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Frohes Fest, kleine Assel
«Herr Professor Cremerius.» Der Ruf stoppte seinen Schritt auf der Schwelle, eben wollte er den Hauseingang betreten. Als er zurückblickte, sah er Frau Golowin keuchend näherkommen, mit Einkaufstaschen bepackt.
«Frau Golowin.» Er trat auf sie zu und griff nach zwei der Taschen. «Sie tragen zu schwer, ich helfe Ihnen. Kommen ihre Kinder zum Heiligen Abend?»
«So war es nicht gemeint», doch sie sträubte sich nicht, als er ihr ein Teil der Lasten abnahm. «Ja heute Abend sind wir alle mal wieder vereint, mitsamt den Enkelkindern. Es ist schön, diesen Abend im Schoss der Familie zu verbringen.»
Am Treppenabsatz stellte er die Taschen ab, um die Griffe fester zu packen.
«Es freut mich, dass ich Sie vor den Feiertagen noch treffe. Ich möchte Ihnen doch noch etwas vom Weihnachtsgebäck geben, das ich machte.» Sein Lächeln signalisierte ihr seine erfreute Zustimmung, während sie die Treppe hochstiegen.
«Und Sie, haben Sie etwas vor über diese Tage?», erkundigte sich Frau Golowin.
«Ja morgen besuche ich meine Tochter.»
«Das ist gut, denn man sollte nicht zu viel allein sein. Besonders in diesen Tagen ist es schmerzlich spürbar, wenn andere im Kreis ihrer Lieben weilen.»
Cremerius lachte, mit sarkastischem Unterton. «Ich fühle mich keineswegs einsam. Meine Arbeit nimmt mich nach wie vor voll in Anspruch, auch wenn ich inzwischen pensioniert bin. Die Forschung kennt keinen Ruhestand. Zudem habe ich seit drei Jahren eine Lebensgefährtin.»
«Oh, eine Lebensgefährtin? Das ist mir gar nie aufgefallen. Sie ist mir, glaube ich wenigstens, noch nie begegnet.» Sie schaute ihn verwundert an.
«Jetzt habe ich mich ganz falsch ausgedrückt», meinte er verlegen lachend. «So etwas wie ein Heimtier, würde der Sache wohl eher gerecht werden.»
«Das ist aber nett. So ein Tier kann ein guter Gesellschafter oder eben eine Gesellschafterin sein. Wenn sie nicht zu viel Aufwand machen, kann man vorwiegend ihre angenehmen Seiten geniessen.»
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. «Für mich kam auch nur etwas Pflegeleichtes und Stilles in Frage. Bei meiner Arbeit wäre mir beständige Unruhe lästig und störend.»
«Darum hörte ich auch nie einen Laut. Etwa ein Chamäleon? Das sind ja spezielle Tiere und zeigen ihre emotionalen Befindlichkeiten, soweit mir bekannt, vorwiegend durch Verfärbungen. Aber ärgern, sollte man sie trotzdem nicht», bemerkte sie neckisch.
«Nein, nein, kein Chamäleon. Dies wäre mir schon zu aufwändig und auch zu gross. Sie ist sehr, sehr klein und war einfach plötzlich da.»
«Ah?» Frau Golowin schaute ihn fragend an.
«Umgangssprachlich weist sie indirekt eine Verwandtschaft mit den Kellerasseln auf.» Als er ihren fassungslosen Gesichtsausdruck wahrnahm, fügte er schnell hinzu: «Solcherart ist sie natürlich nicht. Ich meinte dies wirklich nur in ganz gewöhnlichem Sprachgebrauch, oberflächlich assoziiert und über mehrere Ecken gedacht. Wissenschaftlich, oder genauer histologisch, nennt man es kurz auch PCa. Die ableitende Namensverwandtschaft ist amüsanterweise aber wirklich seit antiker Zeit gegeben, weshalb ich sie auch ab und zu meine kleine Assel nenne. Galenos von Pergamon hatte einen Artverwandten meiner Kleinen zumindest annähernd so beschrieben.»
Ihr Schreck, Kellerasseln im Haus zu haben, war verflogen. «Da machen Sie mich aber neugierig. Darf ich sie mal sehen?»
Cremerius machte den Eindruck, als ob es ihm peinlich wäre. «Das ist schwierig. Eigentlich hält sie sich immer versteckt, man sieht sie nie. Aber man weiss, dass sie da ist. Ich hätte es besser nicht erwähnen sollen, dies war wirklich dumm von mir. Es ist mir einfach so rausgerutscht. Entschuldigen Sie bitte, Frau Golowin.»
«Nein, nein, ich bin froh, dass Sie es erwähnten. Ich finde es nämlich gut, dass Ihnen jemand Gesellschaft leistet. Die Stabschrecken von meinem seligen Johannes sitzen ja auch meist bewegungslos da. Wer es nicht weiss, nimmt sie nicht mal wahr und denkt, welch nettes Pflanzenterrarium ich da pflege.» Ihre Worte beendete sie mit einem Lachen.
«Ja genau das ist es. Sie verhält sich wie Ihre Medauroidea extradentata, nur ist sie sehr, sehr viel kleiner als diese. Aber der Vergleich hat etwas an sich. Lässt man sie in Ruhe, rührt sie sich meist nicht und ist kaum wahrnehmbar. Also lasse ich sie in Frieden und sie mich auch.»
«Sie kennen die lateinische Bezeichnung meiner Stabschrecken.»
«Das verdanke ich Johannes. Er hatte diesen Artbegriff seinen Kommilitonen für immer eingeimpft. Wenn er mal ein Glas zu viel trank, meinte er stets über seine Schrecken dozieren zu müssen. Wir nannten sie deshalb, natürlich nur hinter seinem Rücken, die Vietcongs. Perfekt getarnt fallen sie unerwartet über einen her.»
«Er wusste davon und war überzeugt, dass diese Titulierung nur von Ihnen stammen könne. Er hielt sehr viel von Ihrem besonderen Humor, der vor nichts haltmacht.»
«So schlimm bin ich nun auch nicht, aber wir erlaubten uns natürlich so manchen Jux. Nun wir waren jung und kanalisierten so unseren Übermut. Johannes war da auch nicht ohne. Wegen seines Steckenpferds nannten wir ihn übrigens heimlich, Johannes der Schreckliche.»
«Wissen Sie was Herr Cremerius, kommen Sie doch heute Nachmittag gegen vier Uhr zu Tee und Gebäck vorbei. Dann kann Ihr Kleines auch meine Stabschrecken kennenlernen. Oder meinen Sie sie fürchte sich vor ihnen? Ich werde das Terrarium auch nicht öffnen, es kann also nichts passieren.»
Cremerius wirkte nun gänzlich bedrängt und schien einen Moment zu überlegen. «Ich möchte nicht Ihre Familienfeier stören», meinte er dann ablehnend.
«Die Kinder kommen erst gegen sieben Uhr, und bis vier habe ich ohnehin alles vorbereitet. Also ich rechne fest mit Ihnen. Ein Nein akzeptiere ich nicht, nicht heute am Heiligen Abend.»
Er stellte die Taschen auf ihren Küchentisch, sich für die Büchse mit dem Weihnachtsgebäck bedankend, die sie ihm schnell noch in die Hände drückte.
Eine Schachtel zartbittere Likör-Pralinen in der Hand, die er noch schnell besorgt hatte, drückte er pünktlich am Knopf ihrer Türglocke. Er wusste, diese Sorte war eine Schwäche von Frau Golowin. Sie sah ihn tadelnd an, als er sie ihr überreichte. «Aber Herr Professor, Sie wissen doch, ich sollte dies nicht ...»
«Genuss kann nie Laster sein, denn Laster stellt keinen Genuss dar, sagte Ihr Mann doch bei entsprechenden Anlässen.» Cremerius zeigte ein entwaffnendes Lächeln, das ihm zu eigen war und Widerstände seiner Gegenüber meist schwinden liess.
Sie schmunzelte. «Johannes war ein Genussmensch. Auf seine Zigarren und einen guten Cognac liess er nichts kommen.»
Im Wohnzimmer war der Couchtisch gedeckt. Von einer dicken Kerze, welche in einem Gesteck aus Tannenzweigen und einigen Christrosen platziert war, ging ein mildes Licht aus. In einer Ecke stand ein geschmückter Weihnachtsbaum, unter dem buntfarbige Päckchen ausgebreitet lagen.
«Möchte Ihre Lebensgefährtin vielleicht erst die Schrecken begrüssen? Kommen Sie.»
Sie traten ins Arbeitszimmer. An einer Wand stand das Terrarium, in dem bei flüchtiger Betrachtung nur Hölzer und Laubblätter auszumachen waren. «Hallo ihr Lieben. Herr Cremerius hat euch seine kleine Assel mitgebracht. Sie wohnt bereits seit drei Jahren nebenan und wir wussten gar nichts davon. Es ist doch schön, dass ihr sie nun gerade zum Heiligen Abend kennenlernt. Sie ist wie ihr und lässt sich nicht blicken, aber ihr könnt euch sicher auch so verständigen.»
Aus der Küche holte sie die Teekanne und stellte sie neben das ausgebreitete Gebäck.
«Ich hatte noch ausreichend Zeit, um nachzusehen, was es über die Kellerasseln so Wissenswertes zu lesen gibt. Es war höchst interessant, man kommt darüber von dem einen auf das andere Thema, wenn man es aufmerksam studiert. Vor Galenos von Pergamon beschäftigte sich bereits Hippokrates damit. Wussten Sie das?»
Cremerius biss in eines der Weihnachtsgebäckstücke, um sich vor einer Antwort zu drücken.
«Sie müssen auch von diesen Brunsli probieren», meinte Frau Golowin und zeigte auf blätter- und sternförmiges Gebäck, das mit Zucker bestreut war. «Diese sind mir besonders gut gelungen. Ich habe ein originales Basler Brunsli-Rezept von einer Freundin bekommen.»
«Mmmh, ja, wirklich wunderbar.»
«Nehmen Sie die Kleine morgen auch zu Ihrer Tochter mit?»
«Ja doch, wir sind unzertrennlich. Aber meiner Tochter gegenüber erwähne ich nichts, sie mag absolut keine Tiere in ihrer Wohnung. Die Hygiene geht ihr über alles.»
«Sie weiss von nichts?» Frau Golowin sah ihn mit grossen Augen ernst an.
«Nein, und das ist auch gut so. Sie würde sich nur unnötige Gedanken machen, dabei ist es wirklich nur eine stille, nicht störende Mitbewohnerin. Wir haben uns bestens miteinander arrangiert.»
«Aber denken Sie nicht, wenn sie es später einmal erfährt, enttäuscht sein wird?»
«Ich glaube kaum, dass sie es jemals erfährt. Das Besondere an meiner Mitbewohnerin ist, dass sie absolut treu ist und mit in den Tod geht, wenn der Hausherr als Wirt sie nicht mehr nähren kann.»
«Sie haben wahrscheinlich recht. Mein seliger Johannes hatte mir auch nicht immer alles erzählt. Dabei wusste ich doch, dass er in jungen Jahren so manchmal über die Stränge schlug. Mit der Zeit legte es sich, doch war es gut, nicht immer alles offen zu legen. Dadurch hatten wir viele glückliche Jahrzehnte. Er würde sich bestimmt freuen, wenn er wüsste, dass wir heute hier zusammen Tee trinken, Weihnachtsgebäck naschen und dabei plaudern.»
«Ich erinnere mich, wie ich mit Johannes seinerzeit an einer Studentenfete war. Am Heiligen Abend sowie am Weihnachtstag ging dies nicht, da mussten alle bei ihren Familien antraben. Aber am Abend danach, da hauten wir auf die Pauke. Für Geselligkeit war er immer zu haben. An sich waren die Familienfeiern damals aber auch ganz nett.»
«Möchten Sie vielleicht heute Abend bei uns verbringen, Herr Cremerius?»
«Das war nur so eine Erinnerung, Frau Golowin. Man kann die Vergangenheit nicht zurückholen. Seit vielen Jahren mache ich mir auch gar nichts mehr aus diesen Weihnachtsanlässen. Als die Kinder noch klein waren, war es etwas Besonderes, ihre staunenden Augen zu sehen. Aber es ist lieb, dass Sie nachfragten. Doch für heute habe ich alles für einen angenehm stillen Abend in Zweisamkeit vorbereitet. Wissen Sie, mein kleines Geheimnis ist, seit wenigen Jahren bereite ich mir an diesem Abend exklusiv ein Festmahl zu. Es ist mir ein Genuss, bei Kerzenlicht und Musik von Händel oder Bach dazusitzen und einfach zu träumen, die Kleine im Schoss.»
«Das verstehe ich vollauf, die Zweisamkeit hat schon ihren besonderen Reiz, vor allem auch an den Weihnachtstagen. Na, dann bleibt mir nur Ihnen ein frohes Fest zu wünschen. Auch dir ein frohes Fest, kleine Assel». Bei den letzten Worten streifte ihr Blick diskret seinen Schoss, wo die Kleine, der Gestalt eines Krebses ähnlich, ihren ständigen Sitz hatte.