Geister in Ostberlin
Ich durfte nicht mit dem Mädchen sprechen.
Es war mir verboten.
Ich wollte zu ihr gehen. Ich sah, dass sie genauso alleine war wie ich. Ich wollte mit ihr sprechen, damit ich nicht zusehen musste, was ihr passierte. Ich wollte, dass sie einen Freund hatte und selber auch nicht alleine sein.
Sie kauerte auf dem Boden. Ihr Körper war verklebt mit der Ruine und mit ihrem eigenen Schicksal.
Sie war verloren, zurückgeblieben, so wie ich.
Ich wusste, dass sie mich nicht sehen konnte, trotzdem setzte ich mich stumm neben sie. Sie hörte auf zu zittern.
„Hallo“ sagte ich
Sie schaute auf. Sie schaute tatsächlich auf!
„Wer bist du?“ fragte sie
Wenn ich das nur wüsste.
Für das Mädchen blieb ich immer der Junge. Ich hatte keinen Namen weil ich ihn vergessen habe und wenn man seinen Namen vergisst, kann man sich nicht einfach einen neuen geben.
Mein Name war verloren, aber vielleicht war das auch nicht schlimm, denn ich war es ja auch. Und meine Freundin, das Mädchen, ebenfalls. Man ist doch immer etwas weniger verloren, wenn man es nicht alleine ist.
Das Mädchen aber hatte einen Namen. Sie verwendet ihn nur nicht gern. Sie fand ihn nicht zutreffend. Sie war nicht ihr Name und es war nicht ihr Name, nicht wirklich zumindest. Also nannte sie sich einfach anders, Ich nannte das Mädchen „Mädchen“, weil sie das einzige Mädchen war, was ich kannte. Aber sie nannte sich Lili.
Ein ungewöhnlicher Name aber ich mochte ihn. Das Mädchen war auch ungewöhnlich.
Andere nannten sie nicht so, aber Andere hatten auch keine Ahnung.
Lili wurde in einer Welt ohne Kinder geboren. Alle Kinder waren erwachsen und alle Erwachsenen langweilig. Außerdem waren sie hektisch und stumm. Sie konnten nicht hören oder sprechen, sie konnten auch nicht sehen so wie ich und das Mädchen sahen. Sie konnten nicht denken wie wir. Alles was sie konnten war murmeln und zählen und bauen und zählen, Listen machen und zählen, immer wieder zählen, jede Sekunde, Minute, Stunde.
Sie konnten das Mädchen manchmal hören, sie wirklich verstehen konnten sie aber nicht. Mich hörten sie erst gar nicht.
Ich war unsichtbar.
Ein Geist.
Die Wahrheit ist, das diese ganzen Erwachsenen selbst, vor vielen Jahren keine Kinder sein konnten. Die Bomben und die Masken und die Sirenen und die Disziplin raubte es ihnen.
Sie lebten verfrüht und starben schnell.
Doch weil sie so eine Disziplin hatten, konnten sie nicht einfach sterben so wie ich. Sie blieben auf der Erde, weil sie sich nie etwas anderes vorstellen konnten. Und sie arbeiteten und tranken und rannten und vergaßen. Manche tranken zumindest, die Meisten arbeiteten und alle verdrängten und vergaßen.
Vielleicht bin ich ja auch nur hier, weil ich mir nie etwas anderes vorstellen konnte. Immerhin hatte auch ich vergessen.
Ich weiß nicht, wieso das Mädchen anders war, Sie war das einzige Kind wie ich und die Einzige, die mich sehen konnte.
Ich weiß nicht, wieso sie das konnte oder wieso sie noch nicht erwachsen wurde. Vielleicht hatte sie nicht genug Erwachsene um sich herum.
Sie war zu einsam, um erwachsen zu werden. Sie hatte nur mich und ich war sicherlich kein Erwachsener.
Aber wenn ihre ewige Kindheit bedeutete, dass ich sie für immer als Freundin haben konnte, dann war ich froh darüber.
Ich weiß nicht, wie sie mich sah, das Mädchen. Ob ich tot aussah oder lebendig, ob ich Farbe hatte oder ob ich durchsichtig war.
Ich weiß nur, dass ich nicht gruselig aussah, denn sie hatte keine Angst vor mir. Ich stellte mir sogar vor, dass sie in mir so viel Geborgenheit fand wie ich in ihr. Immerhin hatte ich niemanden anderen und ich glaube, sie auch nicht.
Wir wurden Freunde, als ich sie in den Trümmern ihres verbrannten Zuhauses fand.
Berlin war gerade in Aufruhr. Atomwaffen zeigten auf uns und Stein und Stahlkugeln in Stahlgewehren, zerhackten uns.
Die Luft hatte Augen und beobachtete uns. Schweigend urteilend.
So kannte ich Berlin am Besten. So war ich es gewohnt.
Erwachsen, gekritzelt und paranoid, so war Berlin.
Gekritzel, so viel Gekritzel. Auf den Straßen, im Himmel, in den Menschen.
Es war überall.
Ich glaube, alle waren ein bisschen verloren. Die Kinder und die Erwachsenen, die Geister und die Lebendigen, die Zombies und die Anderen
Ich habe schon einmal mit der Idee gespielt, dass alle Geister auf der Erde bleiben und dass sie sich gegenseitig nicht sehen. Genauso wenig wie sie von Anderen gesehen wurden, lebend oder tot.
Vielleicht war das ja die Hölle.
Letztlich bin ich ja auch in Deutschland gestorben.
Ich erzählte es dem Mädchen und ich sagte ihr, das es deshalb so besonders war, dass ich sie gefunden hatte.
Das Mädchen stimmte auch zu in dem, dass auch sie dachte Ostberlin sei die Hölle.
Vielleicht, sagte sie dann, war die andere Seite der Stadt, jenseits der Mauer, wo die Menschen frei waren, der Himmel und es war ein Teil der Hölle, dass der Himmel zwar so nah aber doch so unerreichbar bleibt.
„Vielleicht“ sagte ich.
Dem Mädchen ging es wie fast allen anderen im Osten. Sie hatte das Gefühl von einer Krise in die nächste gestürzt zu sein. Oder zumindest glaubte sie es, wenn die erwachsenen das sagten.
Lilis Mama ging es sehr schlecht deshalb. Ihre Familie war im Himmel gelandet und sie in der Hölle.
Aber die Leute sprachen nicht viel davon. Von ihren verwandten im Westen oder ihrem eigenen Land. Es waren paranoide Zeiten immerhin.
Manchmal glaubte ich, dass es so schlimm war weil sie nichts sagten.
Je tiefer das Schweigen desto mächtiger das Geheimnis. Vielleicht war es ja nur die Hölle, weil sich alle darauf einigten.
Aber was wusste ich schon vom Leben?
Unsere Freundschaft war auch wie fast alle Anderen in Deutschland. Sie bestand auf Himmel und Hölle auf der Straße, Gesprächen bis tief in die Nacht, baden im See und vielen Stunden alleine zuhause weil der Vater tot war und die Mutter arbeiten musste.
Gelegentlich spielten wir Flugzeug mit einer Kiste aus Pappe aber die Erwachsenen mochten dieses Spiel nicht. Sie hatten schlimme Erinnerungen an Flugzeugen.
„Wäre es nicht toll, wenn dein Vater hier irgendwo wäre“ sagte ich zum Mädchen „wenn er hier in Berlin herumschleicht und dich sucht.“
Das Mädchen machte keinen beeindruckten Ausdruck.
„Vielleicht hat er dich ja auch schon gefunden und beobachtet dich jetzt, weil er sich nicht traut hallo zu sagen“ sagte ich
„Wieso sollte er mir das antun?“ fragte das Mädchen.
Der Junge war überrascht. Er hatte nicht vollkommen verstanden was sie gesagt hat. Aber wie sollte er auch, er erinnerte sich nicht daran jemals Eltern gehabt zu haben.
„Außerdem“ sagte das Mädchen „er ist nicht in Berlin gestorben“ Sie zögerte kurz dann: „Glaubst du, Geister können auch woanders sein, als wo sie sterben?“ fragte sie mich und ich wusste die Antwort nicht.
Ich war noch nie außerhalb von Berlin gewesen, noch nicht einmal jenseits der Bahnhofstraße. Also musste ich hier gestorben sein...?
„Vielleicht musst du darin zurück wo du gelebt hast“ sagte ich. Ich konnte mir vorstellen in Berlin gelebt zu haben.
„Vielleicht ist es wichtiger als wo du gestorben bist“ sagte ich und wurde unglaublich traurig, denn ich merkte, dass ich nur in Vielleichts redete.
Was tat ich meiner Freundin Gutes, wenn ich nur spekulieren konnte, raten. Aber ich wusste nichts. Sie war sicherlich enttäuscht. Ein Geister- Freund zu haben würde sicherlich so viele neue Erkenntnisse bringen, vor allem in einer Zeit wie dieser in der es von geistern wimmeln sollte. Doch ich konnte Lili nichts erzählen. Ich wusste nichts.
Das Gute daran, nichts zu wissen ist, dass die Welt von Vielleicht dir gehört. Doch wenn du in der Welt der Realität stehst und mit einem Menschen redest, dann merkst schnell, was dir fehlt.
Als ich Lili fragte, wie sie auf ihren Namen kam zuckte sie mit der Schulter „ich weiß es nicht“ sagte sie „ist nur eine Idee.“
Und das tröstete mich ein bisschen.
Am Verlorensten war ich nachts. Wenn das Mädchen schlief.
Tagsüber redeten wir nicht immer miteinander, aber ich war immer bei ihr.
Ich folgte ihr zur Schule und hörte der Lehrerin zu. Ich ging mit ihr nach Hause und sah traurig zu, wie gemeine Jungs sie fertig machten, ihre Sachen stahlen, sie in den Schnee warfen oder zerrissen, sie manchmal schubsten.
Ich war traurig, weil ich tatenlos zusehen musste und sie schutzlos war. Ich konnte die Jungen aber weder berühren noch hörten oder sahen sie mich.
Alles was ich immer tat war das Mädchen wieder aufmuntern, ihr dabei helfen ihre Sachen zu trocknen oder gelegentliche Kratzer zu säubern. Dann half ich ihr bei den Hausaufgaben.
Sie schwor dann immer, dass wenn sie erwachsen war, sie es allen heimzahlen würde. Dann müsste sie auch keine Hausaufgaben mehr machen. Und ich betete still, dass dieser Tag nie kommen würde.
Vielleicht war dies eine weitere Fassade der Hölle, dass ich warten und zusehen musste, wie sie mich langsam vergessen würde.
Denn keiner ist für immer ein Kind.
Keiner außer mir.
Die Nächte waren die schlimmsten, weil ich dann vollkommen alleine war. Weil ich dann Zeit hatte über so etwas nachzudenken und die Leere des Vergessens zu spüren.
Das Mädchen schlief dann und ich wanderte durch die Bahnhofstraße. Ich konnte zum Bahnhof gehen aber ich traute mich nicht, die vertraute Gegend zu verlassen. Außerdem dämmerte es schon bevor ich die ewige Straße verlassen hatte.
Eines Nachts war ich besonders einsam. Ich wollte nicht zurück in die kalte Zeit bevor ich das Mädchen kannte, und wenn es nur für ein paar Stunden war. Ich wollte nicht, dass sie in die Traumwelt reiste und mich zurück ließ. Also legte ich mich neben sie und schloss die Augen.
Ich tat was sie tat, jedoch ohne zu schlafen.
Ich lehnte mich an ihren Körper, der immer warm war.
Nur noch 8 Stunden.
Als ich meine Augen eine Weile geschlossen hatte geschah plötzlich etwas seltsames.
Ich wurde in der Zeit zurückgeschleudert.
Ich war wieder fest und ich war wieder wach.
Um mich herum stand Berlin in Flammen. Es lag in Trümmern.
Bomben zurrten, Menschen rannten, Gewehre luden und entluden sich. In den Straßen hingen Menschen und Menschen lagen auf dem Boden. Sie schwammen in ihrem Blut wie Wasserleichen.
Sie klebten am Boden und taumelten an Schnüren.
Die an den Schnüren waren Deserteure, die auf dem Boden Zivilisten.
Ich hielt auch ein Gewehr in der Hand.
Ich lag mit meinen Freunden im Graben.
War das alles ein Traum gewesen? Hatte ich meine Zukunft gesehen? Oder passierte beides gleichzeitig an verschiedenen Stellen der Zeit?
Aber ich hatte keine Zeit lange darüber nachzudenken.
Ich dachte gar nicht. Ich schoss einfach. Schoss meine Erinnerung an ein Geisterleben davon. Ich schoss auf alles, was nicht deutsch war.
Ich wusste nicht, aus welchem Land sie waren. Es schien als wäre es die ganze Welt.
Es war wir gegen die Welt.
So musste es immer kommen.
Und wir verloren kläglich.
Wir hatten keinen Hauptmann mehr, keinen Erwachsenen. Es war nur eine Bande von Kindern, die mit Stahlkugeln und Gewehren versuchten, dass zu tun, was man ihnen gesagt hatte. Was man uns gesagt hatte.
Wir waren die Zukunft Deutschlands deshalb konnten wir es nicht aufgeben. Wir wussten, wenn Deutschland verliert, würde es untergehen. Das wäre das Ende.
Das Ende der Welt für uns.
Kurz darauf starb ich in einem Graben.
Einem dreckigen Graben mitten auf der Straße.
Ich wurde eins mit dem See aus Leichen und Eins mit dem Fluss aus Blut.
Es war eine Kugel in den Kopf. In die Stirn, zwischen die Augen.
Ich war sofort weg.
Ich litt nicht.
Wenige Stunden später würde unsere Anführer, der für den wir das alles taten, der Mann der es uns sagt, der Mann für den ich starb – kurz darauf würde er mir das Eisenkreuz überreichen. Für meinen Mut und meine Loyalität.
Wenig später würde mein Tod als Barberei beschrieben.
Ich war plötzlich der Böse.
Und mein Anführer war es auch.
Der Heldentum war mit genommen und die Scham verdeckte ihn.
Vielleicht war Deutschland ja gestorben.
Vielleicht wurde es dann zu Himmel und Hölle, ein Heim für die Toten und die Fast.
Vielleicht war es aber auch wie ein Phönix und wurde wieder geboren. Als ich starb wusste ich nichts davon.
Und als ich wieder tot war, neben meiner Freundin, dem Mädchen, lag, in der Bahnhofstraße, wusste ich nichts davon. Wie ein Traum vergaß ich was geschehen war und kehrte zurück in die Welt von Vielleicht.
Die Leere machte sich wieder breit.
Ein Tropfen Blut rannte von meiner Stirn auf das weiße Betttuch des Mädchens, ohne einen Fleck zu hinterlassen.
Bald bekam ich den Eindruck, ich war nicht der einzige Geist in Berlin.
Berlin war voller Geister.
Dinge, die noch lungerten.
Ich konnte keinen der Geister sehen. Ich wusste nicht, wie viele davon mal menschlich waren. Aber sie waren da. Ich konnte sie spüren.
Das Mädchen auch.
Manchmal redete sie davon.
„Manchmal glaube ich, alles auf der Welt was passieren kann, ist schon mal in Berlin passiert“ sagte sie. Dann wünschte sie sich, Berlin könnte reden.
Die Stadt war voller Rauch sozusagen. Nicht die Art von Rauch die Feuer erzeugte, aber die Art von Rauch die Ereignisse hinterließen.
Berlin war voller Narben, Nebelfetzen und Rauchwolken der Vergangenheit. Mancher Rauch erzählte von Nachtleben, Zigaretten und Alkohol, mancher von Flyern, roten Mützen und ausgestreckten Fäusten. Mancher Rauch erzählte von Uniformen, Gewehren und Totenköpfe. Zerstörung und Sex, genauso wie Hunger und Exzess lagen in der Luft.
Berlin war so eigen, dass niemand es ausreichend erzählen könnte.
Doch ein Geist war besonders stark.
Er war im Gesicht von Lilis Mutter und ihrer Lehrerin. Er war in den Köpfen der meisten Erwachsenen. Er lungerte, bis weit über Mitternacht.
Er wohnte bei den Entflohenen aus Polen und der Tschechoslowakei.
Er wohnte bei den inhaftierten Generälen.
Er wohnte bei allen, die durch den Krieg verloren hatten.
In den Kneipen, in den Kleiderschränken, in dem Schweigen.
Er wohnte, hockte, lebte und atmete. Schwerer, tiefer Atem.
Er war in ganz Ostdeutschland, in ganz Deutschland.
Und er klebte sich fest.
Mit jedem Tag etwas mehr.
Er war stur und dunkel und präsent.
Er war schweigend und riesig.
Vielleicht war er der Grund, dass es keine Kinder gab.
Vielleicht hat er sie gefressen.
In Deutschland fressen fast alle Monster Kinder.