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Frohes Fest, kleine Assel

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29.01.2010
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Frohes Fest, kleine Assel

«Herr Professor Cremerius.» Der Ruf stoppte seinen Schritt auf der Schwelle, eben wollte er den Hauseingang betreten. Als er zurückblickte, sah er Frau Golowin keuchend näherkommen, mit Einkaufstaschen bepackt.
«Frau Golowin.» Er trat auf sie zu und griff nach zwei der Taschen. «Sie tragen zu schwer, ich helfe Ihnen. Kommen ihre Kinder zum Heiligen Abend?»
«So war es nicht gemeint», doch sie sträubte sich nicht, als er ihr ein Teil der Lasten abnahm. «Ja heute Abend sind wir alle mal wieder vereint, mitsamt den Enkelkindern. Es ist schön, diesen Abend im Schoss der Familie zu verbringen.»

Am Treppenabsatz stellte er die Taschen ab, um die Griffe fester zu packen.
«Es freut mich, dass ich Sie vor den Feiertagen noch treffe. Ich möchte Ihnen doch noch etwas vom Weihnachtsgebäck geben, das ich machte.» Sein Lächeln signalisierte ihr seine erfreute Zustimmung, während sie die Treppe hochstiegen.
«Und Sie, haben Sie etwas vor über diese Tage?», erkundigte sich Frau Golowin.
«Ja morgen besuche ich meine Tochter.»
«Das ist gut, denn man sollte nicht zu viel allein sein. Besonders in diesen Tagen ist es schmerzlich spürbar, wenn andere im Kreis ihrer Lieben weilen.»
Cremerius lachte, mit sarkastischem Unterton. «Ich fühle mich keineswegs einsam. Meine Arbeit nimmt mich nach wie vor voll in Anspruch, auch wenn ich inzwischen pensioniert bin. Die Forschung kennt keinen Ruhestand. Zudem habe ich seit drei Jahren eine Lebensgefährtin.»
«Oh, eine Lebensgefährtin? Das ist mir gar nie aufgefallen. Sie ist mir, glaube ich wenigstens, noch nie begegnet.» Sie schaute ihn verwundert an.
«Jetzt habe ich mich ganz falsch ausgedrückt», meinte er verlegen lachend. «So etwas wie ein Heimtier, würde der Sache wohl eher gerecht werden.»
«Das ist aber nett. So ein Tier kann ein guter Gesellschafter oder eben eine Gesellschafterin sein. Wenn sie nicht zu viel Aufwand machen, kann man vorwiegend ihre angenehmen Seiten geniessen.»
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. «Für mich kam auch nur etwas Pflegeleichtes und Stilles in Frage. Bei meiner Arbeit wäre mir beständige Unruhe lästig und störend.»
«Darum hörte ich auch nie einen Laut. Etwa ein Chamäleon? Das sind ja spezielle Tiere und zeigen ihre emotionalen Befindlichkeiten, soweit mir bekannt, vorwiegend durch Verfärbungen. Aber ärgern, sollte man sie trotzdem nicht», bemerkte sie neckisch.
«Nein, nein, kein Chamäleon. Dies wäre mir schon zu aufwändig und auch zu gross. Sie ist sehr, sehr klein und war einfach plötzlich da.»
«Ah?» Frau Golowin schaute ihn fragend an.
«Umgangssprachlich weist sie indirekt eine Verwandtschaft mit den Kellerasseln auf.» Als er ihren fassungslosen Gesichtsausdruck wahrnahm, fügte er schnell hinzu: «Solcherart ist sie natürlich nicht. Ich meinte dies wirklich nur in ganz gewöhnlichem Sprachgebrauch, oberflächlich assoziiert und über mehrere Ecken gedacht. Wissenschaftlich, oder genauer histologisch, nennt man es kurz auch PCa. Die ableitende Namensverwandtschaft ist amüsanterweise aber wirklich seit antiker Zeit gegeben, weshalb ich sie auch ab und zu meine kleine Assel nenne. Galenos von Pergamon hatte einen Artverwandten meiner Kleinen zumindest annähernd so beschrieben.»
Ihr Schreck, Kellerasseln im Haus zu haben, war verflogen. «Da machen Sie mich aber neugierig. Darf ich sie mal sehen?»
Cremerius machte den Eindruck, als ob es ihm peinlich wäre. «Das ist schwierig. Eigentlich hält sie sich immer versteckt, man sieht sie nie. Aber man weiss, dass sie da ist. Ich hätte es besser nicht erwähnen sollen, dies war wirklich dumm von mir. Es ist mir einfach so rausgerutscht. Entschuldigen Sie bitte, Frau Golowin.»
«Nein, nein, ich bin froh, dass Sie es erwähnten. Ich finde es nämlich gut, dass Ihnen jemand Gesellschaft leistet. Die Stabschrecken von meinem seligen Johannes sitzen ja auch meist bewegungslos da. Wer es nicht weiss, nimmt sie nicht mal wahr und denkt, welch nettes Pflanzenterrarium ich da pflege.» Ihre Worte beendete sie mit einem Lachen.
«Ja genau das ist es. Sie verhält sich wie Ihre Medauroidea extradentata, nur ist sie sehr, sehr viel kleiner als diese. Aber der Vergleich hat etwas an sich. Lässt man sie in Ruhe, rührt sie sich meist nicht und ist kaum wahrnehmbar. Also lasse ich sie in Frieden und sie mich auch.»
«Sie kennen die lateinische Bezeichnung meiner Stabschrecken.»
«Das verdanke ich Johannes. Er hatte diesen Artbegriff seinen Kommilitonen für immer eingeimpft. Wenn er mal ein Glas zu viel trank, meinte er stets über seine Schrecken dozieren zu müssen. Wir nannten sie deshalb, natürlich nur hinter seinem Rücken, die Vietcongs. Perfekt getarnt fallen sie unerwartet über einen her.»
«Er wusste davon und war überzeugt, dass diese Titulierung nur von Ihnen stammen könne. Er hielt sehr viel von Ihrem besonderen Humor, der vor nichts haltmacht.»
«So schlimm bin ich nun auch nicht, aber wir erlaubten uns natürlich so manchen Jux. Nun wir waren jung und kanalisierten so unseren Übermut. Johannes war da auch nicht ohne. Wegen seines Steckenpferds nannten wir ihn übrigens heimlich, Johannes der Schreckliche.»
«Wissen Sie was Herr Cremerius, kommen Sie doch heute Nachmittag gegen vier Uhr zu Tee und Gebäck vorbei. Dann kann Ihr Kleines auch meine Stabschrecken kennenlernen. Oder meinen Sie sie fürchte sich vor ihnen? Ich werde das Terrarium auch nicht öffnen, es kann also nichts passieren.»
Cremerius wirkte nun gänzlich bedrängt und schien einen Moment zu überlegen. «Ich möchte nicht Ihre Familienfeier stören», meinte er dann ablehnend.
«Die Kinder kommen erst gegen sieben Uhr, und bis vier habe ich ohnehin alles vorbereitet. Also ich rechne fest mit Ihnen. Ein Nein akzeptiere ich nicht, nicht heute am Heiligen Abend.»
Er stellte die Taschen auf ihren Küchentisch, sich für die Büchse mit dem Weihnachtsgebäck bedankend, die sie ihm schnell noch in die Hände drückte.

Eine Schachtel zartbittere Likör-Pralinen in der Hand, die er noch schnell besorgt hatte, drückte er pünktlich am Knopf ihrer Türglocke. Er wusste, diese Sorte war eine Schwäche von Frau Golowin. Sie sah ihn tadelnd an, als er sie ihr überreichte. «Aber Herr Professor, Sie wissen doch, ich sollte dies nicht ...»
«Genuss kann nie Laster sein, denn Laster stellt keinen Genuss dar, sagte Ihr Mann doch bei entsprechenden Anlässen.» Cremerius zeigte ein entwaffnendes Lächeln, das ihm zu eigen war und Widerstände seiner Gegenüber meist schwinden liess.
Sie schmunzelte. «Johannes war ein Genussmensch. Auf seine Zigarren und einen guten Cognac liess er nichts kommen.»

Im Wohnzimmer war der Couchtisch gedeckt. Von einer dicken Kerze, welche in einem Gesteck aus Tannenzweigen und einigen Christrosen platziert war, ging ein mildes Licht aus. In einer Ecke stand ein geschmückter Weihnachtsbaum, unter dem buntfarbige Päckchen ausgebreitet lagen.
«Möchte Ihre Lebensgefährtin vielleicht erst die Schrecken begrüssen? Kommen Sie.»
Sie traten ins Arbeitszimmer. An einer Wand stand das Terrarium, in dem bei flüchtiger Betrachtung nur Hölzer und Laubblätter auszumachen waren. «Hallo ihr Lieben. Herr Cremerius hat euch seine kleine Assel mitgebracht. Sie wohnt bereits seit drei Jahren nebenan und wir wussten gar nichts davon. Es ist doch schön, dass ihr sie nun gerade zum Heiligen Abend kennenlernt. Sie ist wie ihr und lässt sich nicht blicken, aber ihr könnt euch sicher auch so verständigen.»

Aus der Küche holte sie die Teekanne und stellte sie neben das ausgebreitete Gebäck.
«Ich hatte noch ausreichend Zeit, um nachzusehen, was es über die Kellerasseln so Wissenswertes zu lesen gibt. Es war höchst interessant, man kommt darüber von dem einen auf das andere Thema, wenn man es aufmerksam studiert. Vor Galenos von Pergamon beschäftigte sich bereits Hippokrates damit. Wussten Sie das?»
Cremerius biss in eines der Weihnachtsgebäckstücke, um sich vor einer Antwort zu drücken.
«Sie müssen auch von diesen Brunsli probieren», meinte Frau Golowin und zeigte auf blätter- und sternförmiges Gebäck, das mit Zucker bestreut war. «Diese sind mir besonders gut gelungen. Ich habe ein originales Basler Brunsli-Rezept von einer Freundin bekommen.»
«Mmmh, ja, wirklich wunderbar.»
«Nehmen Sie die Kleine morgen auch zu Ihrer Tochter mit?»
«Ja doch, wir sind unzertrennlich. Aber meiner Tochter gegenüber erwähne ich nichts, sie mag absolut keine Tiere in ihrer Wohnung. Die Hygiene geht ihr über alles.»
«Sie weiss von nichts?» Frau Golowin sah ihn mit grossen Augen ernst an.
«Nein, und das ist auch gut so. Sie würde sich nur unnötige Gedanken machen, dabei ist es wirklich nur eine stille, nicht störende Mitbewohnerin. Wir haben uns bestens miteinander arrangiert.»
«Aber denken Sie nicht, wenn sie es später einmal erfährt, enttäuscht sein wird?»
«Ich glaube kaum, dass sie es jemals erfährt. Das Besondere an meiner Mitbewohnerin ist, dass sie absolut treu ist und mit in den Tod geht, wenn der Hausherr als Wirt sie nicht mehr nähren kann.»
«Sie haben wahrscheinlich recht. Mein seliger Johannes hatte mir auch nicht immer alles erzählt. Dabei wusste ich doch, dass er in jungen Jahren so manchmal über die Stränge schlug. Mit der Zeit legte es sich, doch war es gut, nicht immer alles offen zu legen. Dadurch hatten wir viele glückliche Jahrzehnte. Er würde sich bestimmt freuen, wenn er wüsste, dass wir heute hier zusammen Tee trinken, Weihnachtsgebäck naschen und dabei plaudern.»
«Ich erinnere mich, wie ich mit Johannes seinerzeit an einer Studentenfete war. Am Heiligen Abend sowie am Weihnachtstag ging dies nicht, da mussten alle bei ihren Familien antraben. Aber am Abend danach, da hauten wir auf die Pauke. Für Geselligkeit war er immer zu haben. An sich waren die Familienfeiern damals aber auch ganz nett.»
«Möchten Sie vielleicht heute Abend bei uns verbringen, Herr Cremerius?»
«Das war nur so eine Erinnerung, Frau Golowin. Man kann die Vergangenheit nicht zurückholen. Seit vielen Jahren mache ich mir auch gar nichts mehr aus diesen Weihnachtsanlässen. Als die Kinder noch klein waren, war es etwas Besonderes, ihre staunenden Augen zu sehen. Aber es ist lieb, dass Sie nachfragten. Doch für heute habe ich alles für einen angenehm stillen Abend in Zweisamkeit vorbereitet. Wissen Sie, mein kleines Geheimnis ist, seit wenigen Jahren bereite ich mir an diesem Abend exklusiv ein Festmahl zu. Es ist mir ein Genuss, bei Kerzenlicht und Musik von Händel oder Bach dazusitzen und einfach zu träumen, die Kleine im Schoss.»
«Das verstehe ich vollauf, die Zweisamkeit hat schon ihren besonderen Reiz, vor allem auch an den Weihnachtstagen. Na, dann bleibt mir nur Ihnen ein frohes Fest zu wünschen. Auch dir ein frohes Fest, kleine Assel». Bei den letzten Worten streifte ihr Blick diskret seinen Schoss, wo die Kleine, der Gestalt eines Krebses ähnlich, ihren ständigen Sitz hatte.

 

Hallo Anakreon,

sehr verschroben, gut umgesetzt. Schon merkwürdig, zu welchen Subjekten sich Beziehungen aufbauen lassen. Den letzten Satz würde ich wegnehmen; er hat so etwas von Erklärung für die, die Du nicht mitgenommen hast.

Frohes Fest!
Set

 

Hallo Anakreon,

er hielt sehr viel von Ihrem besonderen Humor, der vor nichts Halt macht
trifft auf Dich zu. Set hat hat schon die Geschichte in einem Satz als "verschroben" und "gut umgesetzt" in der bekannten nüchternen Sprache geschildert, dass mich auch die erneute, wenn auch flüchtige Begegnung mit Hipokrates freute und bewundert habe ich die Scharfsichtigkeit der Frau Golowin, Asseln, wenn schon nicht als Höhere, so doch als Krebse zu entdekcem.

Bissken von der Kleinrämerei (ohne Gewähr):

«Nein, Nein, kein Chamäleon. .../ .Nein, Nein, ich bin froh, »
Nein, nein, kein ... oder aber: Nein! Nein, kein ..

«Ich hatte noch ausreichend ZeitKOMMA um nachzusehen, was es über die ...

... hatte sich ja bereits schon Hippokrates damit beschäftigt, wussten Sie das.»
Besser ?

Na, dann bleibt mir nur ..., ein frohes Fest zu wünschen. Auch
allen anderen allhier!

Friedel

 

Hallo Set

Dass du an der Geschichte deinen Spass fandst, freut mich, ebenso wie deine positive Einschätzung. Ich dachte mir, etwas schwarzer Humor unter dem Weihnachtsbaum, sei sicher zu verkraften.

Den letzten Satz habe ich nach Fertigstellung eingefügt, als letzten Hinweis, falls jemand die ‚Zeichen‘ nicht zu deuten vermag. Vorerst lasse ich ihn noch stehen, Reaktionen abwartend, werde ihn dann aber demnächst löschen.


Hallo Friedel

Ja, Ernsthaftigkeit mit besonderem Humor verpackt, ist schon ein Anteil den ich hege und pflege, und zuweilen auch mal meinen Protagonisten unterjuble.

Mit der erneuten, wenn auch flüchtigen Begegnung mit Hippokrates, dir eine Freude gemacht zu haben, ist mir Genugtuung, ihn mit recht ins Spiel gebracht zu haben. (Verdrehter kann ich es momentan nicht mehr ausdrücken.) Frau Golowin hat es natürlich faustdick hinter den Ohren, sie durchschaute das Spiel und führte dann den Reigen an.

Nein, nein, bei aller Konsequenz des Vertippens, wenn du Recht hast, hast du Recht. Danke für deinen Scharfblick.


So bleibt mir nur auch dir Set und dir Friedel,

ein frohes Fest zu wünschen

Anakreon

 
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Lieber Anakreon,

das ist ja wohl der schönste Titel der ganzen site! Wie süß! Kompliment.

«Hallo ihr Lieben. Herr Cremerius hat euch seine kleine Assel mitgebracht. Sie wohnt bereits seit drei Jahren nebenan und wir wussten gar nichts davon. Es ist doch schön, dass ihr sie nun gerade zum Heiligen Abend kennenlernt.
Nochmal süß! :) Eine wirklich schöne Geschichte, skurril und trotzdem leichtfüßig. Hab ich sehr gern gelesen, und wünsche mir mehr von sowas in dieser Rubrik (die ja größtenteils vorhersehbar ist). Oder auch in anderen.

«Das verstehe ich vollauf, die Zweisamkeit hat schon ihren besonderen Reiz, vor allem auch an den Weihnachtstagen. Na, dann bleibt mir nur Ihnen ein frohes Fest zu wünschen. Auch dir ein frohes Fest, kleine Assel». Bei den letzten Worten streifte ihr Blick diskret seinen Schoss, wo die Kleine, der Gestalt eines Krebses ähnlich, ihren ständigen Sitz hatte, wie sie inzwischen wusste.
Falls das das Ende war, finde ich es nicht zuviel, sondern ein hübsches Bild, das die Geschichte abrundet, und nochmal neugierig macht. Lediglich das Markierte kann raus, das ist redundant. Habe den Rest des Satzes nicht so verstanden, daß es dem Leser einen Zaunpfahl über den Kopf brettert, und plädiere leidenschaftlich für Stehenlassen. Außerdem - Du hast da einen wunderbaren Bogen zum Anfang geschlagen - das muß so drinbleiben, schau:
Es ist schön, diesen Abend im Schoss der Familie zu verbringen. Da baust Du am Ende eine tolle Ironie zu dem Schoss-Sprichwort.

Ein paar Vorschläge hätte ich noch:
Man macht bei Sprecherwechsel einen Zeilenumbruch, aber keinen Absatz. Das liest sich sonst, als ob jedem Satz mehr Bedeutung zugemessen werden sollte, als er trägt, und macht das Lesen nicht einfacher. Außerdem übersieht man dadurch den Zeitensprung im ersten Moment. Schau doch nochmal, wo Absätze sinnvoll sind, und wo sie eher den Fluß behindern. (Für mein Gefühl braucht der ganze Text nicht mehr als 5 -6 echte davon).

Quinn hatte mir das mal bei meinen Texten angemarkert - und das war so ein "Schuppen von den Augen"-Effekt, jedenfalls fällt mir sowas bei allen Fremdtexten nun auch negativ auf: Zu viele Adjektive, Einschränkungen und Partizipien.
Zu den ersten beiden: Man braucht tatsächlich viel weniger davon, als man denkt (und Dein Text ist fein genug, daß Du da rausholen kannst - der Eindruck wird damit nicht schwächer und unsere Phantasie hat auch was zu tun). Sori für diese 2nd-hand-Kritik, aber da kann ich jetzt nicht aus meiner Haut.
Nur ein Stück als Bsp., steht für den ganzen Text:

«Herr Professor Cremerius.» Der laute Ruf stoppte seinen Schritt auf der Schwelle abrupt, eben wollte er den Hauseingang betreten. Sich umdrehend, sah er Frau Golowin keuchend herannahen, mit schweren Einkaufstaschen bepackt.
«Frau Golowin», bemerkte er, drei Schritte auf sie zutretend. «Sie tragen zu schwer, ich helfe Ihnen», und griff nach zwei der überladenen Taschen. «Kommen ihre Kinder zum Heiligen Abend?»
«So war es nicht gemeint», doch sie liess ihn ihr die gewichtigsten Stücke abnehmen. «Ja heute Abend sind wir alle mal wieder vereint, mitsamt den Enkelkindern. Es ist schön, diesen Abend im Schoss der Familie zu verbringen.»
Am Treppenabsatz stellte er die Taschen kurz ab, um die Griffe dann fester zu packen.
Ein Ruf ist eh laut.
Stoppen hat es an sich, abrupt zu sein.
Bepackt impliziert schwer.
Keuchen und herannahen ist für mich ein ungünstiger Mix, übrigens. Keuchen ist eher geckig, herannahen Pathos, wie wäre es mit näherkommen
sie liess ihn ihr Uff. Dafür fällt mir grad keine Lösung ein, aber das holpert. Vllt sie liess sich die Taschen abnehmen. Daß es ihre sind, ist ja logisch, und daß er sie niemand anders abnimmt, auch. *zwinker*
Das überladen denken wir uns durch das vorher Gesagte.
Gewichtig sind Worte, Taschen sind schlichtweg z.B. schwer; falscher Begriff in dieser Kombi.
Abstellen impliziert kurz bereits (ja, man könnte auch was länger abstellen - aber nicht in dieser Situation).
Dann ist völlig überflüssig.
Siehst Du, was ich meine? All dieses 'was soll das jetzt noch?' denke ich beim lesen mit, und das ist schade für den Text.

oder hier:

Cremerius lachte, mit leicht sarkastischem Unterton
Einen Unterton denkt man sich bereits leicht, was ist denn noch ein leichter Unterton? Im Gegensatz zu einem sehr deutlichen, lauten Unterton? Nee.

Partizipien: Stören mich nicht grundsätzlich, es kommt aber auf die Positionierung im Satz an. Meine Variante ist, sie an den Anfang zu stellen, ähnlich wie im Englischen. Ansonsten klingen die schrecklich umständlich, ohne angenehm altmodisch zu wirken. Am Anfang hat es (meistens) den Effekt, den Satz zu verkürzen, und Tempo reinzubringen, das liest sich für mich ganz anders.

Sich umdrehend, sah er Frau Golowin keuchend herannahen
Puha, hier rettet es allerdings nichtmal der Anfang - Als er sich umdrehte, wäre besser.
Hier geht es nicht, daher würde ich es anders auflösen:
bemerkte er, drei Schritte auf sie zutretend
Er trat auf sie zu und ... ist zwar extrem simpel, aber liest sich weicher.

Die Variante ist dagegen gut, auch die Umgehung der SPO-Ordnung, eleganter Satzbau, bringt Abwechslung. Wobei das kurz nicht sein müßte, denn das stellt man sich aus der Situation heraus vor (hier hast Du das Partizip selbst vermieden, sonst wäre es: Ihre Worte mit einem kurzen Lachen beendend ...):

Ihre Worte beendete sie mit einem kurzen Lachen.
Von einer grossen Kerze, welche in
grossen Kerze, die - 'welche' klingt immer überdramatisch, jedenfalls ist das für eine einfache Tischdekoration zu überhöht. Bei der gefallene Held, welcher aufgebahrt im Saale lag wäre das eher möglich. ;)
ein entwaffnendes Lächeln, das ihm eigen war
ihm zu eigen heißt es.
Der Schreck von Frau Golowin, Kellerasseln im Haus zu haben, war verflogen.
Das klingt fies umständlich - könntest Du entquasen, ohne es uncharmant zu machen: Ihr Schreck, Kellerasseln im Haus zu haben, war verflogen. Es gibt ja nur eine Frau im Text, da käme niemand durcheinander.
seiner Gegenüber fast immer schwinden liess.
fast immer wäre meist - ein Füllwort/Einschränkung weniger. :D
Dies wäre mir schon zu aufwendig und auch zu gross.
Wenn Du neue RS nimmst, muß es aufwändig heißen, so dusselig das aussieht.
_Nein, nein, ich bin froh, dass Sie es erwähnten. Ich finde es nämlich gut, dass Ihnen jemand Gesellschaft leistet. Die Stabschrecken von meinem seligen Johannes sitzen
Anführungsstriche fehlen zu Beginn.

Klingt nach viel Nöl, aber das soll nicht heißen, daß der Text nicht schön wäre, nur, daß er noch besser werden kann - geh doch nach diesem Prinzip nochmal durch, wenn Du es nachvollziehen kannst.

Aber nu, das fand ich klasse, zart und ein bißchen fies:

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. «Für mich kam auch nur etwas Pflegeleichtes und Stilles in Frage. Bei meiner Arbeit wäre mir beständige Unruhe lästig und störend.»

Cremerius biss in eines der Weihnachtsgebäckstücke, um sich vor einer Antwort zu drücken.

«Sie müssen auch von diesen Brunsli probieren», meinte Frau Golowin und zeigte auf blätter- und sternförmiges dunkelbraunes Gebäck, das mit Zucker bestreut war. «Diese sind mir besonders gut gelungen. Ich habe ein originales Basler Brunsli-Rezept von einer Freundin bekommen.»
«Mmmh, ja, wirklich wunderbar.»
«Nehmen sie die Kleine morgen auch zu Ihrer Tochter mit?»

*kicher* Und sehr schöner Wechsel mit Umweg über das Essen, das hier kurz Ruhe einbringt, toller Rhythmus. (Nur dunkelbraun kann raus, das sind zu viele Einzelheiten, als daß es Spaß macht.)
Es ist mir ein Genuss, bei Kerzenlicht und Musik von Händel oder Bach dazusitzen und einfach zu träumen, die Kleine im Schoss.»
:schiel: Ach ja, *seufz*.

Dir auch ein Frohes Fest (und allem, was da so kreuchen und fleuchen könnte?), liebe Grüße aus dem weißen Märchenland,
Katla

 

Liebe Katla

Damit rechnete ich nicht, ein Kompliment aus Deiner sehr geschätzten, meisterlichen Feder. Meine Eitelkeit machte einen Freudensprung.

Dein Plädoyer für den Schlusssatz nahm ich mit einem Schmunzeln auf, ist dir der Bogen zum Anfang natürlich nicht entgangen, die Ironie die sich darin entfaltet. Da du fürs Stehenlassen leidenschaftlich und brillant untermauert eine Empfehlung einbringst, kann es nur auf fruchtbaren Boden fallen. Set wird es aus dieser Perspektive auch neu wahrnehmen und verstehen, abgesehen davon, finden holde (= emanzipative) Meinungen bei ihm doch immer Gehör.

Deine Vorschläge verblüffen mich, hatte ich doch am Text gefeilt und mich bemüht es zeitgemäss zu formulieren. Zwischen abwägen, verwerfen, kürzen und neu formulieren hin und her geworfen, bis ich meinte annähernd dran zu sein. Natürlich kamen mir immer wieder Zweifel, die ich mit Änderungen beruhigte. Nach der Veröffentlichung traten sie aber ahnungsschwanger wieder auf. Und du, du setzt dich hin, liest und analysierst dabei, voll ins Schwarze treffend. So direkt aufs Auge gedrückt, sehe ich sie plötzlich auch klar, die Fussangeln über die ich stolperte. Mit dem geschärften Blick dieser Lupe, werde ich es nochmals überarbeiten, versuchen deine präzisen und treffenden Rückschlüsse bestmöglich zu erkennen und umzusetzen.

Die Absätze beim Sprecherwechsel sind wirklich schwach ausgefallen, störten sie mich doch selbst, aber es war mir keine Regel bewusst. Oder war es Bequemlichkeit, die Lösung zu suchen? Vor Augen hatte ich ein Büchlein zum Bühnenstück von ‚Mutter Courage‘, was nun absolut ein falscher Vergleich von mir war.

Dass du Quinn erwähnst fand ich lustig, er hatte seinerzeit am Titel des ‚blinden Spiegels‘ seine helle Freude.

Für die Mühe, die du dir machtest, mir blindem Narziss den Spiegel zu reinigen, danke ich dir ganz, ganz herzlich. Ich werde mich bemühen, es in einer besseren Fassung vorzulegen, und natürlich die Erkenntnis aus deiner Kritik nachhaltig im Hinterkopf zu verwahren, um sie künftig jederzeit griffbereit zu haben.

Es ist Zufall, dass es jetzt sechzehn Uhr ist, Zeit für Tee und Gebäck. :lol: Ich schaffte es einfach nicht eher.

Auch dir ein frohes Fest mit vielen Lichtern von kleinen Kerzen, der Effekt ist da noch stärker als bei einer grossen, in der vorherrschenden Winterlandschaft.

Anakreon

 

Hallo Anakreon, hallo Katla,
da habe ich den Schoß doch glatt übersehen, obwohl alles davon handelt. Klar muß der drin bleiben, aber der Krebs? Okay, nicht wichtig.
Am Anfang ist "Schoß der Familie" die Metapher für den weiblichen, behaglichen Schoß der Mutter, am Ende steht der kranke männliche Schoß, der etwas ausbrütet, was gar nicht gut ist - auch ein Spannungsbogen. Obwohl die Literatur ja auch den negativen weiblichen Schoß kennt: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch" (Brecht über den deutschen Faschismus).
Aber in dieser Geschichte werden trotzdem beide Schöße positiv besetzt; dort wird etwas mit Liebe bedacht und gepflegt.

Schön.

Set

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo ihr beiden,

öhem, also ich finde, auch der Krebs muß bleiben. Stimmt, ob es als Krebs, Spinnentier, Reptil etc. beschrieben wird, ist tatsächlich irrelevant. Aber genau wie das Thema und das Gespräch einen runden Abschluß brauchen, benötigt es dieses Wesen auch.

Das hier ist eine Form, die es in der phantastischen Literatur oft gibt: In einem Text wird etwas Irreales angedeutet beschrieben - wir bekommen immer wieder kleine Hinweise, so daß wir uns aus den Facetten ein vages Bild machen können. Das muß so sein, denn damit wird die Spannung gehalten, um was es sich handeln könnte und wie wir es einschätzen sollen (es könnte sich hier ja auch als schädlich, als Parasit herausstellen, der seinen Wirt kontrolliert oder sonstein wilder Dreh).

Der Rhythmus eines solchen Textes verlangt, daß die Einzelbilder stets ähnlich vage sind (während die Handlung drumrum ganz 'normal' alltäglich voranschreitet) - und ganz am Ende wird dann, als ob der Erzähler nochmals zur Seite tritt und das aus einer ganz neuen Perspektive betrachtet, das Ding mit einem konkreten Bild belegt. Das aber nicht alles offenbaren darf, sondern nur eine Art teaser darstellt, eine Scheinkonkretisierung. Denn was können wir jetzt wirklich daraus machen - das Ding wird ja nur dadurch scheinbar greifbarer, eigentlich bleibt es aber so geheimnisvoll und irreal wie zuvor.

Das ist der Kunstgriff bei diesem Genre, und daher muß am Ende ein Bild wie hier vorkommen, sonst ist der Abschluß unvollständig.

Herzlichst, Kardamomkekse zu Glühwein mampfend,
Katla

 

Hallo Anakreon,

eine sehr schöne Geschichte und eine gelungene Idee, solch ungewöhnliche "Haustiere" zu verwenden. Auf feine, leichte Weise wird über die Tiere auch einges zu den handelnden und nicht handelnden Personen gesagt. Eine Frau, die nach dem Tod des Mannes seine Stabschrecken weiter pflegt und ein Mann, der eine Assel heimlich bei seiner Tochter einschleust.

man sieht sie nie. Aber man weiss, dass sie da ist.

sehr schön geschrieben

Die Geschichte paßt gut zu Weihnachten und ich habe sie gern gelesen
Gruß, eisbaer

 

Lieber Setnemides

Schön, dass dich der symbolbesetzte Schlusssatz im Stück nun doch überzeugt, auch wenn dir das dahingestellt sein einer malignen Form befremdend bleibt. Letztlich ist es immer eine Frage der Perspektive, welche Werte man mit etwas verknüpft. Das Schöne an der Literatur ist aber doch, dass sie nicht gebunden ist, ja den Autor direkt fordert, sich nicht durch solche Grenzen einzuschränken.


Liebe Katla

In mehreren Durchgängen habe ich den Text gekämmt, mich bemüht, deine wertvollen Ratschläge und Hinweise zu nutzen um den Lesefluss und die Klangfarbe in Einklang zu bringen. Ich denke und hoffe, nun eine akzeptable Form erreicht zu haben, zum Gewinn für die Leser.

Deine nachträglichen Ausführungen zur phantastischen Literatur fand ich recht interessant und aufschlussreich. Eine solche Technik hatte ich selbst, zumindest bewusst, nicht vor Augen. Und doch erkenne ich da Parallelen zu dem Spiel, das ich in der Geschichte trieb. Darüber werde ich mir noch vertiefter Gedanken machen.


Hallo Eisbär

Es freut mich, dass die Geschichte dir Vergnügen bereitete und dir Interpretationsspielraum gab. Unter dem Thema ‚Weihnachten‘ lässt sich wahrscheinlich vieles verpacken, sofern der Kontext angemessen ist und den Leser zu eigener Fantasie anzuregen vermag.

Danke für deinen netten Kommentar.

Aus bitterkalten Winternacht, die besten Grüsse

Anakreon

 

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