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Guter Junge
Luca steht vor der Kellertür und wartet. Er zählt auf zwanzig und danach noch einmal, bis Tim ruft, er sei bereit. Luca öffnet die Tür und sieht seinen Kumpel auf einer Picknickdecke liegen.
«Was haben wir denn da?», fragt er, kniet hin und rollt Tim auf den Rücken. «Eine Leiche mitten im Wald!» Die Untersuchung beginnt. Tims Uhr ist nicht mehr am Handgelenk, am Hals sind zwei rote Punkte. «Raubüberfall», sagt Luca nach einer Weile. «Getötet von einem Vampir.»
Tim lacht und hebt einen roten Filzstift in die Höhe. Dann packt er Luca am Arm.
«Und jetzt bin auch ich einer!», ruft er und tut so, als würde er zubeißen.
Später spielen sie Verhör. Luca ist Verbrecher und Tim Polizist. Das Verhör ist streng. Luca muss sich ausziehen, damit man sehen kann, ob er bewaffnet ist. Auf einmal hebt Tim die Kleider vom Boden und rennt aus dem Keller.
«Viel Spaß auf dem Weg nach Hause», ruft er, stampft die Treppe hoch und kehrt erst zurück, als Luca die Tränen kommen.
«Weichei!» Tim drückt ihm die Kleider in die Hand, und er zieht sich an, die Socken zuerst, der Boden ist schrecklich kalt. Tim legt die Hand auf seine Schulter, damit er das Gleichgewicht nicht verliert. Er sagt: «Hast du wirklich geglaubt, dass ich nicht wiederkomme?»
Nach der Schule trifft Luca fast immer auf Tims Vater, der eine Werkstatt im Haus hat. Manchmal ist er drinnen, beugt sich über ein Fahrrad oder steht hinter der Kasse. Die meiste Zeit aber ist er draußen und blickt in die Ferne. Auch dieses Mal sitzt er auf dem Schaufenstersims. In der Hand hält er eine Flasche Bier.
«Willst du?», fragt er.
Luca blickt die Fassade hoch. Hätte seine Mutter einen sechsten Sinn - wie ein Reh vielleicht oder wie dieser Vogel, an dessen Namen er sich nicht erinnern kann - stünde sie jetzt am Fenster, würde es aufreißen und dann so: «Hast du sie noch alle? Einem Zehnjährigen, bist du noch bei Trost, Hans?» Luca kneift die Augen zusammen, die Fensterscheibe spiegelt das Licht der Sonne.
Das Bier schmeckt bitter. Er weiß, man gewöhnt sich daran, also nimmt er noch einen Schluck.
«Danke», sagt er und setzt sich neben Hans.
«Warum kommst du jetzt schon nach Hause?»
«Es ist zwölf.»
«Tatsächlich? Ich habe kein gutes Zeitgefühl, weißt du? Tim isst bei seiner Tante, der kommt immer erst um vier.»
Luca blickt zur Seite. Am Tag zuvor hat er wieder mit Tim gespielt. Danach hat er den Gürtel verkehrt herum durch die Schlaufen gezogen und als er nach Hause gekommen ist, hat seine Mutter gefragt, ob er die Hosen ausgezogen habe und warum. Luca zupft am Etikett, eine Ecke hat sich gelöst. Hans nimmt ihm die Flasche aus der Hand und trinkt einen großen Schluck. Er stellt keine Fragen.
Luca mag die Gespräche mit Tims Vater. Eigentlich sind es keine Gespräche, weil nur Hans redet, und vieles davon versteht Luca nicht, aber das macht nichts, weil sie zwei Männer sind, die eine Pause von der Arbeit machen und zusammen Bier trinken.
Heute aber spricht Hans wenig. Nach seinem Satz über das Zeitgefühl ist er verstummt und dreht die Flasche in seinen Händen. Luca schaut auf die Uhr, er sollte nach oben gehen. Da reicht ihm Hans noch einmal das Bier. In den Bäumen schreien Krähen. Hans hebt den Kopf.
«Üble Viecher», sagt er. «Können einen Körper nicht öffnen. Der Schnabel ist zu schwach, also picken sie Augen aus oder machen sich am Arschloch zu schaffen.»
«Igitt!»
Hans lacht. «Bist ein guter Junge», sagt er und legt die Hand auf Luca Schulter. Dann blickt er verwundert zur Straße. «Was machst du denn hier?», fragt er.
***
Heute hat Silvia einen Zettel an die Tür gehängt. Musste dringend weg! Tim rüttelt an der Türklinke. Würde Vater ihm ein Handy erlauben, dann hätte Silvia ihn anrufen können, und er wäre nicht vergebens … Alle in der Klasse haben eines, außer Karin. Wie sie dasitzt, in der hintersten Reihe, die Haare, als hätte ein Vogel ein Nest gebaut und mittendrin die Lust verloren. Wenn sie was nicht begreift, schließt sie die Augen und wippt mit dem Oberkörper. Die krümlige Karin.
«Wir haben Geld nur für Dinge, die wir brauchen», hat Vater gesagt. Na also! Er braucht ein Handy, weil er sonst im Getto vor verschlossenen Türen steht. Zwanzig Minuten muss er nun zur Werkstatt laufen.
Tim setzt sich auf die Stufen. Im Treppenhaus ist es kühl, der Schweiß auf seiner Oberlippe kitzelt. Er reibt sich den Nacken, trocknet die Hand am T-Shirt ab. Sein Puls beruhigt sich und auf einmal kommt dieses Gefühl aus der Mitte des Körpers, als wäre er ein Ballon, als würde man ihn aufblasen. Das ist eine Mission! In der Wüste, kurz vor dem Verdursten. Sie finden das Grab des Pharaos. Im Innern Tonnen von Gold und eine Wasserquelle. Aber dann: Der Eingang verschüttet. Jetzt geht's ums Überleben! Hundert Kilometer zurück über den heißen Sand. Einer wird dran glauben müssen. Den werden sie fressen und sein Blut in Feldflaschen füllen. Junge, da musst du hart sein.
Tim muss bei Silvia essen, weil Vater mittags arbeitet. Gerade dann müsse die Werkstatt offen sein, sagt er. Da wollen die Leute nach Hause fahren und merken, dass sie einen Platten haben oder dass die Bremsen hinüber sind, und dann kommen sie zu ihm, weil der Gander dann geschlossen hat. Als Tim ihn gefragt hat, wie die Auftragslage ist, hat er gesagt: «Der Gander, das Arschloch, macht alles billiger. Und er kommt von hier.»
Nach der Schule putzt Tim manchmal Ketten und ölt sie, Schläuche wechseln kann er auch. Er fegt den Boden, während Vater hinter der Kasse sitzt und Rechnungen schreibt. Meistens aber gibt es nichts zu tun. Abends ist Vater müde. Er redet wenig und lacht nie. Er sitzt auf dem Sofa und schaut fern. Tim hat einen eigenen Sessel, auf dem Sofa ist nicht genug Platz für zwei.
Vor ein paar Tagen hat Tim noch einmal nach der Auftragslage gefragt. «Warum willst du das wissen?», hat Vater geschrien. «Ich hab dir gesagt, was du antworten sollst!»
Tim stapft durch die Hitze. Die Schatten der Autos, die ihm entgegenkommen, sind rasierklingenscharf. Zehn Zentimeter über dem Boden gleiten sie über den Gehsteig, und wenn Tim nicht hoch genug springt, muss er auf blutigen Stümpfen weitergehen. Jedes Mal, wenn er landet, schlägt der Rucksack gegen den Rücken und der Atlas sticht zwischen die Schulterblätter. Soll er den Rucksack öffnen und das Buch verschieben? Nein, das gehört zur Mission. Heißer Wüstensand und schwebende Klingen und Stiche in den Rücken, das ganze Programm. Schau her, Papa! ich bin durch die Wüste gelatscht und beklage mich nicht und bereite mir etwas zu essen zu, kein Problem. Oder soll ich Sandwiches holen? Für uns beide? Gefressen haben sie übrigens einen anderen. Nicht mich, Papa. Nicht mich!
Tim schafft es in sechzehn Minuten. Er biegt um die Ecke und sieht seinen Vater mit Luca vor dem Schaufenster sitzen. Die Tür zur Werkstatt ist geschlossen. Vater arbeitet nicht. Er hat die Hand auf Lucas Schulter gelegt. Luca hat eine Bierflasche in der Hand und kichert. Vater lacht. Als er Tim sieht, hört er damit auf. «Was machst du denn hier?», fragt er.
Es gibt Braten mit grünen Bohnen. Kartoffelstock liegt auf Lucas Teller. Mit der Gabel fabriziert er ein Loch in die Mitte, die Mutter gießt Sauce hinein, ein Bergsee entsteht.
«Wie war’s in der Schule?», fragt sie und Luca erzählt, dass die Lehrerin einen Jungen angeschrien hat, obwohl er bloß eine Minute zu spät gekommen ist.
«Aber zu dir ist sie nett?»
«Geht so.»
«Du sagst es mir, wenn sie böse zu dir ist?»
«Ja.»
Das Bratenstück ist ein U-Boot. Langsam taucht es auf, das Wasser fließt an den Seiten herab, und dann geht es wieder nach unten, bis Lucas Mutter sagt, er soll endlich essen.
Später räumt Luca Teller und Besteck in die Spülmaschine, die Mutter zieht Frischhaltefolie über die vier großen Scheiben Fleisch, die sie für den Vater übriggelassen haben, weil er am Abend immer einen Riesenhunger hat.
Heute hat Hans nicht vor der Werkstatt gesessen. Luca hat durch das Fenster geschaut, die Hände über den Augenbrauen an die Scheibe gepresst. Eine Reihe Fahrräder ganz vorne, hinten war es zu dunkel, um etwas zu sehen. Vielleicht war Hans gar nicht da. Vielleicht hat er zugemacht. «Der wird bald dichtmachen», hat Lucas Vater einmal gesagt. «Der ist faul wie Fallobst, bald geht ihm das Geld aus.»
«Und dann?», hat Luca gefragt.
«Dann gibt’s Ramschverkauf und wenn er Glück hat, stellt ihn Gander ein.»
«Kannst nicht du ihn einstellen?», hat Luca gefragt und der Vater hat gelacht.
Bevor er wieder zur Schule geht, spielen Luca und seine Mutter eine Partie Rummikub. Früher hat er immer verloren, jetzt nicht mehr. Er mag es, die Plättchen zu verschieben, und dann wieder zurück, bis sein Plan aufgeht. Die Sonne scheint durchs Fenster, Mutter zieht die Vorhänge zu, damit es im Wohnzimmer nicht zu heiß wird. Als sie sich wieder hinsetzt, hat Luca herausgefunden, wie er die Zwei und die Fünf loswerden kann. «Gewonnen!», ruft er und reißt die Arme in die Höhe.
«Darf ich einen Schluck haben?», fragt er.
Vater zieht die Flasche weg. «Geh nach Hause», sagt er. «Ich komme später nach.»
Als Tim die Tür zur Werkstatt schließt, sieht er Luca nach Hause kommen. Tim stellt sich ihm in den Weg.
«Wen haben wir da! Stehen bleiben, Beine auseinander!» Er legt die Hand auf Lucas Schultern, mit der anderen greift er in seine Hosentasche, kneift ihn in den Oberschenkel, zieht die Hand wieder heraus. «Aha!» ruft er. «Heroin? Kokain? Sag’s gleich, wir finden es so oder so heraus!»
«Keine Ahnung, wovon Sie reden», müsste Luca jetzt sagen, so wie immer, wenn sie Verhör spielen. Er dreht sich aber bloß um, blickt nach oben und macht drei Schritte zurück.
«Kein Bock?», fragt Tim.
Luca zuckt mit den Schultern.
«Keine Widerrede! Hände über den Kopf und Abmarsch!» Tim zieht den Kellerschlüssel aus der Tasche und lässt ihn vor Lucas Gesicht baumeln. Dann packt er Lucas Arm und dreht ihn hinter den Rücken. «Ich hab ein paar neue Tricks, Verhörtechnik eins a», sagt er, schiebt Luca vor sich her, den ganzen Weg bis zum Haus, wo Tim wohnt. Wenn Luca zu langsam läuft, drückt er seinen Arm nach oben.
Tim schließt das Kellerabteil auf, schubst Luca hinein und löscht das Licht. Er kann ihn atmen hören, ein leichtes Pfeifen, als hätte er ein Loch im Hals. Er knipst die Taschenlampe an, die trotz schlankem Griff schwer in der Hand liegt, und lässt den Lichtkegel über das Gerümpel gleiten, über die Skis und über das Bügelbrett, an dem früher seine Mutter gestanden hat, und im TV lief Werbung oder ein Liebesfilm. Stühle unter staubigen Tüchern. Spinnweben in den Ecken.
«Riechst du es?», fragt Tim. «Kannst du den Typen riechen, den ich letzte Woche verhört habe? Er muss irgendwo da hinten liegen.» Tim zielt mit der Taschenlampe in eine Ecke. «Zumindest die Hälfte davon, den Rest hab ich gefressen.»
Luca kichert, so wie am Tag zuvor, als er mit Tims Vater Bier getrunken hat. Tim sagt, er soll damit aufhören. «Wo hast du die Drogen versteckt?», fragt er. «Im Rucksack? Am Körper etwa? T-Shirt ausziehen und Hose runter!»
Während Luca den Gürtel löst, schiebt Tim einen Fuß zwischen seine Beine, und dann ein Tritt nach links, und einer nach rechts, beinahe fällt Luca um. Wie eine Giraffe beim Saufen steht er jetzt da, die Arme gegen die Wand gestemmt. Tim zieht ihm den Gürtel aus den Schlaufen, sagt: «So, dann wollen wir mal», und lässt die Schnalle baumeln. Er knipst die Taschenlampe aus und peitscht den Gürtel zweimal aufs Bügelbrett.
Das Abtasten erledigt er schnell, denn er hat einen Plan. Der Plan ist in Tims Bauch entstanden, als Luca auf Giraffe gemacht hat. Er ist die Brust hochgekrochen und nun steckt der Plan im Hals fest, der sich anfühlt, als würde Tim auf die Zähne beißen. Dabei hat er den Mund weit offen. Das Spiel ist noch nicht zu Ende. Heute nicht.
«Hab ich gesagt, du sollst dich bewegen?» Tim legt die Hand auf Lucas Rücken, etwas oberhalb des Hinterns, der Strahl der Taschenlampe zeigt zwischen die Arschbacken und der Kegel wird kleiner, und im Keller wird es dunkel, und als Tim die Taschenlampe blitzschnell umdreht und zustößt, beißt er tatsächlich auf die Zähne, erwischt dabei ein Stück seiner Zunge.
«Durst?», fragt er und streckt Luca die Flasche hin. Er blickt ernst. Weiß er, was passiert ist? Wird er es den Eltern erzählen? Weshalb hast du bloß die Hose ausgezogen, werden sie fragen.
«Lieber nicht», sagt er und geht zur Tür.
«Guten Appetit!», ruft Hans ihm nach. Als Luca oben ist, dreht er sich um und will Danke rufen, aber er krächzt bloß wie ein Vogel, er versteht nicht mal selbst, was er ins Treppenhaus schreit.
Er öffnet die Tür, der Duft von Fleischkäse dringt in seine Nase. Nachdem er die Schuhe ausgezogen hat, rennt er in die Küche und gibt der Mutter einen Kuss auf die Wange.
«Alles klar, mein Kleiner?», fragt sie. «Hat dich die Lehrerin in Ruhe gelassen?»
Luca nickt und setzt sich hin. Es tut fast nicht mehr weh, er spürt fast gar nichts mehr. Er holt einen Comic aus dem Zimmer und setzt sich wieder an den Küchentisch. Arthur und Richard entdecken ein Gehirn, so groß wie ein Haus. «Ich werde euch vernichten», sagt es. «Allein mit meinen Gedanken.»
Der Fleischkäse schmeckt gut, der Kartoffelsalat nicht so.
«Spielen wir Rummikub?» fragt Luca nach dem Essen.
«Wenn du möchtest. Aber dieses Mal kommst du mir nicht so leicht davon, das sag ich dir.»
Die Mutter irrt sich. Luca hat schon zu Beginn einen Joker und später zieht er noch einen und als er reinen Tisch macht, hat sie dreiundvierzig Minuspunkte auf der Hand.
«Wo bleibt dein Jubel?» fragt sie. Luca hebt die Arme.