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Halb so wild
Taubeneigroße Hagelkörner springen auf dem Rasen umher und sie denkt an ausgelassene Kinder. Windböen peitschen durch die Stauden, drücken sie auseinander, als wäre jemand hineingefallen. Vom Fenster aus sieht sie, wie der Hagel vom Regen abgelöst wird und auf den Granitsteinen Blasen schlägt. Für einige der Nachbarn mag dieses Naturereignis aus dem Nichts gekommen sein, andere haben es vielleicht nicht einmal bemerkt. Sie hat es lange vorher erahnt.
Den gesamten Morgen lief sie immer wieder in den Vorgarten. Darüber ist der Himmel am weitesten. Auf diese Weise bemerkte sie rechtzeitig die dunkel aufziehenden Wolken, auch die drückende Luft. Es gab eine Zeit, da hasste sie diese Vögel, die ihre Brut zurückließen, nur um sich selbst in Sicherheit zu bringen.
Am frühen Mittag bildeten sich unter den Achseln nasse Ränder am Stoff ihres leichten Sommerkleid. Die Augenlider schwollen an, das Gesicht rötete sich und wirkte fleckig. Stündlich lauschte sie der Wettervorhersage im Radio. Deshalb war es ihr möglich, rechtzeitig die Kübel mit dem frostempfindlichen Oleander, der meterhohen Engelstrompete und der Mehltau anfälligen Hortensie in Sicherheit zu bringen. Jeden Terrakottatopf, hoch und breit wie drei zweijährige Kinder nebeneinander, hievte sie einzeln auf die Sackkarre und schob ihn in die Garage. Die handgearbeiteten Töpfe hatte sie während ihrer Hochzeitsreise in Impruneta nahe Florenz gekauft. Bis Münster sind sie dann geliefert worden. Von dort beauftragte sie eine weitere Spedition. Eine Woche telefonierte sie ganze Vormittage deswegen, um sicher zu sein, dass auch alles nach Plan verlief. Diese bemerkenswerte Geschichte, wie die drei Tontöpfe zu ihr in den Garten kamen, erzählt sie den Nachbarinnen an so manchem heißen Sommertag wenn sie bei Kaffee und Kuchen, auf ihrer Terrasse sitzen und deren Kinder auf dem Rasen spielen.
Für jede Pflanze in diesen kostbaren Töpfen besorgt sie im zeitigen Frühjahr einen speziell angemischten Dünger, misst den pH-Wert der Blumenerde regelmäßig und beobachtet im Herbst die Nachttemperaturen penibel auf Frost. Es kommt dann vor, dass sie barfuß und im Nachthemd noch schnell in den Garten läuft, um die Pflanzen mit einem Jutesack abzudecken.
Auf diese Weise müht sie sich seit sieben Jahren. Die Gewächse danken es jeden Sommer mit überwältigender Blüte und garantieren ihr Bewunderung.
Als der Himmel sich endlich öffnet und die Niederschläge herabfallen, ist es bereits nachmittags und wenige Minuten später ist das kleine Unwetter auch schon wieder vorüber.
Vorsichtshalber lässt sie einige Zeit verstreichen, um sicher zu gehen, dass es nicht zurückkehrt und schleppt dann die Kübel nacheinander mit zitternden Muskeln auf die Terrasse an ihre angestammten Plätze zurück, entfernt abgeknickte Blätter der Ziersträucher. Trotzig sieht sie aus, wie sie die Augenbrauen zusammenzieht, und die Lippen spitz nach vorne schiebt, als wollte sie die Pflanzen küssen.
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Er sitzt im Büro und ahnt nichts von den Strapazen seiner Frau. In zehn Minuten kann er gehen. Seit er befördert wurde, sitzt er nur mit einem Kollegen im Raum.
„Kommst du noch mit in die Bar? Ich geb einen aus - auf meine Hochzeit.“
Er bemerkt den Kollegen nicht gleich, sondern sieht aus dem Fenster und wundert sich über den plötzlichen Wetterumschwung. Als er vor wenigen Minuten seinen Platz kurz verließ, spiegelte sich die Sonne auf dem Bildschirm. Jetzt ist der Himmel gänzlich schwarz. Er überlegt, ob er es vor dem einsetzenden Regen zum Auto schaffen wird.
„Ach ja, herzlichen Glückwunsch zur …“, er zögert kurz, „Vermählung.“ Und weil ihm dabei einfällt, dass er versprochen hat, rechtzeitig daheim zu sein, lehnt er die Einladung zum Umtrunk ab. Er wird stattdessen gemeinsam mit seiner Frau einen Termin im Gynaekologicum wahrnehmen, so nannte sie das Krankenhaus hoffnungsvoll. Wenn das auch dort wieder nicht funktionieren sollte, würden sie den kommenden Urlaub am Wörthersee verbringen, der ihn ein Vermögen kostet. Selbst aus Russland komme man in diese spezielle Kinderwunschklinik, hatte seine Frau begeistert erzählt.
„Komm. Auf ein Glas. Noch lässt sie mir den Spaß“, beharrt der Kollege und lächelt.
„Ja, noch“, erwidert er knapp, fährt den Computer herunter, nimmt das Jackett und verlässt seinen Arbeitsplatz. Kopfschüttelnd schaut ihm der Kollege hinterher und sieht, wie er in gebeugter Haltung, die Tasche schützend vor dem Regenguss über dem Kopf, zu seinem Auto läuft.
Zu Hause muss er den Wagen außerhalb des Grundstücks parken, denn in seiner Garage sind große Pflanzenkübel abgestellt. Nachdem er in einer Nebenstraße einen Parkplatz gefunden und somit einen unfreiwilligen, dennoch angenehmen Spaziergang zu seinem Haus hinter sich hat, sieht er seine Frau noch den letzten Tontopf auf die Terrasse schleppen. Er sieht, wie sie sich die verschwitzten Haare aus der Stirn streicht und dann stehen sie gemeinsam vor den Töpfen. Aber er blickt nicht wie sie auf die anmaßende Pracht in den Kübeln, sondern darüber hinweg in Richtung des Teiches, am Ende des Gartens. Vom Kaffeetisch ist das stille Gewässer kaum auszumachen. Nicht von dort, wo man über exotische Länder, Pflanzen und Tierarten redet, die man bereist und gesehen hat oder zu bereisen und zu sehen gedenkt.
So geht er mit feinem Anzug und Lederschuhen bekleidet über die geschmolzenen Hagelkörner auf dem Rasen hinweg und erreicht den dicht bewachsenen Teich, für den er Sorge trägt.
„Alles halb so wild, nicht wahr?“, hört er seine Frau vom Haus her rufen.
Da hat er schon das zerrupfte Nest des kleinen Fitis an der Wasseroberfläche gefunden. Eine Windböe muss den Weidenstrauch am Ufer durchgerüttelt und es fortgerissen haben.
Nun gäbe es in diesem Sommer fünf kleine Sänger weniger, die seinen Garten mit ihrem Gesang erfüllen würden.In bedächtiger Langsamkeit zieht er das Jackett aus, legt es auf die Holzbank neben der Weide, krempelt ordentlich die Hemdsärmel bis über die Ellenbogen auf, kniet sich in das nasse Gras und fischt die kleinen Zweige und Federn aus dem Wasser.