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Grabräuber
Geübt schlossen zwei Finger die kalten Augen eines jungen Mannes. Er war noch ein halbes Kind. Vielleicht wusste niemand, wie er gestorben war.
Vielleicht wusste niemand außer Smith, dass er tot war. Smith war ein Totengräber, oder nannte sich so. Die Miliz hatte sich in den Kopf gesetzt, wenigstens ein kleines Stadtviertel geordnet zu halten, aber das Chaos darum konnten sie nicht aufhalten, vielleicht nicht mal darin. Trotzdem kämpften sie einen verlorenen Krieg gegen das organisierte und unorganisierte Verbrechen. Sie kämpften einen verloreren Krieg gegen die Anarchie, die zu einer Zeit ausgebrochen war an die sich niemand erinnerte. Er hatte dabei den Job, die Toten von der Straße zu holen und ihnen die Augen zu schließen, danach wurden sie auf die Mülldeponie geworfen.
Smith nahm die Leiche und warf sie in den Schacht, der zur Mülldeponie führte. Er hatte gelernt, nicht zu trauern. Es war besser so. All diese Junkies, Gangster und Selbstmörder hatten ihren Tod selbst verschuldet, wie er beschlossen hatte. Er trat aus dem kleinen, trostlosen Raum und löschte das Licht. Der Weg zu seinem Haus führte an der Deponie vorbei. Es war wohl der Ort, den man hier am ehesten mit einem Friedhof vergleichen könnte. Während des Weges vermied er sorgfältig den Blick auf diesen Platz. Dieser Anblick war das Einzige, was ihm an seinem Beruf ein bisschen Angst machte.
Eine Krähe nahm auf einer kaputten Straßenlaterne Platz und musterte Smith. Er hielt inne und beobachtete den Vogel, den Leichenfledderer, und empfand eine Mischung aus Hass und Bewunderung. Sie lebten von dem, was nicht überleben konnte. Hier in dieser Stadt musste es ihnen gut gehen, dachte Smith bitter. Die Krähe rief krächzend und Smith meinte deutlich ein Lachen herauszuhören. Dann erhob sie sich wieder in die Luft.
Mit gesenktem Kopf lief er auf einem Weg, der sich wie ein Trampelpfad zwischen dem Müllhaufen und einer riesigen bewohnten Häuserruine abzeichnete. Er hörte das tausendfache Schlagen von Schwingen und kratzende Rufe und wusste, dass noch mehr Krähen gekommen waren um sich die Leichen zu holen. Ein weiterer Grund, nicht hin zu sehen.
Plötzlich hörte er genauer hin.. Die Rufe waren anders, dieses Mal. Sie waren verschreckt. Aufgeregt. Smith hörte nervöses Flattern, und es wurde leiser. Es dauerte nicht lange, bis er nur noch einzelne Rufe aus der Ferne vernahm. Jemand hatte sie verjagt; oder etwas. Der Totengräber verharrte. Sein Blick zuckte kurz zur Seite, nicht lange genug. Er wollte diesen Platz nicht sehen. Trotzdem interessierte es ihn, weswegen die Vögel geflohen waren, und schließlich überwand er sich.
Inmitten von all den Toten stand, mit dem Rücken zu Smith, ein großer, stämmiger Mann. Er hatte den Kopf gesenkt. Kurz schweifte der Blick des Bestatters über die Leichen. Es erschütterte ihn nicht so sehr wie sonst immer. Aber er blieb an den Gesichtern hängen, sah ihren letzten Ausdruck, und etwas davon blieb in seinem Kopf.
Smith konzentrierte sich wieder auf den Eindringling. Er hatte sich jetzt gebückt und schien etwas zu betrachten. Dann packte er einen toten Körper und schleuderte ihn weg. Der Mann musste stark sein. Wenn Smith Pech hatte, war es ein Cyborg. Wer auch immer er war, er durfte die Leichen nicht von der Deponie schaffen. Das verbot die Miliz. Und leider hatte der Totenbestatter auf den Friedhof aufzupassen. Smith tat einen Schritt nach vorn, blieb dann aber stehen und überlegte es sich anders. Es interessierte ihn, was dieser Mann vor hatte. Einen Leichendiebstahl würde die Miliz wahrscheinlich gar nicht bemerken. Jetzt riss der Grabräuber einen weiteren Leichnahm aus dem Haufen; er fing an zu graben. Smith versteckte sich hinter einem Autowrack und beobachtete ihn weiter.
Der Mann hielt inne. Smith wurde ein bisschen ängstlich.
Vielleicht hatte er gefunden, was er suchte. Mit einem Ruck riss der Riese einen Frauenkörper aus dem Haufen und hielt ihn über seinen Kopf. Sie war jung, höchstens zwanzig, und konnte noch nicht lange tot sein.
„Wir haben dich wieder.“
Der Mann sprach leise, aber Smith konnte es hören. Dann drehte er sich um, die Tote trug er mit sich. Sein Gesicht war verborgen.
Smith wusste plötzlich, dieser Mann durfte die Leiche nicht stehlen. Sie gehörte dem Totengräber. Es ging ihm jetzt nicht mehr um die Miliz, sondern um seinen Friedhof, auch wenn es nur ein Leichenhaufen war. Für einen Moment schoss ihm seltsamerweise wieder das Bild der Krähe ins Bewusstsein.
Der Wahnsinn sagte Smith, dass er sofort handeln müsse, die Angst bestätigte ihn. Wahnsinn und Angst holten die Panik zu sich, und diese erschlug die Vernunft.
Behutsam zog er ein sehr scharfes Stück Metall aus dem Schrott und schlich lächelnd näher an den Dieb heran. Dieser blieb abrubt stehen, Smiths Arm, schon zum Stoß erhoben, tat das gleiche. Ein kleiner Tropfen Angstschweiß lief brennend in das Auge des Totengräbers. Etwas hinderte ihn daran, den nächsten Schritt zu tun.
Die Frau, die der Grabräuber über seine Schultern gelegt hatte, hob langsam den Kopf und lächelte Smith an. Eine Schusswunde klaffte auf ihrer Stirn und ein dünnes Rinnsal Blut zog sich über ihr Gesicht. Sie streckte den Arm aus und legte ihm eine kalte Hand auf die Schulter.
„Tu das nicht. Sie werden mich schon finden.“
Ihre Stimme war klar und kühl, aber irgendwo auch freundlich. Schließlich sank sie wieder zurück in die ursprüngliche Haltung. Der Grabräuber ging weiter und verschwand hinter einer Ecke.
Der Totengräber atmete zittrig aus und ließ das Metallstück sinken. Ängstlich schlurfte er zurück zu dem Autowrack, von dem er das Geschehen beobachtet hatte. Er wollte nicht über das Gesehene nachdenken.
Smith saß, die Augen auf nichts gerichtet, auf dem Schrottplatz und hörte den ersten zurückkommenden Krähen zu.