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Gier!
Ruth Baybrance war gerade mit einem langen Brief fertig geworden. Sie lehnte sich zurück und ließ ihre Fingerknöchel knacken. Obwohl ihre beste Freundin und Arbeitskollegin Barbara, die unten im ersten Stock arbeitete, immer wieder sagte, es wäre schädlich für die Finger, konnte Ruth es einfach nicht lassen. Es war zu einer Art Sucht geworden. Barbara hatte keinen Grund sich zu beschweren, dachte Ruth oft. Sie rauchte nicht (ganz im Gegensatz zu Barbara) und trank nur am jeweils ersten Freitag des Monats. Dieser Tag war obligatorisch. Alle Sekräterinnen aus der Firma trafen sich dann in der Bar an der dritten Straße, tranken ein paar Martinis und redeten über die Arbeit. Mit Vorliebe zogen die Frauen allerdings über ihre Chefs her.
Ruth blickte auf die kleine Mickeymaus Uhr an ihrem Handgelenk. Der Zeigefinger von Mickey zeigte genau auf die Drei. Ruth lächelte. Immer wenn sie auf die Uhr sah, musste sie an Tommy denken, der ihr die Uhr vor zwei Jahren geschenkt hatte. Sie waren damals auf einem Jahrmarkt gewesen und Tommy hatte sie beim Dosenwerfen für Ruth gewonnen. Es war ein schöner Abend gewesen. Damals hatte Tommy Ruth seine Liebe gestanden. Kaum zu glauben dass die Uhr immernoch funktioniert, dachte Ruth und tippte mit dem Zeigefinger auf das Glas. Mickey grinste sie immernoch von der Drei Uhr Position aus an. Es war Zeit für den Kaffee.
Mühsam stand Ruth auf und machte sich auf den Weg in die kleine Angestelltenküche am Ende des Flures. Heute war wenig los im dritten Stock von Newscorp Enterprises. Am Wochenende würde die alljährliche Entwicklerversammlung in New York stattfinden. Es war zwar erst Freitag Nachmittag, aber die meisten waren wohl schon unterwegs. Nur ein paar gestresste Männer in weißen Hemden saßen noch in ihren Boxen und stierten auf die flackernden Bildschirme vor ihnen. Hochkonzentriert sahen sie aus, mit kleinen Schweißperlen auf den gerunzelten Stirnen. Weibliche Entwickler gab es in Newscorp Enterprises nicht. Frauen arbeiteten hier nur als Putzfrauen oder Sekräterinnen. Diese Tatsache störte Ruth jedoch wenig, sie verdiente nicht schlecht. Sie war die Sekretärin des Präsidenten der Firma und machte ihre Arbeit sehr gut.
Ruth erreichte die Küche. Die Kaffeekanne war leer. Seufzend setzte Ruth Neuen auf, nicht ohne an dem frischen Kaffeepulver ein wenig zu schnuppern. Sie liebte den Geruch von gemahlenem Kaffee. Als die Maschine ihre Arbeit mit Glucken und Brodeln aufnahm, setzte Ruth sich an den Tisch in der Mitte des Raumes, zog die Zeitung zu sich heran und begann zu lesen.
Ruth atmete nochmal tief ein. Dann stieß sie die eicherne Tür auf und ging auf den Schreibtisch zu. Mr. Connors saß mit gesenktem Kopf über einem Stapel Papiere und kratzte sich am Kopf. Sein Büro war gigantisch. Die gegenüberliegende Wand war komplett aus Glas, so dass man über die gesamte Skyline der Stadt blicken konnte.
"Guten Morgen, Mr.Connors", sagte Ruth, doch er reagierte nicht. Er reagierte nicht einmal, als sie ihm den Kaffee eingoß.
Ruth war etwas betrübt, doch auch erleichtert. Als sie ihm seinen Kaffee eingegossen hatte (mit zwei Milch und einem Päckchen Süßstoff) wandte sie sich ab.
"Ruth...", Ein kalter Schauer durchfuhr sie. Es war wie ein Stich in den Rücken."Bleiben Sie doch bitte noch kurz."
"Ja, Sir.", sagte Ruth. Ihre Hand zitterte.
"Kommen sie näher."
Beim herangehen viel Ruth ein Fleck im Gesicht ihres Chefs auf. Er befand sich genau unter dem linken Auge und war eigentlich nicht sonderlich groß. Als sie näher kam, konnte sie erkennen, was es war. Eine Schramme. Da hing einfach ein Stück Haut in Mr.Connors Gesicht. Man konnte das Fleisch darunter sehen. Es blutete jedoch nicht.
"Könnten sie eventuell diese Briefe noch einmal durchgehen? Danke." Er reichte ihr einen kleinen Stapel Briefe, doch Ruth konnte ihren Blick nicht von dem Fetzen Haut in seinem Gesicht losreißen. Sie überlegte, ob sie ihren Cheff vielleicht auf die Wunde aufmerksam machen sollte.
"RUTH!", Mr.Connors hatte immernoch die Briefe in der Hand. Er hatte jetzt einen genervten Ausdruck im Gesicht. Seine Oberlippe zitterte, was auch den kleinen Fetzen Haut in seinem Gesicht etwas wackeln lies. Ruth riss sich von ihren Gedanken los.
"Entschuldigung, Sir." Sie nahm ihm die Briefe aus der Hand und verließ eilig das Büro.
Ruth saß wieder an ihrem Schreibtisch und trank selbst eine Tasse Kaffee. Sie hatte bereits zwei der fünf Briefe durchgesehen, doch keiner hatte auch nur den geringsten Fehler. Sie war gerade bei der Hälfte des dritten angelangt und auch dieser hatte nicht den kleinsten Makel.
Ruth hielt inne. Sie runzelte die Stirn. Was zum Teufel sollte diese Schikane? Sie beugte sich um die Ecke und schaute den Flur bis zu den beiden großen Flügeltüren hinab, die Mr.Connors Büro versperrten. Das ganze Zimmer in der Ruth ihr "Büro" hatte, war sechseckig und hatte keine Fenster. Es gab nur drei Türen. Eine rechts von Ruth führte in eine kleine Toilette. Eine größere Schwingtür aus Eiche führte in den Vorraum. Von dort kamen alle Besucher. Sie befand sich genau gegenüber von Ruth` Schreibtisch. Die dritte Tür war am Ende eines kleinen Ganges, der links neben Ruth` Schreibtisch begann und zu Mr.Connors Büro führte.
Ruth wurde unbehaglich. Sie musste wieder an den kleinen Fetzen in Mr.Connors Gesicht denken, der wie ein Wurm in seinem Gesicht gehangen war. Wie er etwas gezappelt hatte. Wie ein Wurm. Vielleicht hatte sie sich das Ganze ja nur eingebildet, doch Ruth verscheuchte diesen Gedanken schnell wieder. Sie hatte noch nie irgendwelche psychischen Probleme gehabt und war sich sicher, auch nie welche zu haben.
Plötzlich öffnete sich eine der Türen. Ruth erschrak so dermaßen, dass sie fast mit ihrem Stuhl umgekippt wäre. Eilig rollte sie zurück an ihren Schreibtisch und setzte sich vor ihren Computer. Ihr Herz hämmerte ihr in der Brust als sie Mr.Connors Schritte wie eine Bestätigung zu ihrem Herzschlag näher kommen hörte. In dem sechseckigen Raum hallten die Schritte tausendfach wider. Gleich würde er hinter ihr auftauchen und ihr die Hand auf die Schulter legen. Ruth schloß die Augen. Etwas Weiches berührte sie auf ihrer linken Schulter.
"Wie weit sind Sie, Ruth?", fragte Mr.Connor.
"Nun Mr.Connor es ist so...", Ruth drehte sich um und sah ihm genau in die Augen. Im ersten Moment musste sie würgen, ein trockenes Keuchen entwich ihrer Kehle, sie rutschte mit ihrem Stuhl nach hinten. Dann schrie sie. Es war ein langer schriller Schrei der sie selbst beeindruckte. Das Ding erschrak auch und taumelte ein paar Schritte zurück.
Ruth wurde wieder übel. Sie war kurz davor sich zu übergeben. Erst jetzt registrierte ihr Verstand was sie so erschreckt hatte. Das Ding - Mr.Connors - hatte keine einfach keine Haut mehr. Die Augäpfel standen wie Golfbälle hervor und rote Adern zogen sich über sie wie dünne Fäden. Da wo früher einmal eine Nase gewesen war, waren nurnoch zwei kleine schwarze Abgründe.
Das gesamte Gesicht war mit roten Sehnen überzogen, die stetig zuckten. Auf dem Kopf waren noch vereinzelt schwarze Haare, die jedoch mit dem Blut, das aus der offen liegenden Schädeldecke trat, verklebt waren und die sich deshalb wie Spinnweben über den gesamten Schädel zogen. Zwischen den Augen konnte man einen hellen, weißen Fleck Knochen erkennen, der sich bis zu den Augenbrauen zog. Die Sehnen schienen sich regelrecht in die Knochen zu krallen. Das Ding trug sogar noch Mr.Connors Klamotten.
"Entschuldigung, ich wollte sie nicht erschrecken!", sagte das Mr.Connors Ding. "Vielleicht sollten sie mal früher ins Bett gehen und nicht ständig mit ihren Sekretärinnen Kollegen nach der Arbeit noch Party machen!" Er war sichtlich verärgert, denn das Geschwülst aus Sehnen auf seiner Stirn zog sich krampfhaft zusammen, wodurch zwischen seinen Windungen kleine Blutstropfen hervortraten. Ruth wurde schwindelig.
"Ist wirklich alles in Ordnung mit Ihnen?", das Ding streckte einen Hand aus und berührte Ruth an der Schulter. Das Geflecht aus blutroten Strängen, das früher einmal Mr.Connors Gesicht gewesen war, war jetzt genau vor ihrem Gesicht.
"Alles... o...o...ok.", stammelte Ruth ohne ihren Blick von dem Ding abzuwenden.
"Nun ja. Sagen Sie mir, wenn Sie fertig sind.", sagte das Sehnengewirr mit dem Armani Anzug und ein kleiner Fetzen Sehne löste sich aus seinem Gesicht. Es landete direkt auf Ruths Schoß, wo es noch etwas zuckte und zappelte. Dann drehte sich das Ding um und schlurfte zurück in sein Büro. Ruth hatte nur dagesessen und mit der Ohnmacht gekämpft. Nun konnte sie es nicht mehr unterdrücken. Sie sprang auf und lief, doch sie schaffte es nicht mehr bis zur Toilette. Auf halbem Weg fiel sie zu Boden, erbrach sich und wurde ohnmächtig.
Ruth öffnete die Augen. Das erste das sie registrierte war der beißende Gestank nach Erbrochenem. Sie hatte darin gelegen. Ihre Haare und ihr Gesicht waren damit verklebt. Ruth versuchte aufzustehen. Sie war sehr wackelig auf den Beinen und musste erst einen Moment wie ein Hund auf allen Vieren auf dem Boden knien und in ihr Erbrochenes starren. Dann stand sie vollkommen auf. Ihr Kopf drehte sich. Mühsam schaffte sie es zu ihrem Schreibtisch.
Ruth sah auf ihre Uhr. Mickeymouse zeigte acht Uhr an. Eigentlich schon Feierabend. Doch sie musste noch etwas erledigen. Ruth nahm die beiden Briefe, die sie fertig durchgesehen hatte und schwankte durch den Gang auf Mr.Connors Büro zu. Dabei lehnte sie sich immer wieder kurz an der Wand an, um nicht umzufallen. Bis sie die großen Türen erreicht hatte, konnte sie wieder einigermaßen sicher stehen. Sie stieß die Türen auf.
Wie zu erwarten, war es bereits dunkel. Es brannte im ganzen Zimmer kein Licht, nur die großen Fenster an der gegenüberliegenden Wand ließen das Licht der umstehenden Hochhäuser hereinscheinen. Der riesige Sessel von Mr.Connors warf einen gewaltigen Schatten wie die Spitze eines Schwertes, das direkt aus der Unterwelt zu kommen schien. Die Spitze endete direkt vor Ruth` Füßen. Sie tat einen Schritt vorwärts und trat damit direkt auf die Schattenklinge. Sie schauderte ein wenig. Während sie auf den Schreibtisch zuging, der ihr mehr wie der hohe Tisch eines Richters vorkam, konnte man immer besser erkennen was da auf dem Sessel saß.
Es waren nichts weiter als Knochen. Die leeren Höhlen die jetzt dort waren, wo früher einmal Mr.Connors kleine Schweinsaugen gesessen hatten, starrten an die Decke. Der Unterkiefer war nach unten geklappt und stand somit weit offen. Die Schatten aus den großen Fenstern ließen den Schädel in eine Teufelsfratze verwandeln. Ruth konnte einen der Backenzähne funkeln sehen. Eine Blombe wahrscheinlich.
"Hier Mr.Connors. Ich habe leider nur diese beiden geschafft.", sagte Ruth ruhig und sachlich und legte dem Skelett die beiden Blätter hin. Das Skelett regte sich nicht. Es schien sie anzugrinsen. "Nun ja. Ich gehe dann. Habe eine Verabredung an der dritten Straße, wissen Sie. Wir Sekräterinnen treffen uns dort an jedem ersten Freitag im Monat. Meistens ziehen wir über unsre Chefs her. Einen Schönen Abend noch Sir."
Dann verließ Ruth Baybrance das Büro und als sie die großen Türen ins Schloß fallen lies, freute sie sich auf ihre Freundinnen.