küsste sie flüchtig, faltete das Dokument mit feuchten Händen auseinander und überflog es. 'Reiseerlaubnis nach Torgau / DDR ... für ... Kinder: '. Er starrte auf das Feld und blinzelte. War es wirklich völlig weiß oder spielten seine Augen ihm einen Streich?
"Und hier das Feld ist leer, wir können Charlotte einfach eintragen!", seine Frau deutete auf genau diese Stelle. Er sah sie an. Sie hatte es gewusst! Und sie war ebenfalls so klug gewesen, dieses Problem nicht anzusprechen. Plötzlich fühlte er sich, als könne er Bäume ausreißen. Er umarmte sie heftig.
"Das ist ja wunderbar! Dann können wir fahren, sobald du dich erholt hast und Charlotte etwas größer ist."
Sie schüttelte den Kopf und deutete wieder auf das Dokument.
"Nein, schau doch, die Reiseerlaubnis gilt nur bis Ende Oktober. Wir müssen spätestens in drei Wochen los. So eine gefährliche Reise mit einem kleinen Säugling!" Sie seufzte.
***
Wie immer quoll die zugige Bahnhofshalle vor Menschen fast über. Vor ihm diskutierten zwei untersetze, ältere Bauersfrauen in bodenlangen Röcken, die penetrant nach Schweinestall rochen, lautstark über Hochzeitskleider. Er versuchte ruhig da zu stehen, die Hände in den Hosentaschen, damit sie nicht zittern konnten. Während die Schlange vor ihm nur quälend langsam kürzer wurde, ging er seinen Plan in Gedanken zum hundersten Mal durch. Es blieb ihnen nicht mehr viel Zeit, einen Umzug für immer vorzubereiten. Um nicht aufzufallen, würden sie nur einen Koffer mitnehmen können. Und sie brauchten Geld. Hatte er wirklich an alles gedacht? Bis jetzt hatten sie nur Glück gehabt, er hatte sogar kurzfristig Urlaub bekommen. Und schließlich hatte er sich bis jetzt immer durchgesetzt. Als Jüngster war er von seinen zwei älteren Geschwistern verwöhnt worden. Als er nach Kriegsende für kurze Zeit ganz alleine zu Hause war, musste er sich jedoch selbständig an der inzwischen polnischen Schule anmelden. Und weil der neue Direktor sich weigerte, Deutsch zu verstehen, hatte der zwölfjährige Oswald bei der Frage nach seinem Vater seine gesamten Polnischkenntnisse zum Besten gegeben: Das Vaterunser. Da hatte der polnische Direktor gelacht und seine Anmeldung auf Deutsch angenommen.
"... Möbel für die neue Wohnung. Woher soll meine Tochter die denn so plötzlich herzaubern? Es gibt doch nichts!"
Bei diesen Worten schreckte Oswald aus seinen Gedanken und mischte sich in das Gespräch ein.
"Entschuldigen sie bitte, wir haben ein paar Möbel zu verkaufen."
"Oh, was für ein Glücksfall!" Die Brautmutter klatsche in die Hände und strahle Oswald mit ihren schiefen Zähnen an.
"Was haben sie denn? Am dringendsten brauchen Brautleute ein Bett und ..."
"Aber Stascha!", die andere Frau stieß ihrer Freundin den Ellbogen in die Rippen, "Sein Ehebett wird so ein hübscher, junger Mann wohl kaum hergeben. Schau doch, er trägt einen Ehering!"
Beide Frauen prusteten vor Lachen und Oswald wusste nicht, was er sagen sollte. Da hörte er eine dröhnende Stimme hinter sich:
"Sie verkaufen ihre Möbel? Wieso brauchen sie die nicht mehr? Wollen sie etwa nach rüber machen?"
Oswald drehte sich erschrocken um. Und schaute direkt auf die Erdbeernase seines Nachbarn Stanislaw. So wie er redete, spionierte er wohl wirklich für die Staatssicherheit. Plötzlich herrschte eisiges Schweigen. Alle starrten die beiden an. Oswald meinte, dass jeder sein Herz schlagen hören müsste. Warum war er nur so unvorsichtig gewesen und hatte geredet, ohne sich vorher umzusehen? Und jetzt würde Stanislaw auch noch mithören, welche Fahrkarten er kaufen wollte. Sollte er wieder gehen? Nein, das wäre erst recht verdächtig. Wie sollte er sich jetzt rausreden?
"Ach Stanislaw, du weißt doch, dass ich mir schon lange ein Motorrad kaufen wollte. Und Omas alter Dielenschrank ist doch wirklich viel zu klobig für unsere kleine Wohnung."
Stanislaw zupfte an seinem Bart herum.
"Ach, wenn das so ist. Sag mir Bescheid, wenn ich tragen helfen soll."
So leicht war er zufrieden zu stellen? Oswald traute seinen Ohren nicht.
"Ja, danke", sagte er nur und wandte sich wieder an die Brautmutter, um ihr den Schrank zu beschreiben und ihr seine Adresse zu geben. Als die beiden Frauen kurz danach ihre Fahrkarte kauften, hauchte Stanislaw seinen Wodkaatem in Oswalds Ohr.
"Mensch Oswald, da hättest du dich ja fast verplappert! Wenn ich dich nicht rechtzeitig gebremst hätte, wer weiß, wem die Mütterchen erzählt hätten, dass du deine ganze Wohnungseinrichtung verkaufen willst!"
Oswald starrte seinen Nachbarn ungläubig an. Sollte vielleicht doch etwas an dem Gerücht dran sein, dass die Spitzel der Staatssicherheit ihre Nachbarn schützen sollten? Damit sie einen guten Leumund haben, falls das Blatt sich einmal wenden sollte.
Stanislaw räusperte sich. "Weißt du, meine Maugoscha schwärmt doch so von eurem schönen Küchenschrank!" Er zwinkerte ihm vielsagend zu.
In diesem Moment räumten die beiden Frauen das Feld und Oswald stand endlich vor dem Schalter.
"Ich hätte gerne zwei Fahrkarten im Mutter-Kind-Abteil für den 15. Oktober von Posen nach Torgau – hin und zurück", beeilte er sich zu sagen.
"Torgau? Hm. DDR. Ihre Reiseerlaubnis!" Der hagere Bahnbeamte hob kaum seinen spärlich behaarten Kopf. Oswald legte das Dokument auf den abgewetzten Holztresen. Der Beamte warf einen Blick darauf, rückte seine Brille zurecht und blätterte dann umständlich in seinem Kursbuch.
"Die kürzeste Strecke geht über Berlin."
Oswald konnte ein zufriedenes Grinsen kaum unterdrücken. Sie mussten unbedingt den Umweg über das viel weiter nördlich liegende Posen nehmen, denn die Strecke von ihrem Wohnort aus führte nicht über Berlin. Aber sofort bekam sein Triumph einen empfindlichen Dämpfer.
"Warum von Posen aus?"
"Weil meine Frau in Posen wohnt. Ich arbeite nur die Woche über hier. Wir werden zusammen von ..."
"Pässe?"
"Ja, natürlich."
Mit feuchten Händen kramte Oswald die Pässe umständlich aus seiner Jackentasche.
'Oje, daran haben wir nicht gedacht! Hoffentlich schaut er nicht nach dem Wohnort', dachte er. 'Sonst ist alles aus.'
"18:17 Uhr ab Posen. Berlin 8:08 Uhr." Die Blätter des dicken Buches raschelten und dann fuhr der knochige Zeigefinger des Schaffners wieder über die eng beschriebenen Seiten. Oswald legte die Pässe geschlossen auf den Tresen.
"Weiter 16:32 Uhr. Torgau 21:24", der Schaffner griff nach den Pässen. 'Nein!', dachte Oswald und ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt.
"Was, acht Stunden in Berlin?", fragte er. Das Entsetzten in seiner Stimme würde jeder auf den langen Aufenthalt zurück führen. Dabei freute er sich auf die lange Wartezeit besonders. Genau so hatte er es geplant.
"Wir haben ein kleines Baby. Gibt es keine andere Verbindung?"
"Nein."
Der Schaffner rückte wieder seine Brille zurecht und schlug den ersten Pass auf.
Oswald hielt die Luft an und betete wie noch nie in seinem Leben.
"Wie lange dauert das denn da noch? Mein Zug geht bald!", rief Stanislaw in diesem Moment von hinten. Der Schaffner richtete sich auf. Seine Wangen hingen schlaff herab. Er stemmte seine linke Faust in den Rücken und starrte Stanislaw an. Dann seufzte er, stellte schnell die Fahrkarten aus und reichte sie Oswald. Der jubelte innerlich und bezahlte schnell.
"Dann mal gute Fahrt!", sagte Stanislaw und zwinkerte ihm wieder zu. Oswald war in diesem Moment so glücklich, dass es ihm nicht schwer fiel, dem Spitzel zu zulächeln.
"Vielen Dank!", sagte er und zwinkerte zurück. "Der Küchenschrank wird Euch gefallen!"
****
Langsam drangen die ersten Sonnenstrahlen durch das schmutzige Zugfenster und Margarethe konnte die vorbeifliegenden Felder, Wiesen und Wälder im grauen Dunst erahnen. Oswald hatte es sich auf der gegenüberliegenden Bank so bequem gemacht, wie es mit seinen langen Beinen eben möglich war, und schnarchte leise vor sich hin. Margarethe hatte in der Nacht kein Auge zugetan. Der Zug rumpelte und knarrte fürchterlich, es stank nach Kunstleder und abgestandenem Schweiß, mitten in der Nacht hatten die Grenzposten der DDR ihre Pässe kontrolliert, und dann hatte die kleine Charlotte immer wieder geschrieen. Eine nächtliche Zugfahrt ist nicht gerade das, wovon ein Säugling träumt. Vielleicht ahnte sie auch, dass etwas Gefährliches bevorstand. Bald würden sie Ostberlin erreichen. Und dann? Wie schwer würde es werden, in den Westteil der Stadt zu gelangen? Es gab regen Verkehr in beide Richtungen, aber wie streng wurde er kontrolliert? Außerdem hatten sie zwar die S-Bahn-Stationen auswendig gelernt, aber Deutschland war für sie ein fremdes Land, die Sprache hatten sie jahrelang nur heimlich zu Hause flüstern können. Würden sie so viel Glück haben wie bisher? Im Radio war berichtet worden, dass die Kinder der sogenannten Republikflüchtlinge oft zwangsadoptiert wurden. Margarethe wurde ganz flau im Magen. War das nur Propaganda? Nein, nicht dran denken! Aber was würde sie in Westdeutschland erwarten? Auch dort gab es noch jede Menge Trümmer. Wie lange würden sie in Flüchtlingslagern leben müssen? Sie hatten in Oberschlesien nicht viel gehabt, aber immerhin eine schön eingerichtete Wohnung und eine sichere Arbeit. Und jetzt fuhren sie in die Ungewissheit - ganz alleine. Wann würden sie Eltern und Geschwister wieder sehen? Als Flüchtlinge würden sie noch nicht einmal zu Besuch kommen können. Und dann hatte Margarethes Vater auch noch rumgepoltert: "Fahrt in Gottes Namen! Aber lasst das Kind hier! Das ist zu gefährlich!" Sie seufzte. Hatte er nicht doch Recht? Es war ein trauriger Abschied am Bahnhof gewesen. Nur Oswalds Bruder hatte sie begleitet. Es wäre sonst aufgefallen, dass es vielleicht ein Abschied für immer war. Würden sie Freunde finden oder würden sie immer "die von drüben" sein, so wie sie es bisher waren, nur andersherum? Ihren Nachnamen würden sie buchstabieren müssen, würde man ihnen glauben, dass sie Deutsche sind?
Inzwischen hatte die Sonne den Horizont überwunden und tauchte die Welt in freundliches Herbstlicht. Doch kurz darauf schoben sich immer häufiger graue Betonbauten ins Bild, die Endstation rückte näher. Margarethe weckte ihren Mann, legte Charlotte in den Kinderwagen und dann standen sie mit rasenden Herzen vor der Zugtür, während die Bremsen ohrenbetäubend kreischten. Kaum hatten sie den Kinderwagen und den einen Koffer mit ihrem gesamten Hab und Gut, hauptsächlich Windeln, auf den Bahnsteig hinunter gehievt, als auch schon ein eifriger Volkspolizist auf sie zu eilte.
"Ihre Fahrkarten bitte!" Sein Dialekt klang merkwürdig in Margarethes Ohren. Oder würde ihr ungewohntes Deutsch in den Ohren aller anderen komisch klingen? Oswald holte die Papiere aus seiner verknitterten Jackentasche. Was wollte der Vopo überhaupt? Normalerweise muss man die Fahrkarte nur im Zug vorzeigen. Ihr war wieder heiß und kalt. Charlotte wurde unruhig. Margarethe nahm sie auf den Arm, drückte sie an sich und versuchte sie zu beruhigen. Oder sich selbst.
"Soso, aus Polen kommen Sie!", sagte der Polizist, während er die Fahrkarten studierte. "Und Ihr Zug nach Torgau geht erst nachmittags um vier."
Charlotte wimmerte immer lauter, so dass der Polizist sie schließlich bemerkte.
"Es gibt hier eine Rot-Kreuz-Station, da können sie sich mit dem Kind solange aufhalten. Ich bringe sie hin, hole sie dann um vier wieder ab und bringe sie zu ihrem Zug." Er gab Oswald die Fahrkarten zurück.
'Du hinterhältiger Vopo!', dachte Margarethe. 'Tust so hilfsbereit, dabei willst du nur kontrollieren, ob wir auch wirklich in den richtigen Zug steigen! Jetzt bloß nicht in diese Rot-Kreuz-Station! Wie sollen wir von da denn weg kommen?' Sie drückte Charlotte noch enger an sich und summte ein Schlaflied. Das Kind fing inzwischen laut an zu schreien.
"Ich habe eine Tante in Potsdam", erklärte Oswald dem Polizisten. "Das soll nicht so weit sein. Dort können wir das Kind sicher besser versorgen und meine Frau kann sich etwas hinlegen. Sie hat im Zug schlecht geschlafen."
Der Polizist schaute erst Oswald, dann die erschöpfte Mutter mit dem Kind nachdenklich an. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie meinte, er würde es auch hören. Doch Charlotte schrie noch lauter.
"Na ja, vielleicht ist das wirklich das Beste", sagte der Vopo schließlich. "Nach Potsdam braucht die S-Bahn-Linie eins nur eine viertel Stunde. Kommen sie, ich bringe sie zum Bahnsteig." Er nahm ihren Koffer und ging mit entschlossenen Schritten vor.
'Ein Vopo trägt uns den Koffer auf der Flucht in den Westen! Na, wenn das kein gutes Zeichen ist!' Margarethe konnte ihr Glück kaum fassen. Oswald schob den Kinderwagen und lächelte ihr aufmunternd zu. Charlotte war inzwischen wieder eingeschlafen. Wie im Traum wanderten sie über den Bahnsteig, Treppen runter, Fahrkarte kaufen, Treppen rauf. Neugierig schaute Margarethe sich um. Alles war hier anders, sauberer, deutsche Plakate, deutsche Stimmen. Ihr war ganz schwindelig.
Endlich stiegen sie in die S-Bahn. Es war sehr voll, deshalb blieben sie vor der Tür stehen. Margarethe hielt Charlotte weiterhin auf dem Arm, und versuchte das Kind und sich selbst zu beruhigen. Eine Lampe über der Tür blinkte, ein nervtötendes Piepsen ertönte, die Türen schlossen sich und die S-Bahn setzte sich rumpelnd und quietschend in Bewegung. Sie fuhren über eine Brücke und konnten von oben deutlich sehen, dass auch halb Berlin noch unter Trümmern lag. Aber die Häuser waren nicht so sehr vom Ruß geschwärzt wie in Oberschlesien. Oswald schaute mit unbeweglichem Gesicht aus dem Fenster, als wäre er diese Strecke schon hundert Mal gefahren. Sie hatten beschlossen, nicht zu reden, um sich durch ihren Dialekt nicht zu verraten. Jetzt war ihr Mund sowieso staubtrocken, sie hätte keinen Ton heraus gebracht.
Die S-Bahn hielt an einer Station namens Jannowitz-Brücke. Wieder stiegen viele Menschen ein und aus, schoben sich mürrisch am Kinderwagen vorbei. Ein Vopo blieb direkt neben ihnen stehen. Margarethes Herz schlug bis zum Hals.
'Wir haben eine Fahrkarte bis Potsdam', versicherte sie sich selber. 'Kritisch wird es erst, wenn wir in Westberlin aussteigen.'
Danach kam der Alexanderplatz und dann die Station Marx-Engels-Straße, eindeutig noch DDR.
'Wann steigt der Vopo endlich aus? Jetzt müsste gleich die Grenze kommen!', dachte Margarethe, doch sie konnte keinen Unterschied erkennen. Trümmer gab es auch hier. Sahen die Häuser nicht irgendwie weniger grau aus? Oder bildete sie sich das ein? Dann fuhr die S-Bahn in den Lehrter Bahnhof ein. Sie hatten beschlossen, nicht an der ersten Station im Westen auszusteigen, das wäre zu auffällig. Margarethe schaute sich wieder neugierig um. Die Hinweisschilder am Bahnhof sahen genauso aus wie in der DDR. Und außer den Vopos sah sie keine anderen Uniformen. Merkwürdig. Sie wagte es nicht, Oswald zu fragen. Er starrte ebenfalls weiterhin aus dem Fenster.
An den Stationen Bellevue und Tiergarten sah es genauso aus, gleiche Schilder und Uniformen. Hatten sie sich vertan? Waren sie in der falschen S-Bahn? Oder war die Grenze etwa inzwischen geändert worden? Auch der Vopo neben ihnen wollte einfach nicht aussteigen. Danach kam der Bahnhof Zoo in Sicht, eine Vielzahl von Zügen verteilte sich auf einem großen Dickicht von Gleisen. Endlich stieg der Vopo aus. Margarethe fiel ein Stein vom Herzen. Die Fahrt sollte doch nur ein paar Minuten dauern. Sie schaute nervös auf die Bahnhofsuhr. Es waren bestimmt die längsten Minuten ihres Lebens.
Als Nächstes folgte der Savignyplatz. Vorsichtig schaute sie sich um. War einer der anderen Fahrgäste vielleicht ein Mitarbeiter der Staatssicherheit in Zivil, der ihr das Kind sofort aus dem Arm reißen würde, wenn sie versuchen würde auszusteigen? Ihr wurde wieder übel. Und sofort fing Charlotte an zu jammern. Das Kind lenkte sie ein wenig von ihren tausend Fragen ab. An der nächsten Station würden sie aussteigen. Sie legte Charlotte in den Kinderwagen und schaukelte ihn mit ihren schweißnassen Händen in dem Versuch, das Kind zu beruhigen. Sie hatte das Gefühl, dass jeder sie anstarrte.
Endlich waren sie in Charlottenburg. Die Bremsen quietschten erneut. Links am Ende des Bahnsteigs stand schon wieder ein Vopo. Oswald zeigte mit einem Kopfnicken schweigend zur Treppe und ging mit dem Koffer vor. Margarethe mit dem Kinderwagen hinterher. Lieber wäre ihr gewesen, Charlotte weiter am Arm zu tragen, aber wie sollte sie dann den Kinderwagen die Treppe hinunter bekommen. Sie wollten sich nicht wieder von einem Vopo helfen lassen! Unten ging Oswald schnurstracks zum Ausgang, Margarethe immer hinterher. Und gleich da vorne stand ein Polizist lässig am Straßenrand. Er trug eine völlig andere Uniform als die Vopos. Oswald ging auf ihn zu und stellte die unverfängliche Frage, die sie sich vorher ausgedacht hatten:
"Entschuldigen Sie, wir kommen gerade aus Polen und -"
"Was, aus Polen? Über zwei Grenzen? Wie haben Sie das denn geschafft?" Der Polizist riss seine Augen ungläubig auf, schluckte und streckte Oswald dann seine Hand entgegen. "Herzlichen Glückwunsch! Willkommen in Westdeutschland! Gehen sie bloß nicht zurück zur S-Bahn-Station, die gehört zum Hoheitsgebiet der DDR!"
Margarethes Beine wurden weich wie Gummi und Tränen der Erleichterung rannen ihr über das Gesicht. Endlich! Geschafft!
Meinen Eltern gewidmet, die mir alles im Wesentlichen so erzählt haben.
Nachtrag: Ich habe diese Geschichte geschrieben, bevor mir bewusst war, dass das Thema Flucht der Deutschen gerade in und auch umstritten ist. Deshalb möchte ich hier darauf hinweisen, dass die Ungerechtigkeit, die meine Eltern erfahren haben, seine Ursache in noch größeren Verbrechen hatte.